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Terroranschlag von Djerba: "Hier kommen wir nicht mehr raus"

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Terroranschlag von Djerba "Hier kommen wir nicht mehr raus"

Es war der erste Anschlag von al-Qaida nach 9/11: Am 11. April 2002 explodierte in Tunesien ein Brandsatz vor einer Synagoge. 21 Menschen starben, darunter 14 Deutsche. Zehn Jahre nach dem Attentat erinnern sich Helfer, Angehörige und Überlebende - die bis heute mit ihren Alpträumen kämpfen.

Irgendwann hat Bettina Fischer aufgehört, die Operationen zu zählen, die Niklas über sich ergehen lassen musste. Waren es nun zwanzig oder schon dreißig? Bettina Fischer konnte nur ahnen, dass die seelischen Schmerzen noch schlimmer sein mussten, so laut schrie Niklas jede Nacht: ein 22-monatiges Kind, das nicht ihres war und doch im Sommer 2002 in ihrem Ehebett lag, die Haut zu sechzig Prozent verbrannt, von Alpträumen geplagt.

Irgendwann ist Robert Schuster verstummt und hat aufgehört, über die Katastrophe zu sprechen, während seine Frau Sieglinde redete, redete, redete - das hatte ihr der Therapeut so empfohlen. Und doch ist es beiden Schusters, die in Wahrheit anders heißen, nicht gelungen, die Bilder aus ihren Köpfen zu verdrängen: Bilder von brennenden Menschen.

Und irgendwann konnten auch Helmut und Edith Eckert ihre Urlaube nicht mehr planen, ohne an die Explosion und das Feuer zu denken: Statt nach Tunesien und Ägypten fahren sie jetzt lieber nach Spanien. Djerba möchten sie nie wieder besuchen.

Al-Qaida meldet sich zurück

Zehn Jahre ist es nun her, dass der Selbstmordattentäter Nizar Ben Mohammed Nawar in dem tunesischen Ferienparadies Djerba ein Flammeninferno entfachte, als er vor dem Eingang der Ghriba-Synagoge einen mit 5000 Litern Flüssiggas beladenen Kleinlaster in die Luft jagte - genau in dem Moment, als Dutzende Touristen in die älteste Synagoge Afrikas drängten. In diesen zehn Jahren ist die Welt ein wenig abgestumpft gegenüber dem islamistischen Terror - doch damals wurde der 11. April 2002 als Zäsur empfunden.

Es war das erste zornige Lebenszeichen von al-Qaida nach den Anschlägen vom 11. September. Gerade hatten die Menschen ein wenig zur Normalität zurückgefunden. Sie hatten ihre Angst abgelegt und buchten wieder vermehrt Reisen in muslimische Länder, da lieferte das Terrornetzwerk den Beweis, dass es keineswegs besiegt war. Und zum ersten Mal gerieten überwiegend deutsche Zivilisten ins Visier der Attentäter: Von den 21 Besuchern der Synagoge, die der Attentäter mit in den Tod riss, kamen 14 aus Deutschland; die übrigen Opfer waren Tunesier und Franzosen.

Wer heute versucht, mit Überlebenden in Kontakt zu treten, spürt schnell, wie sehr die Wunden noch schmerzen: Viele haben noch nie Interviews gegeben und wollen es auch jetzt nicht tun. Manche haben extra ihren Urlaub über Ostern gebucht, um Anfragen zu entgehen. Und andere, wie Sieglinde Schuster, möchten eigentlich gar nichts sagen, doch das Wort "Djerba" am Telefon genügt, um einen Film in ihrem Kopf ablaufen zu lassen: Sie redet von ganz alleine, und da ist es plötzlich wieder, das Feuer, die Schreie, die Verbrannten. Am Ende sagt sie: "Das wühlt mich so auf, dass ich Schüttelfrost bekomme. Ich kann das einfach nicht vergessen."

