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"Titanic"-Überlebende: Karriere mit Untergang

"Titanic"-Überlebende Wimbledon-Sieger, Filmstar, Selbstmörder

Sie waren traumatisiert - und plötzlich weltberühmt: Als 1912 die "Titanic" sank, konnten sich etwa 700 Menschen retten. Der gesunkene Luxusdampfer sollte von da an ihr Leben prägen. Für einige wurde das Überleben der Katastrophe zum Fluch - für andere der Beginn einer kometenhaften Karriere.

Für ihren Tod hatte die alte Dame strenge Vorrichtungen getroffen. Niemand durfte von ihrer Beerdigung wissen. Und so wurde im Oktober 2007 in der britischen Kleinstadt Camborne eine 96-Jährige von ihrer Familie leise zu Grabe getragen. Erst Wochen später erfuhr die Presse, wen die Welt da verloren hatte: Barbara Dainton, die vorletzte Überlebende der "Titanic".

Dainton hätte eine Berühmtheit sein können, sie hätte viel Geld mit dem Zufall verdienen können, dass sie 1912 als zehnmonatiges Baby den Untergang des sagenumwobenen Luxusdampfers überlebte. Stattdessen weigerte sie sich bis zu ihrem Tod vehement, auch nur ein Interview zu geben. "Mit diesen Titanic-Leuten", so lautet ihre einzige überlieferte Aussage, wolle sie "nichts zu tun haben".

19 Monate später starb in der Grafschaft Hampshire eine weitere hochbetagte Dame, und diesmal berührte die Meldung sofort Menschen auf der ganzen Welt: Millvina Dean war tot! Dean, 97, war die letzte Überlebende der "Titanic", auch sie war während des Unglücks noch ein Baby gewesen, auch sie hatte keine Erinnerungen an die Katastrophe. Und dennoch hatte sie in den letzten zwanzig Jahren einen großen Teil ihrer Zeit damit verbracht, Autogramme zu geben, Briefe von "Titanic"-Fans zu beantworten, vor Schulklassen aufzutreten und mit Reportern zu reden.

Spenden für das "Titanic"-Baby

Die Popularität der Ehrenpräsidentin der "British Titanic Society" zahlte sich schließlich aus: Als Dean die Kosten für ihre Unterbringung in einem privaten Pflegeheim nicht mehr bezahlen konnte, rettete sie ausgerechnet der Ruhm jenes Schiffes, das einst ihren Vater in den Tod gerissen hatte: Sie versteigerte für 40.000 Euro Briefe, Drucke sowie einen Koffer mit Kleidern, der ihrer Mutter nach der Rettung 1912 in New York gespendet worden war. Im Frühjahr 2009 geriet die Rentnerin erneut in Geldnot, und diesmal sprang sogar Hollywood ein. Kate Winslet, Leonardo DiCaprio und "Titanic"-Regisseur James Cameron spendeten 22.000 Euro - zu spät: Dean starb wenige Tage später, ausgerechnet an einem 31. Mai, dem Tag des "Titanic"-Stapellaufs.

Mehr als hundert Jahre liegt die Kollision der "Titanic" mit einem Eisberg nun zurück, doch die Faszination ist ungebrochen für diese tausendfach erzählte und verklärte Geschichte. Die einen berauschen sich noch immer an technischen Details, an dem unvorstellbaren Luxus oder an kruden Verschwörungstheorien; andere hingegen sehen in dem Untergang des Ozeanriesen eine Parabel auf die menschliche Hybris.

Entreißen konnten sich dem Sog der "Titanic" nicht einmal die etwa 710 Überlebenden, die aus dem eiskalten Wasser des Nordatlantiks gerettet wurden: Egal ob sie nach der Katastrophe durchstarteten oder scheiterten, ob sie später die US-Open und Wimbledon gewannen, wie der Tennisprofi Richard Norris Williams oder nur Zeitungen verkauften und sich das Leben nahmen, wie der Ausguck auf dem Schiff, Frederick Fleet - in der öffentlichen Wahrnehmung blieben sie immer die "Titanic"-Überlebenden.

