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Violet Jessop: Schiffsuntergang überlebt - schon wieder

"Titanic"-Überlebende Violet Jessop Fräulein Unsinkbar

Seenot in Serie: Die Irin Violet Jessop war nicht nur mit an Bord der legendären "Titanic", als der Luxusliner 1912 im Nordatlantik versank - sie fuhr auch mit seinen beiden Schwesterschiffen "Olympic" und "Britannic" zur See. Gleich dreimal entrann sie dabei nur knapp dem Tod.

Es war am frühen Morgen des 21. November 1916, als Violet Jessop zum dritten Mal dem Tod begegnete. Um 8.12 Uhr habe sie an Bord "ein Zittern, ein langgezogenes Beben von einem Ende des Schiffes zum anderen" gespürt, erinnerte sie sich später in ihren Memoiren. Sie lief nach oben, an Deck des Lazarettschiffs "Britannic", das verwundete britische Soldaten über die Ägäis abtransportieren sollte. Und sah das Chaos: Besatzungsmitglieder liefen durcheinander, und von der Brücke befahl Kapitän Charles Bartlett, noch im Pyjama, sofort das Schiff zu räumen.

Offenbar waren sie auf eine deutsche Seemine gefahren und hatten sofort zu sinken begonnen. Menschen griffen sich Schwimmwesten und hasteten zu den Rettungsbooten. Bevor auch Jessop floh, machte sie etwas, das sonst niemand tat: Sie drehte sich um, ging in ihre Kabine zurück und steckte sich ihre Zahnbürste ein. Dann erst stieg sie ins Boot. Sie kannte sich aus mit Schiffskatastrophen.

Gäbe es eine ewige Liste der größten Pechvögel der Schifffahrtsgeschichte, Violet Jessop stünde noch heute mit an der Spitze. Denn bevor sie die Schiffskatastrophe der "Britannic" miterlebte, war sie auch mit deren beiden Schwesterschiffen, der "Olympic" und der "Titanic", zur See gefahren - und auch auf ihnen in Seenot geraten. Gäbe es aber eine Liste der größten Glückspilze der Schifffahrt, so müsste Jessop auch diese anführen. Denn sie entkam jedes Mal um Haaresbreite dem Tod. Und so blieb sie ganz gelassen, als das Rettungsboot der "Britannic" 1916 langsam in das Wasser der Ägäis herabgelassen wurde. Sie vertraute darauf, dass sie schon irgendwie davonkommen würde. Nur wusste sie noch nicht: Dieses Mal würde es so knapp sein wie noch nie zuvor.

Der Kiel bohrte sich in die Seite des Schiffes

Schon früh hatte die in Argentinien geborene Tochter irischer Auswanderer ihre Erfahrungen mit dem Tod gesammelt: Zwei ihrer acht Geschwister starben schon im Kindesalter, und als Violet als kleines Mädchen schwer an Tuberkulose erkrankte, sahen die Ärzte auch ihre Tage gezählt. Sie diagnostizierten, Violet habe nur noch wenige Monate. Aber sie überlebte. Das Überleben sollte ihre große Stärke werden.

Als sie 18 war, starb ihr Vater, und die Familie zog nach Großbritannien, wo Violet auf eine Klosterschule ging. Die Mutter arbeitete als Schiffsstewardess für die Londoner Reederei Royal Mail Line, um ihre Familie alleine zu ernähren, doch als auch sie 1908 schwer erkrankte, musste Violet, die älteste Tochter, Geld verdienen. Sie tat es ihrer Mutter gleich - und wurde auch Stewardess.

Nach einigen Fahrten für die Royal Mail Line schien es, als wäre das Glück auf ihrer Seite: Im September 1910 wurde sie von der Londoner Reederei White Star Line angeheuert. Die Reederei plante, mit Hilfe beträchtlicher Investitionen des amerikanischen Bankiers John Pierpont Morgan im Rücken, die größten Schiffe aller Zeiten zu bauen - die "Olympic-Klasse". Für den Dienst auf dem ersten dieser Vorzeigeschiffe, der "Olympic", wählte die Reederei nur die attraktivsten unter ihren Stewardessen aus. Und so waren es die Schönheit der jungen Violet Jessop, ihre blauen Augen und ihr kastanienbraunes Haar, die sie zum ersten Mal in Todesgefahr auf See brachten.