Aufklärung ungewünscht

Zehn Jahre zuvor ging es viel schneller: Damals hat es nur einen Tag gedauert, bis die tunesischen Behörden begannen, die Erinnerungen an den Anschlag auszulöschen. Die verbrannte Fassade der Synagoge wurde wieder weiß getüncht, die verkohlten Bänke und Säulen neu gestrichen. Es galt, Spuren zu beseitigen, denn nach offizieller Auslegung galt das Attentat anfangs als tragischer Unfall. Tunesien war zu abhängig vom Tourismus, um den 11. April aufarbeiten zu wollen.

Ein Jahr hat es dagegen gedauert, bis Edith Eckert den Schock von Djerba einigermaßen verarbeitet hatte. Die 72-Jährige sitzt mit ihrem Mann in ihrem Wohnzimmer im brandenburgischen Zernsdorf. Im Sommer, sagt die Rentnerin, sei es so idyllisch hier mit all den Seen, dass sie nie verreisen - doch immer im Frühjahr fahren sie weg aus dem kalten Brandenburg, auch im Jahr 2002. Draußen vor ihrer Terrasse wiegen sich die Kiefern friedlich im Wind, drinnen kommen die Erinnerungen wieder.

Als es damals plötzlich knallte, war Edith Eckert gerade dabei, sich vor dem Gebetsraum in der Synagoge die Schuhe auszuziehen. Sie duckte sich instinktiv, sah aus den Augenwinkeln das Feuer, sprang über eine Bank, verletzte sich am Schienbein, lief zu ihrem Mann. Der drehte sich um, zum Eingang der Synagoge, und sah eine Feuerwalze auf sich zukommen, realisierte aber noch, dass das Feuer unter der Decke blieb. Dann flüchtete er mit seiner Frau in den Gebetsraum, während seine Kamera weiterfilmte, ohne dass er es merkte.

"Das ist das Ende"

Im Gebetsraum gab es vergitterte Fenster zu einem Hinterhof, verzweifelt rüttelten einige Touristen daran, sie riefen um Hilfe, nichts passierte. "Ich geriet in Panik", erinnert sich Edith Eckert, "ich dachte, das ist ein Gefängnis, das ist das Ende, hier kommen wir nicht mehr raus." Neben ihr stand ein Tunesier in einem langen Umhang, der noch glimmte. "Ich war in dem Moment zu gelähmt, um ihn zu warnen oder die Funken auszuschlagen", sagt Eckert, und man spürt, dass ihr die Hilflosigkeit noch heute unangenehm ist. Unterdessen versuchte ihr Mann vergeblich, das verschlossene Fenster mit seinem Taschenmesser aufzuschrauben.

Irgendwann wurden die Touristen gerufen, sie könnten rauskommen, doch der Rückweg durch den Haupteingang der Synagoge wurde das Schlimmste: Draußen, auf der Straße, lagen Tote seltsam gekrümmt auf der Seite. "Fechterstellung" heißt der medizinische Begriff, hat Helmut Eckert später erfahren, weil sich die Sehnen bei Brandopfern verkürzen. Ein Mädchen, sagt er, habe sich Cola über ihre verbrannten Arme geschüttet, im Rinnstein habe eine Frau gelegen, auf einer kleinen Mauer ein Mann mit seinem Kind gesessen, beide völlig verbrannt.

"Und da war diese Frau", erinnert sich Edith Eckert und ringt noch heute nach den richtigen Worten, "sie sah aus wie ein fremdes Wesen, eine Außerirdische. Sie hatte keine Haare und Kleidung mehr, die Haut war grau, ihre Augen sahen aus wie geschmolzen." Dann sagte die Schwerverletzte diesen einen, banalen Satz, den Edith Eckert nie vergessen sollte: "Sehen Sie mal, so sehe ich jetzt aus."

Unverbundene Brandopfer

Selbst für erfahrene Spezialisten wie den Berliner Verbrennungsmediziner Bernd Hartmann war Djerba "ein sehr bedrückendes Erlebnis". Einen Tag nach dem Anschlag wurde der Chefarzt des Zentrums für Schwerbrandverletzte am Unfallkrankenhaus in Berlin nach Tunesien geflogen. Seine Berufserfahrung stimmte ihn pessimistisch: "Für Schwerstverbrannte gibt es nur ein schmales Zeitfenster. Es ist sehr wichtig, wie sie in den ersten Stunden behandelt werden." Brandwunden müssten gereinigt und keimfrei verbunden werden, die Patienten warm gehalten und ihr drastischer Flüssigkeitsverlust mit bis zu 20 Litern Infusion am Tag ausgeglichen werden.

