
Tag der deutschen Einheit: Der ungeliebte Feiertag
Der 17. Juni Tag der deutschen Zwietracht
Diesen Abend hatte die FDP minutiös wie einen Kriegszug geplant. Unentwegt hatte ihr "Propagandareferat", das tatsächlich so hieß, Lautsprecherwagen durch die Städte Ostwestfalens gejagt. Auf Hunderten Plakaten rief die Partei die Bürger auf, am Abend des 17. Juni 1954 zum Hermannsdenkmal bei Detmold zu kommen. Sonderbusse wurden gestellt, Fackelträger mobilisiert: Die FDP ließ den Germanenhelden Hermann noch einmal für sich in die Schlacht ziehen - gegen die DDR.
Dazu wurde das Monument, Deutschlands höchste Statue, in weißes und rotes Licht getaucht. Zusammen mit dem Schwarz der Dunkelheit lebten so die Farben des alten Kaiserreichs wieder auf. Das war wohl kein Zufall, denn der FDP ging es um ein größeres Deutschland: Sie wollte an diesem 17. Juni 1954, dem ersten Jahrestag des blutig niedergeschlagenen Volksaufstands in der DDR, ein Bekenntnis zu einem "unteilbaren deutschen Reich" ablegen. Die Welt sollte das Unrecht nicht vergessen.
Im Licht Hunderter Fackeln wurde den Toten der Weltkriege und des DDR-Aufstands gedacht. Das Lied vom "Guten Kameraden" erklang, danach die Nationalhymne. Einige der 20.000 Besucher schwenkten revisionistische Transparente ("Deutschland - das ist auch Breslau und Königsberg"). Pathetisch beschwor FDP-Parteichef Thomas Dehler die "Flamme der Freiheit" und rief: "Deutschland wird wieder zu Deutschland finden und das Reich wird kommen!"
Die stramm nationalistische Inszenierung mag heute verstörend wirken - ein Ausrutscher war sie nicht. Genau ein Jahr später sagte Dehler an selber Stelle gar: "Wir haben uns unserer Geschichte nicht zu schämen. Es ist nicht wahr, dass es deutsche Schuld ist, die über die Welt gekommen ist." In den Ersten Weltkrieg sei man "hineingeschliddert", den Zweiten Weltkrieg habe niemand außer Hitler gewollt.
So beging also die FDP den "Tag der deutschen Einheit". Heute fast vergessen, gab es schon Jahrzehnte vor der Wiedervereinigung einen solchen Feiertag. Anlass zur Freude und Versöhnung bot der 17. Juni allerdings nicht - er war eher ein Tag der Zwietracht.
Voll moralischer Empörung konnten westdeutsche Politiker die DDR jedes Jahr an den Pranger stellen, ohne über die Ursachen der deutschen Teilung, die NS-Vergangenheit, reden zu müssen. Der deutsche Nationalfeiertag war weltweit wohl einmalig: Denn im Grunde gab es nichts zu feiern, sondern nur die Zerrissenheit Deutschlands mit großen, anklagenden Gesten zu betrauern.
7000 Kilometer laufen für die Einheit
So loderten jeden 17. Juni von der Lübecker Bucht bis an den Harz unzählige "Mahnfeuer" auf markanten Erhebungen entlang der Grenze zur DDR. Parteien und Verbände organisierten ihre Einheitsfeiern an historisch symbolischen Orten: am Deutschen Eck in Koblenz, im Lager Friedland, in dem viele DDR- Flüchtlinge untergekommen waren, oder auf Helgoland. Hier hatte einst der Dichter August Heinrich Hoffmann von Fallersleben das Lied der Deutschen, die spätere Nationalhymne, geschrieben.

Tag der deutschen Einheit: Der ungeliebte Feiertag
Am aufwendigsten aber waren die seit 1959 veranstalteten Staffelläufe. Sie begannen schon Wochen vor dem Feiertag und führten bis zu 7000 Kilometer quer durch die Bundesrepublik. Symbolisch begannen die Läufe oft im Saarland, das 1957 friedlich der Bundesrepublik als elftes Bundesland beigetreten war - etwas Ähnliches erhoffte man sich von der DDR. Aus dem Saarland führten die Läufe dann an die DDR-Grenze.
Viele Aktionen waren organisiert von einem überparteilichen "Kuratorium Unteilbares Deutschland". Und die nationale Geschichtspädagogik war anfangs sehr erfolgreich: Bis in die Sechziger demonstrierten jährlich bis zu fünf Millionen Westdeutsche für die Einheit. Allein am 17. Juni 1961 gab es mehr als 30.000 Kundgebungen. Zehntausende Postkarten mit Sonderstempeln wurden in die DDR geschickt, Schulen sammelten eifrig "Wiedervereinigungspfennige".
Skandalöse Auftritte
Dennoch sorgte der Nationalfeiertag von Beginn an für heftigen Streit. Ursprünglich war er auf Drängen der SPD eingeführt worden: Adenauer wollte sich nicht ständig von den Sozialdemokraten vorwerfen lassen, das Ziel der deutschen Einheit für seine Westpolitik "verraten" zu haben. Die SPD aber nutzte den 17. Juni mit Massenkundgebungen zunehmend als eine Art zweiten 1. Mai. Damit verärgerte sie die CDU, die zudem exzessiven Bierkonsum als unwürdig empfand - und deshalb überlegte, den 17. Juni in einen stillen Gedenktag umzuwandeln.