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Mit einer Länge von 269 Metern und einem Gewicht von 52.067 Tonnen stellte die "Olympic" tatsächlich alles in den Schatten, was die Welt bis dahin an Ozeanriesen gesehen hatte. Und genau das wurde ihr am 20. September 1911 im Ärmelkanal vor der Isle of Wight zum Verhängnis: Durch den Sog, den die enorme Masse der "Olympic" im Wasser erzeugte, so rekonstruierte es später die britische Navy, wurde das britische Kriegsschiff HMS "Hawke" förmlich in die Seite des Luxusdampfers hineingezogen. Der Bug der "Hawke" durchbohrte die Hülle der "Olympic" und riss das Schiff unter der Wasseroberfläche auf einer Länge von zwölf Metern auf. Der Schaft der Schiffsschraube wurde durch den Aufprall verbogen, zwei Innenkammern des Dampfers liefen voll Wasser. Doch Violet Jessop kam noch einmal mit dem Schrecken davon: Die "Olympic" konnte sich mit letzter Kraft zurück in den Hafen von Southampton schleppen.

"Kümmern Sie sich um das Baby!"

Trotz des Unglücks wollte Jessop nach der Kollision weiter auf der "Olympic" arbeiten, aber Freunde überredeten sie, auf dem gerade erst fertiggestellten, neuesten Schiff der "Olympic-Klasse" anzuheuern - der "Titanic". Noch größer und luxuriöser als die "Olympic", wollte die White Star Line mit diesem Schiff die Konkurrenzreederei der Cunard Line endgültig aus dem Rennen werfen. Und so stach Jessop am 10. April 1912 als eine von nur 23 Frauen in der 900 Mann starken Crew des neuen Superdampfers in See, unter demselben Kapitän, der zuvor auch bei dem Unglück der "Olympic" das Kommando an Bord gehabt hatte: Edward John Smith. Vielleicht war es dieser Zufall, der die gläubige Katholikin zu einer Schutzmaßnahme veranlasste: Sie brachte ein aus dem Hebräischen übersetztes Gebet mit an Bord, das sie von einer alten irischen Frau geschenkt bekommen hatte. Es sollte sie vor Schaden durch Feuer und Wasser schützen.

Als die "Titanic" am Abend des vierten Tages der Reise, dem 14. April 1912, um 23.40 Uhr im Nordatlantik von einem Stoß erschüttert wurde, lag Jessop schon schläfrig im Bett. Erst oben an Deck realisierte sie, was geschah: "Ich sah, wie Frauen sich an ihren Männern festklammerten, bevor sie mit ihren Kindern in die Rettungsboote verfrachtet wurden", erzählt sie in ihren Memoiren, die 1997 unter dem Titel "Titanic Survivor" erschienen. Als Crewmitglied hat sie selbst keinen Anspruch auf einen Platz in einem der Boote, ehe nicht die Passagiere gerettet sind - doch der Zufall stand ihr bei. Ein Schiffsoffizier verzweifelte daran, einer Gruppe von Frauen, die kein Englisch sprachen, zu verdeutlichen, dass die Rettungsboote sicher waren. Und so befahl er Jessop, hineinzusteigen, um ihnen zu zeigen, was zu tun ist. Anstatt sie nach der Demonstration wieder herauszuholen, überreichte er ihr ein Bündel mit den Worten: "Hier, Miss Jessop. Kümmern Sie sich um dieses Baby." Das Boot wurde ins Wasser gelassen.