Das Schiff, längst versunken, begleitete sie ein Leben lang: für einige war das ein Fluch, für andere ein Karrieresprungbrett.

Die Rolle ihres Lebens

Für Dorothy Gibson war es sogar beides. Glück hatte die damals 22-Jährige in der Nacht zum 15. April 1912, als sie gleich einen Platz im ersten Rettungsboot erwischte. Und vier Wochen später war sie plötzlich auch noch weltberühmt, als sie in dem zehnminütigen Stummfilm "Saved from the Titanic" ihre eigene Rettung spielte - in denselben Kleidern, die sie am Tag des Unglücks getragen hatte.

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"Titanic"-Überlebende: Karriere mit Untergang

Doch langfristig wurde ihr schlagartiger Erfolg zum Problem: so authentisch, so ausdrucksstark habe Gibson nur hier gespielt, hieß es nach ihrem Tod 1946 meist; Gibson sei höchstens eine durchschnittliche Schauspielerin gewesen. Erst eine Biografie aus dem Jahr 2005 rehabilitierte die Amerikanerin: Gibson habe in ihrer Zeit "exzellente Kritiken" bekommen, ihr Spiel sei als gleichwertig mit dem von Mary Pickford empfunden worden - und die war der Star der frühen Stummfilmära.

Die "Titanic" machte auch Margaret ("Molly") Brown zur Legende. Sicher hätte sich die resolute Frau aus armen Verhältnissen auch ohne den "Titanic"-Ruhm durchgeboxt, aber zweifellos verhalf ihr das Unglück rasend schnell zu nationaler Beliebtheit. "The Unsinkable Molly Brown" nannten Freunde die US-Frauenrechtlerin und Schauspielerin nach ihrem Tod 1932 ehrfurchtsvoll, "die unsinkbare Molly Brown".

Unsinkbare Patriotin

Dabei hatte Margaret Brown an jenem Abend des Schiffsuntergangs eigentlich nur das getan, was sie schon vorher stets gemacht hatte: helfen. Verheiratet mit einem einfachen Minen-Ingenieur, der es durch einen Goldfund in Colorado zum Millionär brachte, hatte Brown einst kostenlose Suppenküchen für die Arbeiter eingerichtet und sich vehement für mehr Frauenrechte eingesetzt. Jetzt, auf dem sinkenden Dampfer, trieb sie jene Frauen, die ihre akute Lebensgefahr gar nicht begriffen, eilig zu den Rettungsbooten.

Zeitzeugen berichteten später, dass sie auch im "Rettungsboot Nummer sechs" weniger an sich als an andere dachte: So geriet sie in einen heftigen Streit mit dem Steuermann, der sich weigerte, nach den schreienden Ertrinkenden zu suchen; er befürchtete, sein Boot könne bei einem Ansturm der Schiffsbrüchigen kentern. Brown verlor den Machtkampf zwar, trieb den Steuermann aber so zur Weißglut, dass er ihr drohte, sie über Bord zu werfen. Erfolgreicher war die Aufmüpfige auf dem Rettungsdampfer "Carpathia": Sie übersetzte für Franzosen und Deutsche, trieb Decken für die Unterkühlten auf und sammelte unter den Passagieren 10.000 Dollar für jene, die alles verloren hatten.

Und so ging es nach ihrer Ankunft in New York weiter: Brown wurde Präsidentin eines Komitees für "Titanic"-Überlebende, Brown gab Interviews, Brown wurde von einer lokalen Persönlichkeit zur nationalen Heldin. Sie vermittelte im Konflikt zwischen streikenden Minenarbeitern und dem Rockefeller-Konzern. Sie kämpfte für das Frauenwahlrecht. Und als 1914 der Weltkrieg ausbrach, reiste sie, natürlich, an die französische Front, um sich um die Verletzten zu kümmern. Bewundernd schrieb ein US-Reporter, Brown sei die Verkörperung der "unaufhörlichen Aktivität", eine Patriotin, eine Kämpferin. Unverwüstlich, nicht nur auf dem Meer.

