
Top-Spion Sorge: "Wenn irgendjemand Hitler vernichtet, dann bin ich das!"
DER SPIEGEL
Top-Spion Sorge "Wenn irgendjemand Hitler vernichtet, dann bin ich das!"
"Ich danke Ihnen für all Ihre Freundlichkeiten." Mit diesen Worten verabschiedete sich der höfliche Häftling am 7. November 1944 von seinen japanischen Henkern. Kurz darauf, um 10.20 Uhr, öffnete sich der Boden des Galgens in Tokios "Sugamo"-Gefängnis. 16 Minuten später nahm man den Mann aus der Zelle Nummer 20 vom Strick: Top-Agent Richard Sorge, Deckname "Ramsay", war tot.
Ausgerechnet am 27. Jahrestag der russischen Revolution hatte man jenen Spion hingerichtet, der Stalin von Tokio aus hochgeheime Informationen zugeschanzt hatte. Und mit seinen Funksprüchen im Zweiten Weltkrieg eine entscheidende Wende zugunsten der Alliierten herbeigeführt haben soll - so der Ruhm Sorges.
Denn dank seiner Information, dass Japan die Sowjetunion nicht angreifen würde, zog Stalin Truppen aus Sibirien nach Westen ab und drängte die vorpreschende Wehrmacht im Winter 1941 zurück: ein Schlag, von dem sich Hitler-Deutschland nie mehr erholen sollte. Zuvor hatte Sorge Stalin mehrfach vor dem "Unternehmen Barbarossa" gewarnt. Doch der Diktator hörte nicht auf seinen Spion.
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1941 - Ein Jahr, das die Welt verändert. Hitlers Soldaten fallen in der Sowjetunion ein, Stalin ruft den Großen Vaterländischen Krieg aus. Hinter den Fronten des Vernichtungskriegs beginnt der Völkermord.
Auch wenn noch immer umstritten ist, welche der Funksprüche den Sowjet-Diktator erreichten und inwieweit sie sein Handeln tatsächlich beeinflussten: Richard Sorge, mythifiziert wahlweise als "Stalins Meisterspion", "guter Deutscher" oder "Verräter an Deutschland", war einer genialsten Spione, die es je gab. Ein unverschämter, charmanter Lebemann, wie ihn sich kein James-Bond-Regisseur jemals zu erträumen wagen würde. Ein Mann, der jede Frau ins Bett bekam - und jedem Mann selbst die brisantesten Geheimnisse zu entlocken vermochte. Obwohl Sorge eigentlich gar kein Spion sein wollte.
Vom Patrioten zum Kriegshasser
"Den Beruf des Geheimagenten würde ich nie wählen", schrieb er kurz vor seinem Tod, viel lieber hätte er sich in Friedenszeiten als "Wissenschaftler" betätigt. Spion war der Mann mit den tiefblauen, leicht schräg stehenden Augen geworden, um den Krieg zu verhindern. Weil er die Hölle in den Schützengräben hautnah miterlebt hatte.
1895 bei Baku am Kaspischen Meer als Sohn eines deutschen Ingenieurs und einer Russin geboren, wuchs Sorge in Berlin auf, mit 18 Jahren meldete er sich freiwillig an die Front. Doch schon bald versiegte sein Patriotismus: Mehrfach bohrten sich Granatensplitter in den Körper des jungen Soldaten, 1917 zerfetzte ein Schrapnell beide Beine. Nur mit Mühe konnten die Ärzte ihn retten, seither hinkte Sorge.
"Diese wilde, blutige Rauferei hat mich und meine Kameraden zutiefst erschüttert", schrieb der Weltkriegsveteran in einer autobiografischen Skizze und fragte: "Wie sinnlos sind diese sich endlos wiederholenden Kriege?" In der Gewissheit, dass allein der Sieg des Kommunismus künftiges Massensterben vereiteln könne, verschrieb er sich Marx' und Engels' Ideen. Marschierte 1918 bei den Matrosenaufständen in Kiel mit, wiegelte Bergarbeiter in Aachen gegen den Kapitalismus auf, schloss sich der KPD an.
