
Tschechoslowakei nach '68 "Prager Winter"
1980 war ich Pfarrer an der wunderschönen Bergkirche in Oybin, dicht an der tschechischen Grenze. Im März besuchten mich zwei Mitarbeiter des DDR- Fernsehens. Sie wollten Konzerte mit den weltberühmten "Prager Madrigalisten" aufzeichnen und baten um die Genehmigung, auch in der Kirche drehen zu dürfen. Den Mut, 1980 in einer Kirche drehen zu wollen, musste ich natürlich unterstützen und sagte zu.
So lernte ich den Musikwissenschaftler und Gründer der "Prager Madrigalisten" Professor Miroslav Venhoda kennen. Ein sehr sympathischer, älterer Herr. Meine Frau und ich luden ihn zu uns ein. Er stand abends pünktlich vor der Tür. Unter den einen Arm hatte er eine Flasche Wein, unter den anderen seine Hausschuhe geklemmt. Denn selbstverständlich zieht man seine Straßenschuhe vor der Wohnungstür aus! Wir redeten über Gott und die Welt und meine Erlebnisse 1968 in Prag. Er sagte, dass er schon geahnt habe, dass er zu den richtigen Leuten käme.
Dann erzählte er über die Folgen von 1968. Er berichtete von seinem Schwiegersohn, der als junger Arzt 1968 eine Medizinergewerkschaft hatte gründen wollen und dann 1970 auf ein kleines böhmisches Dorf verbannt wurde, das er seitdem bei Androhung von Gefängnisstrafe nicht mehr verlassen durfte. Dafür wurden alle seine Besucher vom Geheimdienst registriert.
Beisetzung vorverlegt
Er erzählt davon, dass die Repressionen selbst vor dem Tod nicht halt machten. Als ein Freund von ihm - ein sehr prominenter tschechischer Wissenschaftler - gestorben war, durfte der Zeitpunkt der Beisetzung in der Todesannonce nicht genannt werden. Er hatte sich 1968 politisch zu sehr engagiert. Damit die Angehörigen nicht Freunde und politisch Gleichgesinnten des Verstorbenen zur Beisetzung einladen konnten, wurde einfach der Telefonanschluss abgeschaltet. Als der Geheimdienst erfuhr, dass die Angehörigen es von Telefonzellen aus versuchten, bekam die Familie abends nach 20 Uhr die Mitteilung, dass aus technischen Gründen die Beisetzung schon morgens um 7.30 Uhr statt wie angekündigt um 17 Uhr nachmittags stattfinden müsse.
Miroslav Venhoda erzählte von weltbekannten Künstlern und Wissenschaftlern, die nicht mehr auftreten und arbeiten durften. Wenn sie eine andere Arbeit suchten, verhinderte der Sicherheitsdienst, dass sie welche fanden. Sie arbeiteten in den städtischen Abwasserkanälen und Müllbetrieben, putzten Fenster oder arbeiten als Heizer und Hausmeister. Ihre Kinder durften nicht studieren. Selbst der Zugang zu öffentlichen Bibliotheken wurde ihnen verwehrt. Oder sie wurden auf Dörfer verbannt, die sie nicht verlassen durften - wie Venhodas Schwiegersohn. Niemand durfte über sie schreiben, nirgendwo durften sie erwähnt werden. Sie sollten totgeschwiegen werden. Deswegen wurde nur noch geflüstert, wenn man über sie sprach.

Der Professor erzählte, wie die "Charta 77" - eine Erklärung gegen die Menschenrechtsverletzung des tschechoslowakischen kommunistischen Regimes, deren Mitverfasser Vaclav Havel war - unter der Hand an Freunde weitergereicht wurde und wie die Kommunistische Partei medienwirksam im Prager Nationaltheater eine Gegenveranstaltung organisierte, an der hunderte tschechische Künstler und Intellektuelle mehr oder minder freiwillig teilnahmen, um eine Anticharta zu verabschieden. Der Sänger Karel Gott beispielsweise versprach dort, mit noch schöneren Melodien einen Beitrag für den Marsch in ein glückliches Leben des Vaterlandes zu leisten. "Wes Brot ich ess, des Lied ich sing." Die Anticharta wurde in den folgenden Wochen von Tausenden unterschrieben.