Die FDP wiederum buhlte skrupellos um rechte Wähler: Das Hermannsdenkmal, an dem die Partei den 17. Juni gerne beging, erinnerte nur vordergründig an den legendären Sieg der Cherusker gegen drei römische Legionen. Im 19. Jahrhundert war die Statue mit einer aggressiv antifranzösischen Stoßrichtung errichtet worden; Hermann war in der Weimarer Republik Galionsfigur des antidemokratischen Lagers. Dazu leistete sich die Partei skandalöse Auftritte. So forderte Vizekanzler Erich Mende am 17. Juni 1965 - sein Ritterkreuz aus der NS-Zeit stolz ans Hemd geheftet - die erste Strophe des Deutschlandlieds wieder einzuführen.
Das größte Problem des Feiertages war aber: Die Bundesbürger verstanden ihn mit der Zeit nicht mehr. Je unwahrscheinlicher die deutsche Einheit wurde, desto bizarrer wirkten die rituellen Klagen über den gescheiterten Aufstand. Glaubte die BRD-Politik anfangs wohl aufrichtig, das SED-Regime ändern und die Einheit erzwingen zu können, so entpuppte sich diese Hoffnung nach dem Mauerbau als Illusion. Der 17. Juni wurde immer mehr zu einem Symbol der Niederlage und der politischen Ohnmacht.
"Feiertag ist immer schön"
So freuten sich die Westdeutschen, dass am 17. Juni frei war - und vergaßen zunehmend, warum das so war. "Es war fade", schrieben Hamburger Schüler 1962. "Man ging mit ein bisschen feierlicher Mine in die Klischee-Feierstunde für die Oberstufe, dort wurden ein paar Gedichte aufgesagt und mit dem Deutschlandlied auf den Lippen strömte man dem Ausgang zu und ging ins Schwimmbad."
Auch die Presse lästerte vermehrt über den 17. Juni: "Feiertag ist immer schön" titelte die "Frankfurter Rundschau" 1960. Der SPIEGEL schrieb von der "Einheit in Freizeit" und karikierte damit die häufigste Rede-Floskel: die "Einheit in Freiheit", die schon 1953 bei der Einführung des Feiertages beschworen worden war.
Selbst Bundeskanzler Adenauer war kein Anhänger des Feiertags: 1960 kehrte er einfach erst am 18. Juni aus seinem Italien-Urlaub zurück. Seine Partei diskutierte offen über eine Reform und sogar eine Abschaffung des 17. Juni. Das wiederum empörte die SPD, die der Union unterstellte, einen "linken" Feiertag unterbinden zu wollen.
Doch als die SPD in der Großen Koalition ab 1966 in ihrer Ostpolitik einen "Wandel durch Annäherung" propagierte, wurde der Nationalfeiertag auch für sie zur Belastung: Denn die DDR empfand den 17. Juni als ständige Provokation. Jedes Jahr beschwerte sie sich über die "wüste Hetze" des Westens. Die Stasi stufte sogar die Ankunftsorte der Staffelläufe als "besonders provokationsgefährdet" ein.
Der 17. Juni, sagte SPD-Wirtschaftsminister Karl Schiller daher 1967, dürfe kein "überflüssiges Relikt des Kalten Krieges werden, kein Tag des künstlich geschürten Hasses". In der Deutschlandpolitik komme man mit ihm "nicht einen Schritt weiter". Gemeinsam mit der CDU erarbeitete die SPD eine Gesetzesnovelle, den Feiertag endgültig abzuschaffen.
Doch auch das überstand der ungeliebte 17. Juni. Denn der Vorstoß löste heftigen Widerstand aus, besonders bei den Gewerkschaften, die sich vehement weigerten, einen arbeitsfreien Tag ersatzlos zu streichen. Nach zweijähriger Debatte verhinderte der emotionale Bundestagswahlkampf 1969 endgültig eine Lösung.
Stilles Ende
Auch spätere Versuche der SPD-Bundesregierung scheiterten, den Feiertag durch den 23. Mai - den Tag der Verabschiedung des Grundgesetzes - zu ersetzen. Diesmal war es die oppositionelle CDU, die sich querstellte, um die Ostpolitik der SPD zu erschweren. "Eine schändliche Sache" sei diese ganze Debatte, polterte CDU-Chef Helmut Kohl.
Ausgerechnet er war es, der den 17. Juni schließlich im Alleingang abschaffte. Im September 1990 ersetzte er ihn bei einem Treffen der Ministerpräsidenten diskret durch den 3. Oktober, dem Tag des "Wirksamwerdens des Beitritts" der DDR zur Bundesrepublik. Kohl wollte damit seine Leistungen als Kanzler der Einheit besser gewürdigt sehen. Auf Widerstand stieß er nicht.
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27.03.2023 02.13 Uhr
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So begingen die Deutschen 1990 als einziges Volk gleich zwei Nationalfeiertage: zum letzten Mal den 17. Juni - und zum ersten Mal den 3. Oktober.
Kohls neuer "Tag der Deutschen Einheit" (jetzt mit großgeschriebenem "Deutsch") entpuppte sich langfristig aber als wenig gelungene Wahl. Auch dem neuen Feiertag fehlt die Seele. Wie einst am 17. Juni fragen sich heute viele Deutsche: Was zur Hölle ist eigentlich am 3. Oktober passiert? Egal, ab in die Kneipe!
Zum Weiterlesen: Edgar Wolfrum: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948 - 1990.