Als Journalist getarnt
1925 warb ihn die für die Weltrevolution eintretende Vereinigung Kommunistische Internationale (Komintern) in Moskau an. Kurz darauf wurde der Leiter des Militärischen Aufklärungsdienstes GRU, General Jan Karlowitsch Bersin, auf den promovierten Staatswissenschaftler und glühenden Kommunisten Sorge aufmerksam und verpflichtete ihn zur Agententätigkeit. Sorge spionierte für die Sowjetunion zunächst aus Großbritannien, Skandinavien, China und seit 1933 aus Japan.
Mitten in Tokio, in einem von Paranoia und Spionagephobie geprägten Klima, wo jeder Fremde ("Gaijin") sofort als Unruhestifter unter Generalverdacht stand, gelang Richard Sorge das Unmögliche: Unter den Augen der japanischen Geheimpolizei baute er einen rund 40-köpfigen Spionagering auf und infiltrierte nicht nur die deutsche Elite, sondern auch japanische Politiker und Militärs.
Um seine Spionagetätigkeit zu verschleiern, beschaffte sich Sorge Korrespondentenaufträge bei renommierten deutschen Zeitungen, etwa der "Frankfurter Zeitung", dem "Deutschen Volkswirt" und der "Zeitung für Geopolitik"; zudem wurde er Autor der vom Reichskriegsministerium herausgegebenen Zeitschrift "Die Wehrmacht". Als der Weltkriegsveteran 1934 der NSDAP beitrat, war die Tarnung perfekt.
Asien-Experte und Sexprotz
In deutschen Kreisen avancierte Sorge zum geschätzten Asien-Experten, er galt als "bestinformierter Mann Ostasiens", wie SPIEGEL-Chefredakteur Rudolf Augstein schrieb, der den Top-Spion 1951 mit einer 16-teiligen Serie würdigte. Dem Agenten vertrauten deutsche Offiziere und Beamte - allen voran der Militärattaché und spätere deutsche Botschafter in Tokio, Eugen Ott, der Sorge zum Presseattaché berief. Auch Otts Frau Helma verfiel dem Charme dieses breitschultrigen Sexprotzes mit den hohen Backenknochen und dem wilden Blick, der sich von all den aalglatten Gesellschaftsmenschen der deutschen Community in Tokio abhob.
Die beiden begannen eine leidenschaftliche Affäre, die Sorge Job und Leben hätte kosten können, ebenso wie die vielen anderen Sexabenteuer, Saufeskapaden und nächtlichen Motorradspritztouren. Doch vorerst blieb der extrovertierte Spion unentdeckt. Ott ließ ihn selbst dann nicht fallen, als er von der Liaison erfuhr.
Durch den Diplomaten erhielt Sorge Zugang zu den geheimsten Verschluss- und Kommandosachen. Und bekam Wind von dem "Unternehmen Barbarossa" - dessen genaues Datum jedoch Major Erwin Scholl, stellvertretender Militärattaché in Tokio und Saufkumpan von Sorge, ausplauderte. In einer auf den 1. Juni 1941 datierten Depesche warnte Sorge Stalin vor einer deutschen Aggression am 15. Juni. Mitte des Monats präzisierte ein Funkspruch Sorges: "Der Überfall wird am 22. Juni in aller Frühe auf breiter Front erfolgen."
Finte eines "verlogenen Arschlochs"
Der Sowjet-Diktator indes gab nichts auf die warnenden Worte Sorges, manche der Meldungen scheinen ihm nicht einmal vorgelegt worden zu sein. "Wir bezweifeln die Richtigkeit Ihrer Informationen", hieß es aus Moskau. Eine Depesche Sorges versah der Sowjet-Herrscher gar mit der Anmerkung, es handele sich hier um die Falschmeldung eines "verlogenen Arschlochs, das in Japan ein paar kleine Fabriken und Puffs betreibt und es sich gutgehen lässt".
"Wie können diese Idioten unsere Meldungen ignorieren!", konterte Sorge erbost, wie sich sein Funker Max Clausen erinnerte. Der Spion verzweifelte ob der Starrköpfigkeit Stalins, der auch anderen Mahnern keinen Glauben schenkte. Etwa seinem Spion Rudolf Rößler in der Schweiz, dem britischen Botschafter in Moskau oder der kommunistischen Spionageorganisation "Rote Kapelle" um Harro Schulze-Boysen und Arvid Harnack, die alle auf den drohenden Überfall hinwiesen.