"Prager Winter"
Das alles erzählt Professor Venhoda nicht laut und anklagend, sondern leise und ein wenig ironisch, wie einer, der weiß, dass nichts Bestand hat in dieser Welt. Wir frotzelten noch ein wenig über Karel Gott. Was wäre wohl aus ihm geworden, wenn er sich nicht dem System zur Verfügung gestellt hätte? Venhoda grinste in sich hinein und meinte, dass uns dann unersetzliche Gottsche Kunstwerke verloren gegangen wären, weil man dann nichts mehr von ihm gehört hätte. Und nach einer Weile fügt er ironisch hinzu: "Das kann einem den Sozialismus beinahe schon wieder sympathisch machen."
Später erzählt Professor Venhoda dann noch vom "Prager Winter", einer Konzertreihe in Prag. Im Nationaltheater wurde die Janacek-Oper "Libuse" gespielt. Prags sagenhafte Gründerin Libuse prophezeit darin erschütternd, ihr geliebtes tschechisches Volk werde zwar durch die Hölle müssen, aber es werde nie untergehen. Das klang schon in den Tagen der nationalsozialistischen Besatzung gefährlich. Jetzt aber kam bei diesen Worten schütterer Beifall auf - von den wenigen Tschechen, die Eintrittskarten bekommen hatten. Zwar handelte es sich um ein tschechisches Festival, aber die Tschechen hatten kaum Zutritt. Es ging nicht nur um Kultur, sondern auch um Devisen. Deshalb saßen im Zuschauerraum vorwiegend Österreicher, Amerikaner und Westdeutsche. Westliches Bildungspublikum eben, das allerdings die Zusammenhänge nicht begriff. Deshalb auch nur schütterer Beifall.
Spät nach Mitternacht ging Professor Venhoda wieder in sein Hotel. Das fiel natürlich auf und wurde von eifrigen Fernsehleuten an die Staatssicherheit nach Berlin und von dort aus nach Prag weitergemeldet. Bevor die Dreharbeiten beendet waren, lud uns Venhoda für die Woche darauf in sein kleines Bauernhaus in einem böhmischen Dorf ein, das aus 22 Häusern, 16 Milchkannen und einer kleinen Kneipe bestand.
Neue Hausmeister
Intensiv an der Grenze kontrolliert, gingen wir abends nach unserer Ankunft zusammen in die Dorfkneipe. Der Wirt begrüßte uns schon vor der Tür und sagte: "Sie sind schon da!" Professor Venhoda meinte: "Lasst uns über Musik reden, davon verstehen sie nichts." Als wir die Kneipe betraten, saßen an einem Ecktisch zwei Geheimdienstleute aus Prag. Seltsam, diese Typen sahen überall gleich aus.
Wir aßen und tranken und redeten lange über Musik. Über diesen Abend habe ich in meinen Akten kein Protokoll gefunden. Offensichtlich war man in den Stasizentralen in Berlin oder Prag an kulturellen Dingen nicht so sehr interessiert.
Leider ist Professor Miroslav Venhoda am 10.5.1987 gestorben. Wir hätten 1989 noch gerne mit ihm darauf angestoßen, dass die Geschichte - Gott sei Dank! - keine Sieger kennt. Außerdem hätte es Professor Venhoda bestimmt erfreut, dass die Hausmeisterposten 1989 in Prag wieder neu besetzt wurden: Während einige der Dissidenten, die sie inne gehabt hatten, zum Minister berufen wurden oder führende Posten in der Gesellschaft besetzten, nahm so mancher aus der alten kommunistischen Parteigarde einen frei gewordenen Platz als Hausmeister ein.
Manchmal könnte man glauben, Gott sei ungeheuer ironisch.