
"Tamagotchi"-Fieber Cyber-Piepmatz in der Hosentasche
Oktober 1997. Immer wieder gibt es Phänomene, die auf Anhieb die Welt begeistern. Oder in Schrecken versetzen. Dass beides gleichzeitig eintritt, kommt eher selten vor. Ein solches Phänomen ist das "Tamagotchi". 1996 erfunden, erweist sich dieses völlig neuartige Elektronikprodukt schon kurz darauf als voller Erfolg. Rund 35 Millionen Plastikeier verkauft der japanische Spielekonzern Bandai weltweit binnen Jahresfrist; allein in Deutschland gehen etwa zwei Millionen Stück über die Ladentheken.
Besonders angetan vom digitalen Haustier sind die Jugendlichen. Geradezu manisch spielen sie mit ihm, sogar in der Schule, bis einige verzweifelte Lehrer den einzigen Ausweg darin sehen, das Cyber-Ei vom Schulgelände zu verbannen. Ärgerlich nur, wenn dann das Haustier zu Hause hungert oder gar im eigenen Dreck zugrunde geht. Ein "Tamagotchi"-Sitter, das ist die Lösung! Sofort werden Anzeigen in der Zeitung geschaltet. Wahnsinn mit System. Was hat diese "Tamagotchi"-Mania ausgelöst? Wie lautet das Erfolgsrezept des bis dato unbekannten Bandai-Konzerns?
Die zündende Idee kam der 28-jährigen Bandai-Angestellten Aki Maita im Herbst 1995: Viele Kinder wünschen sich ein Haustier, doch die Umstände in Japan sind ungünstig - die Wohnungen zu klein, die Grünflächen zu wenig, die Zeit zu knapp. Wie praktisch wäre es da, einen Gefährten zu besitzen, den man überallhin mitnehmen könnte - ein künstliches Haustier. Damit spricht Aki vielen Jugendlichen aus dem Herzen. Jugendlichen wie Isabell Schlatz aus Deutschland. "Ein Haustier für die Hosentasche war toll. Vor allem, wenn man kein echtes haben durfte", erinnert sich die heute 30-Jährige. Ihr erstes "Tamagotchi" ("Ein pinkes mit gelben Zahlen") kauft sie 1997 für 30 D-Mark.
"Tamagotchi"-Bestattung auf dem Cyber-Friedhof
Zu diesem Zeitpunkt ist das "Tamagotchi"-Fieber schon nicht mehr zu stoppen. Ein Kuriosum jagt das andere: Wiesn-Goscherl auf dem Oktoberfest, Cyber-Friedhöfe für die verstorbenen Lieblinge. Die Viva-Moderatorin Heike Makatsch bekennt, dass schon die Vorstellung des nahenden Todes ihres Gotchis sie "völlig fertig" mache.
Nüchtern betrachtet mag die Tatsache, dass sich Jugendliche oder sogar Erwachsene von einem digitalen Wesen herumkommandieren lassen, verwunderlich erscheinen. Das "Tamagotchi" hat nichts, was ein gutes Computerspiel ausmacht: keinen Wettbewerb, kein Abenteuer, keine Herausforderungen. Der Spieler kann nichts gewinnen, und sterben wird das "Tamagotchi" sowieso. Höchstens ein längeres, "erfüllteres" Leben kann man ihm bescheren. Der Preis dafür sind Schlafmangel, Einschränkungen, permanenter Stress. Es hat beinahe etwas Masochistisches, sich das Ding anzutun.
Vielleicht kann das "Tamagotchi" auch nur in einer so restriktiven Gesellschaft wie der Japans entstehen. Prompt heben dort Psychologen den Zeigefinger. Sozial isolieren würde das "Tamagotchi", zudem führe es zur Verrohung, da es den Tod darstelle. So wird der Mord eines 14-Jährigen in Kobe unter anderem auf den Einfluss des Spielzeugs zurückgeführt.
Die "beherrschenden Präsenz" des Cyber-Tiers
Auch hierzulande wird das "Tamagotchi" bald schon von echten und selbsternannten Fachleuten, Soziologen, Pädagogen und vor allem von Eltern mit einer gewissen Skepsis betrachtet: Der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen behauptet, dass "der Besitz eines "Tamagotchis" zum viel zu frühen Abschied von Hoffnungen, Träumen, Mythen, Sagen und Legenden" führe. Diese würden durch den "Einsatz eiskalter Technik abgelöst", man sei folglich der "beherrschenden Präsenz" des Cyber-Tiers ausgesetzt. Nun ja.
Doch die Besorgnisrituale laufen ins Leere, denn so plötzlich wie der Erfolg des "Tamagotchis" eingesetzt hat, hört er auch wieder auf. Die Ursache des jähen Endes des "Tamagotchi"-Hypes ist unklar - vielleicht war das Konzept von vornherein zum Scheitern verurteilt: Welcher Teenager kann es schon verkraften, öfter mal ein "Haustier" durch eigenes Verschulden zu verlieren?
Das "Tamagotchi" gerät schnell in Vergessenheit. Bis zum Jahr 2004. Sieben Jahre nach Markteinführung der ersten Version erlebt das Cyber-Ei ein Revival - eine grundlegende Änderung gibt es allerdings: Die virtuellen Haustiere haben sich gelöst von ihrem egozentrischen Dasein, in dem es ausschließlich um das eigene Wohlbefinden geht, und können nun auch Gefühle für andere "Tamagotchis" hegen. Es ist sogar möglich, eine Familie zu gründen. Über Infrarot-Schnittstellen lassen sich Artgenossen ausfindig machen und Kinder zeugen. Natürlich in der jugendfreien Version.
Obwohl das "Tamagotchi" fortan kein einsames Dasein mehr fristen muss und Freunde finden und Liebe empfinden kann, sind die Verkaufszahlen ernüchternd. Kein Wunder, die Entwickler haben den einen entscheidenden Faktor übersehen, der das "Tamagotchi" ursprünglich zum Megaseller gemacht hat: Es braucht dich, du bist sein Ein und Alles. Ist der Besitzer nicht mehr der eine, alles entscheidende Lebensnerv dieses "Lebewesens", hat er keine Daseinsberechtigung mehr - und umgekehrt.
Der Artikel stammt aus dem Magazin "nemo - Technik. Damals. Heute. Das Heft finden Sie am Kiosk oder direkt hier.