Statt den Warnrufen vertraute der Diktator lieber Adolf Hitler, mit dem er sich 1939 Polen aufgeteilt hatte und dem er einen Zweifrontenkrieg schlicht nicht zutraute. Ein fataler Fehler: Am 22. Juni 1941, im Morgengrauen eines sommerlichen Sonntags, überschritten über drei Millionen deutsche Soldaten die Grenze zwischen der Sowjetunion und dem Deutschen Reich. Das "Unternehmen Barbarossa" begann.
"Sorge ist ein Gott!"
Als Sorge von dem Überfall der Wehrmacht erfuhr, betrank er sich bis zur Besinnungslosigkeit. "Der Krieg ist verrrrloooooreeen", grölte er von der Telefonzentrale des Tokioter Hotels "Imperial" den geschockten Otts und anderen Mitgliedern der deutschen Kolonie in Tokio zu, wie seine deutsche Freundin Eta Harich-Schneider zu Protokoll gab.
Auch in den kommenden Wochen beschimpfte der Agent Hitler öffentlich, pries die Russen, verprügelte auf offener Straße einen Polizisten und handelte so unvorsichtig, als könne er seine Verhaftung gar nicht abwarten. Zu seiner Verbitterung darüber, in Moskau nicht gehört worden zu sein, gesellte sich zunehmend Größenwahn: "Weißt du was? Sorge ist ein Gott", rief er seiner japanischen Geliebten Hanako Ishii zu - während er seiner deutschen Freundin Eta gegenüber lallte: "Wenn irgendjemand Hitler vernichtet, dann bin ich das, Richard Sorge!"
Gleichzeitig arbeitete Sorge fieberhaft weiter, im September 1941 landete er einen weiteren Coup: Japan werde nicht Sibirien, sondern Indochina angreifen, funkte der Spion den Sowjets in Moskau. Hier hütete man sich, Sorges Warnungen erneut in den Wind zu schlagen. Stalin, der diese Nachricht allerdings wohl auch aus anderen Quellen erhalten hatte, ließ unverzüglich 34 ausgeruhte Divisionen vom sowjetischen Fernen Osten nach Westen verlegen.
Von Stalin verleugnet
Dank dieser Verstärkung stoppte die Rote Armee im Dezember 1941 den deutschen Vormarsch auf Moskau und brachte damit die faschistische Blitzkrieg-Strategie zum Scheitern: Der Nimbus der Unbesiegbarkeit der Wehrmacht war dahin, die Moral entscheidend geschwächt. Endlich war Sorge gehört worden, was ihm selbst freilich nichts nutzte: Bereits am 18. Oktober 1941 hatten japanische Spezialeinheiten den immer unvorsichtiger auftretenden Spion festgenommen.
Mehrfach versuchte Japan, den prominenten Gefangenen auszutauschen, doch in Moskau hieß es stets: "Der Name Richard Sorge ist uns unbekannt." Am 7. November 1944 starb Sorge am Galgen. Seine Henker verscharrten den Leichnam auf dem Armenfriedhof, in dem für gewöhnliche Häftlinge vorgesehenen Abschnitt.
Doch seine Geliebte Hanako, einstiges Animiermädchen der Tokioter Bar "Rheingold", spürte die sterblichen Überreste des Agenten auf und sorgte dafür, dass Sorge auf dem Tama-Friedhof in einem Vorort Tokios ein ordentliches Begräbnis erhielt. Aus der goldenen Zahnbrücke des Toten ließ sie sich einen Ring machen, den sie zeitlebens nicht mehr ablegte.
Seit 1964 ziert ein Stein aus schwarzem Marmor das Grab des Meisterspions: "Held der Sowjetunion" prangt dort in kyrillischen Lettern. Mit 20-jähriger Verspätung, als der Kreml endlich Kritik an Diktator Stalin zuließ, erfuhr Richard Sorge in der Sowjetunion postum die Ehrung, die man ihm so lange verweigert hatte.