Erst am nächsten Tag, als die "Titanic"-Überlebenden von der RMS "Carpathia" aufgelesen wurden, realisierte Jessop, dass der größte Teil der Besatzung mit dem Schiff untergegangen war. Sie war so erschöpft und benommen, dass sie sich nicht einmal wunderte, als an Bord der "Carpathia" plötzlich eine Frau auf sie zusprang, ihr das Baby, das sie noch immer an sich gedrückt hielt, entriss, und ohne ein Wort des Dankes davonrannte. Scheinbar hatte die Mutter ihr Kind an Bord der Titanic im Durcheinander an Deck liegengelassen. Eng zusammengepfercht mit den anderen Überlebenden wurde Jessop auf der "Carpathia" nach New York verschifft. Die hygienischen Zustände an Bord waren der jungen Frau zuwider - sie bereute es jetzt, nicht noch ihre Zahnbürste von Bord der Titanic mitgenommen zu haben.

Die Nichtschwimmerin sprang einfach ins Wasser

Und so hatte sie, als sie schließlich vier Jahre später im Rettungsboot des Lazarettschiffs "Britannic" nach der Kollision mit einer Seemine in das Wasser der Ägäis hinabgelassen wurde, ihre Zahnbürste fein säuberlich in der Tasche ihrer Schürze verstaut. Sie war merklich ruhiger als die Menschen in den anderen Booten, die, obwohl doch schon gerettet, plötzlich begannen, in wilder Panik von den Booten zu springen. Dann realisierte Jessop, wovor sie sich so fürchteten: "Ich drehte mich um und sah zu meinem Entsetzen die riesigen Schiffsschrauben der 'Britannic', die alles durchrührten und zerhackten, was in ihre Nähe kam. Menschen, Boote und alles andere wurden zu einem einzigen, grauenhaften Strudel." Der Kapitän versuchte, sein sinkendes Schiff mit voller Kraft voraus auf Land laufen zu lassen - und richtete damit ein Gemetzel an. Auch Jessops Boot geriet in den Sog. Sie sprang den anderen hinterher.

Ihr Mantel saugte sich voll Wasser und zog sie tief hinab. Als sie wieder hochkam, schlug etwas hart gegen ihren Kopf, einmal, zweimal, ein drittes Mal. Scheinbar prallte sie immer wieder gegen die Böden der Rettungsboote über ihr. Dann endlich tauchte sie in sicherer Entfernung von den Schiffsschrauben wieder auf - und fand sich inmitten eines Schreckensszenarios wieder: "Das erste, was ich erblickte, war ein gespaltener Schädel. Überall trieben abgerissene Glieder." In der Entfernung sah sie das dritte Schiff der Olympic-Klasse versinken: "Sie tauchte ihren Kopf ein wenig ein, dann ein bisschen tiefer, und noch etwas mehr. Maschinen fielen von Deck wie Kinderspielzeuge. Dann erhob sich ihr Heck weit in die Luft, bevor sie mit einem letzten Dröhnen in die Tiefen verschwand."

Hände zogen sie aus dem Wasser auf ein Motorboot. Violet war einmal mehr mit dem Schreck davongekommen: Sie hatte eine tiefe Schnittwunde am Bein, sonst fehlte ihr scheinbar nichts. Dass ihre Verletzungen tatsächlich weit ernster waren, erfuhr sie erst Jahre später: "Als ich zum Arzt ging, weil ich ständig Kopfschmerzen hatte, entdeckte er, dass ich einst eine Schädelfraktur erlitten hatte."

Trotz der Katastrophen blieb Violet Jessop dem Meer treu, ihr Leben lang. Erst 1950, nach 42 Jahren auf See, setzte sie sich zur Ruhe und zog in das beschauliche Dorf Ashfield im englischen Suffolk. In einem idyllischen Reetdachhaus voller Souvenirs von ihren Fahrten und mit Hühnern im Garten verbrachte Violet Jessop, die jedes der Schiffe der Olympic-Klasse überlebt hatte, ihre Tage. Bis sie am 5. Mai 1971 im Alter von 83 Jahren starb. An Herzversagen.

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