Doch was Bernd Hartmann am 12. April in einem Krankenhaus in der tunesischen Stadt Sousse sah, war weit von diesen Standards entfernt: "Die Verletzten waren mangelversorgt. Sie lagen in einem großen Gemeinschaftssaal, manche waren unverbunden und nur mit einer einfachen Decke zugedeckt, andere nicht gut gewaschen, da sah man noch die verkohlten Kleidungsreste."

Unterdessen waren im nur wenige Flugstunden entfernten Deutschland viele Angehörige im Unklaren über das Ausmaß der Katastrophe. Über die Bildschirme flimmerten zwar die verwackelten Aufnahmen von Helmut Eckert, doch was genau passiert war, wusste anfangs niemand genau.

"Unprofessionelle" Krisenarbeit

Das Auswärtige Amt und der Reiseveranstalter TUI hatten Krisenstäbe eingerichtet, doch deren Unterstützung sei "ziemlich unprofessionell" gewesen, erinnert sich Bettina Fischer. Informationen seien nur spärlich geflossen, keine offizielle Stelle habe ihr eine ehrliche Einschätzung zum Gesundheitszustand ihres Bruders, ihrer Schwägerin und ihres Neffen gegeben. "Ich hatte damit gerechnet, dass wir nach dem 11. September besser vorbereitet sind auf einen Terroranschlag."

Dass es sehr schlecht aussah, erfuhr sie erst von der Schwester ihrer Schwägerin, die sich selbst in Tunesien ein Bild machte. Drei Tage nach dem Anschlag waren Bettina Fischers Angehörige in Spezialkliniken in Berlin und Hamburg; auch die Medien erfuhren davon. Schockiert sah Bettina Fischer in der "Bild"-Zeitung das Foto eines Schwerverletzten, der von oben bis unten verbunden war. Nur die Zehen lagen frei. An ihnen erkannte sie ihren Bruder.

Wütend beschwerte sie sich bei dem Krankenhaus in Berlin, deren Chefarzt Hartmann noch heute "zutiefst bedauert", dass ein Mitarbeiter "in dieser hochsensiblen Situation" nicht aufgepasst habe. "Wir waren damals nicht auf das riesige Interesse der Medien eingestellt."

Rückkehr ins Leben

Fischer verklagte erfolgreich die "Bild"-Zeitung, um ein Zeichen zu setzen. Am Ende überlebte nur Niklas R., ihr kleiner Neffe. Monatelang musste er einen Kompressionsanzug tragen, unzählige Male wurde er operiert, bis er im August 2002 entlassen werden konnte. Familie Fischer hatte, neben ihren beiden eigenen Söhnen, plötzlich einen dritten Sohn bekommen.

"Schon nach einer Woche hat er Mama und Papa zu uns gesagt", erinnert sich die 48-jährige kaufmännische Angestellte aus Worms. "Da musste ich sofort losweinen, weil ich irgendwie das irrationale Gefühl hatte, meinem verstorbenen Bruder und meiner Schwägerin ihr Kind wegzunehmen."

Es sollte Jahre dauern, bis Niklas verstand, dass er seine Eltern verloren hatte, bis er fragte, wie sie waren, was damals passierte. Verstehen kann der heute Elfjährige immer noch nicht alles. Und dennoch sei Niklas heute "eine absolute Frohnatur, ein ganz glückliches Kind", sagt Bettina Fischer. Obwohl er, wie zuletzt vor einer Woche, ständig nachoperiert werden muss, weil das vernarbte Gewebe spannt und nicht mitwächst.

Vielleicht schaffen es nur Kinder, einigermaßen positiv mit so einem Schicksal umzugehen. "Ich habe zwei Eltern", sagte Niklas als Fünfjähriger einmal seiner Kindergärtnerin und klang dabei ziemlich stolz. "Bei den einen lebe ich, die anderen sind im Himmel."

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