
Telegramme: Als die Welt noch auf Draht war
Telegramme Als die Welt noch auf Draht war
Reinhard Mey kannte es noch, das sanfte Rappeln am Briefschlitz. In einem seiner bekanntesten Songs schildert der Liedermacher, wie er eines schönen Morgens durch den Flur tapst, über seinen Dackel Justus stolpert und vor einem Kuvert am Boden zu liegen kommt: ein Telegramm! "Ankomme Freitag, den 13., um vierzehn Uhr, Christine". Acht Worte, ein süßes Versprechen. Und vor allem eines, das sich noch ohne durchdringend gellenden SMS-Piepstons ankündigte.
Es waren andere Zeiten mit anderen Methoden, den Liebsten zu umgarnen, Kriege zu erklären, Glückwünsche zu sportlichen Triumphen oder zur Goldenen Hochzeit zu überbringen. Wo heutzutage Telefonate, Simse, Faxe und E-Mails milliardenfach und konkurrenzlos billig mit Höchstgeschwindigkeit über elektronische Datenautobahnen sausen, herrschte einst allein, exklusiv und teuer als Übermittler eiliger Nachrichten das Telegramm.
Alles begann im revolutionären Frankreich. Dort entwickelte Claude Chappe 1791 den optischen Telegraf und beendete die Zeiten, in denen man Nachrichten per reitenden Boten übermitteln musste. Alle zehn Kilometer ließ der französische Ingenieur hohe Holzgerüste errichten, auf deren Spitzen er je drei bewegliche Flügelarme montieren ließ. Die konnten durch unterschiedliche Stellung zueinander knapp 200 verschiedene Zeichen "winken". Fortan hüpften die Nachrichten von Posten zu Posten durch die Landschaft, ein Fernrohr machte die Entschlüsselung der Botschaften möglich - wenn das Wetter mitspielte.
Telegraf aus Draht, Blech und einer Uhr
Einfacher wurde es, als die Elektrizität als Transportmedium für die Nachrichten mit ins Spiel kam. 1809 entwickelte der deutsche Arzt Thomas von Sömmering einen Telegrafen auf elektro-chemischer Grundlage und 1837 führte der amerikanische Erfinder Samuel Finley Morse zum ersten Mal seinen elektrischen Telegrafen vor. Der war zwar aus einer Wanduhr, Drahtresten und Blechabfällen zusammengezimmert, aber mit dem Apparat gelang es zum ersten Mal, Nachrichten mithilfe eines Punkt-Strich-Codes direkt auf einem Papierstreifen aufzuzeichnen - das Morsen war erfunden. Dennoch dauerte es sechs Jahre, bis der US-Kongress 1843 Geld für den Bau einer Telegrafenleitung zwischen Baltimore und Washington bewilligte. "What hath God wrought?" ("Was hat Gott bewirkt?") lautete die erste Nachricht, die Morse, eigentlich Professor für Malerei und Bildhauerei, am 24. Mai 1844 über die neue Leitung verschickte.
Ab da war die Welt auf Draht. Begeisterte Militärs, Politiker und Geschäftsleute sorgten dafür, dass das neue Kommunikationsnetz in Windeseile expandierte. Die neue Technologie entfachte eine Dynamik, die nur mit dem Internetboom seit Ende des 20. Jahrhundert vergleichbar ist.
Berühmtester Codebruch im Ersten Weltkrieg
Plötzlich rückte die Welt näher zusammen - Handel und Wandel profitierten. Aber auch Diplomaten und Politiker machten mittels Telegrammen Geschichte. Es war ein solcher "Drahtbericht", den Preußens Ministerpräsident Otto von Bismarck im aufgeheizten politischen Klima des Sommers 1870 nutzte, um einen Krieg mit Frankreich zu provozieren - er steckte einfach den durch Kürzung zugespitzten Text eines Telegramms mit den Forderungen Frankreichs an Preußen der Presse. Die Öffentlichkeit schrie Zeter und Mordio, die Franzosen sahen sich desavouiert und mobilisierten gegen Preußen. Bismarck stand als Unschuldslamm da und hatte trotzdem seinen Krieg - die "Emser Depesche" ebnete ihm letztlich den Weg zur Reichsgründung und zur Kanzlerschaft.
Nicht viel weniger berüchtigt ist unter Historikern ein anderes Telegramm: Die sogenannte Krüger-Depesche ging 1896 im Namen Kaiser Wilhelms II. an den Präsidenten des afrikanischen Burenstaats Transvaal. Darin gratulierte der deutsche Monarch zur erfolgreichen Abwehr eines Annektionsversuchs der Engländer - die Briten, welche den Transvaal zu ihrem Empire zählten, waren not amused, die deutsch-britischen Beziehungen gründlich vergiftet.