"Ich bin mit vier Jahren gestorben"

Viele hingegen wären liebend gerne nie wieder mit der "Titanic" in Verbindung gebracht worden. Manche, weil es sie anwiderte, wegen einer tödlichen Tragödie in den Medien als B-Promi gefeiert zu werden. Andere, weil sie von den Ereignissen derart traumatisiert waren, dass sie nicht einmal im engsten Freundeskreis über das Unglück sprechen konnten. Der französische Philosophie-Professor Michel Navratil, zum Zeitpunkt des Unglücks noch ein Kind, analysierte sich später einmal brutal selbst: "Ich bin mit vier Jahren gestorben." Während er auf ein Rettungsboot geworfen wurde, ertrank sein Vater in den Fluten.

Und dann gab es noch jene Menschen, denen das Unglück zeitlebens anhaftete wie ein Stigma. Am meisten Joseph Bruce Ismay. Am 15. April 1912 riss die "Titanic" auch seine Karriere, sein Privatleben, seine Reputation mit in die Tiefe. Ismays Fehler: Er hatte überlebt.

Der Brite war der Reederei-Direktor der White Star Line, zu der die "Titanic" gehörte. Unmittelbar nach dem Unglück wurde er besonders in den Blättern des US-Pressemoguls William Hearst zum Schuldigen gestempelt. Hearst hatte Ismay womöglich nicht verziehen, dass er seinen Reportern nie ein Interview gegeben hatte. Jetzt sprach er das Urteil über den Reeder.

Feigling und Massenmörder

"Wer würde nicht einen ruhmreichen Tod wählen?" fragte Hearst am 19. April 1912 pathetisch - und meinte die Männer, die erst ihre Frauen und Kinder zu Rettungsbooten gebracht hätten, um dann seelenruhig auf das Ende zu warten. "Wer würde nicht lieber als Held sterben, denn als Feigling leben?"

Die Antwort gaben seine Journalisten: Bruce Ismay natürlich! Hatte er sich nicht klammheimlich in einem Rettungsboot davongemacht? Hatte er dem Kapitän nicht befohlen, durchs Eis zu rasen, um einen Geschwindigkeitsrekord aufzustellen? Stattdessen habe das Schiff einen "einmaligen Rekord der fahrlässigen Tötung" aufgestellt, ätzte der "American". Ismays "Sucht nach Geschwindigkeitsrekorden" sei nichts anderes als "Massenmord".

Der Reeder wehrte sich sein Leben lang vergebens. Es half nichts, dass zwei Untersuchungsausschüsse ihn von allen Anschuldigungen freisprachen. Es half nichts, dass die "Titanic" für Geschwindigkeitsrekorde gar nicht konzipiert war, dass Ismay sich stets in Briefen aus wirtschaftlichen Gründen gegen solche Rekordfahrten ausgesprochen hatte. Und es half auch nichts, dass Ismay laut Augenzeugen unermüdlich anderen Passagieren in die Rettungsboote geholfen hatte. Erst kurz vor dem Untergang, als er keine Frauen mehr auftreiben konnte, stieg er schließlich in das letzte Rettungsboot auf der Steuerbord-Seite. Es war nicht einmal voll besetzt.

"Das 'Titanic'-Unglück hat unser Leben ruiniert", klagte seine Frau später, Ismay brauchte zeitweise einen Leibwächter und verlor seinen Chefposten bei der White Star Line. Er richtete eine Stiftung für die Witwen der Katastrophe ein, doch in der Öffentlichkeit blieb Bruce Ismay stets "Brute" (Unmensch) Ismay - und das noch Jahrzehnte nach seinem Tod 1937: In James Camerons "Titanic"-Verfilmung etwa sahen ihn wieder Millionen Zuschauer - als niederträchtigen Feigling.

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