Wesentlich folgenreicher war jedoch noch die "Zimmermann-Depesche", deren Entschlüsselung den berühmtesten Codebruch des Ersten Weltkriegs war. Anfang 1917 war es dem britischen Admiral William Hall gelungen ein Telegramm zu dechiffrieren, in dem die Deutschen Mexiko Gebietsgewinne auf Kosten der Vereinigten Staaten in Aussicht stellten, sollten diese an Seite des Reiches in den Krieg eintreten. Die Depesche bewirkte einen rasanten Meinungsumschwung innerhalb der bis dahin isolationistischen USA - und führte letztlich zur Zustimmung des Kongresses zum Kriegseintritt auf Seiten der Entente Cordiale.
Grauer Trabant-Kombi mit gelbem Posthorn
Im Zweiten Weltkrieg war zwar die Kommunikation per Telefon bereits Normalität geworden, wichtige Nachrichten jedoch wurden nach wie vor per Telegramm versandt. Nur tragisch, wenn die Empfänger - wie im Fall des berühmten "Riegner-Telegramms", in dem der Büroleiter des Jüdischen Weltkongresses in Genf, Gerhart Riegner, die Alliierten bereits im August 1942 präzise über den Holocaust informierte - nicht die eigentlich notwendigen Konsequenzen zogen.
Während das Telegramm für Diplomaten für mehr als ein Jahrhundert zum alltäglichen Geschäft gehörte, war es für Privatleute immer etwas Besonderes - teuer und nur bei außergewöhnlichen Anlässen angemessen, etwa um Todesfälle oder Geburten, überstürzte Eheschließungen oder vielleicht gerade noch geänderte Reisepläne mitzuteilen. Die hohen Kosten - bezahlt wurde (und wird) pro Wort - brachten einen eigenen, äußerst reduzierten und bald sprichwörtlichen "Telegrammstil" hervor, der der heutigen SMS-Abkürzungsmanie gar nicht so unähnlich war: "Ankomme Freitag den 13.", wie Reinhard Mey sang.
In der DDR behauptete sich das Telegramm deutlich länger als im Westen. Verhältnismäßig wenige Haushalte verfügten über ein Telefon - daher kurvten graue Trabant-Kombis mit dem gelben Posthorn hier noch bis zum Ende des zweiten deutschen Staates geschäftig durchs Land, um die "gedrahteten" Papiergrüße auszuliefern. Mit rund 15 Millionen Telegrammen wurden in Ostdeutschland doppelt so viele verschickt wie 1955.
Todes-Telegramm als Ausreisegenehmigung
Im innerdeutschen Kommunikationswesen spielte das Telegramm zu Mauerzeiten übrigens eine ganz besondere Rolle: Die traurige Nachricht vom Tod eines West-Verwandten in Form eines Telgramms konnte die offizielle Ausreisegenehmigung ersetzen, die, wenn überhaupt, oft erst nach mehreren Wochen von der DDR-Bürokratie ausgespuckt wurde.
Heute ist das Telegramm einigermaßen abgemeldet. Die auf ein Blatt Papier aufgeklebten Tickerstreifen fristen ein nostalgisches Nischendasein. Lediglich das Schmuckblatt-Telegramm hat als Signal besonders großer Wertschätzung bei besonderen Jubiläen und ähnlichem noch Anhänger. Für die alltägliche Kommunikation ist es obsolet - wer gibt schon 15,20 Euro (so der derzeitige Preis für ein Minitelegramm von maximal zehn Worten) aus, wenn er mit einer SMS für ein paar Cent das Gleiche sagen kann? Zumal selbst der Telgrammbote, der in so vielen alten Schwarzweiß-Filmen garantiert genau im dramaturgisch richtigen Moment mit der frohen oder tragischen Nachricht an der Tür klingelte, nicht mehr das ist, was er einmal war: Heute wird ein Standard-Telegramm erst am folgenden Werktag ausgeliefert; an Sonn- und Feiertagen wird es nur gegen einen saftigen Aufpreis zugestellt.
Eigentlich erstaunlich also, dass sich das behäbig gewordene Medium neben seinen digitalen Konkurrenten so lange gehalten hat. Sein definitives Aus allerdings scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein: Ein Staat nach dem anderen streicht die Auslandstelegramme aus dem Programm, vor zwei Jahren stellte die weltweit agierende Western Union den Telegrammbetrieb endgültig ein. Schade eigentlich. Eine E-Mail wird nie so sanft durch den Briefschlitz rappeln wie das Blatt mit den aufgeklebten Tickerstreifen