Antikes Antakya nach dem Erdbeben »Ein Paradies am Rande der Hölle«

Gestürztes Minarett: Die offizielle Website der Provinz Hatay nennt Habib-i Neccar Camii »vermutlich die erste Moschee Anatoliens«. Der historische Bau im Zentrum Antakyas liegt jetzt in Trümmern.
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SPIEGEL: Herr Brands, die Stadt Antakya in der Türkei, als Antiochia auch aus der Bibel bekannt, gilt als bedeutende historische Stätte: In der Antike war sie die drittgrößte Stadt der römischen Welt nach Rom und Konstantinopel. Anfang Februar wurde der Ort vom Erdbeben in der Region stark zerstört. Wie ist die Situation aus archäologischer Sicht vor Ort?
Gunnar Brands: Die meisten antiken Denkmäler der Stadt scheinen das Erdbeben weitgehend unbeschadet überstanden zu haben. Aber ein großer Teil der Altstadt von Antakya mit ihren mittelalterlichen und osmanischen Denkmälern wurde stark in Mitleidenschaft gezogen. Die Altstadt gehörte zu den am besten erhaltenen Flächendenkmälern der Türkei. Kollegen vor Ort sprechen davon, dass sie jetzt praktisch nicht mehr existiert. Ihre Gebäude stammen hauptsächlich aus der Zeit des osmanischen Reiches, aus dem 17., 18. und 19. Jahrhundert. Viele von ihnen waren in den letzten Jahrzehnten aufwendig restauriert worden, größtenteils durch private Initiativen. In den alten Häusern gab es wertvolle historische Innenausstattung. Diese Baudenkmäler scheinen zum Großteil zerstört worden zu sein.

Vor dem Beben: In den Häusern der Altstadt Antakyas findet man bemalte Decken und Wandmalereien – die Ausstattung stammt teils aus dem 18. Jahrhundert (Aufnahme von 2021).
Foto: Anadolu Agency / Getty ImagesSPIEGEL: Genaues weiß man noch nicht?
Brands: Es ist schwierig, sich ein Bild von den Schäden zu machen. Dafür müsste eine systematische Begehung des Stadtgebietes stattfinden, was unter den jetzigen Bedingungen schwierig ist. Satellitenbilder allein helfen dabei nur eingeschränkt weiter. Abgesehen von der osmanischen Wohnbebauung gibt es in der Altstadt von Antakya eine große Zahl historisch bedeutender Einzelmonumente, darunter Bäder, Karawansereien, Kirchen, eine Synagoge und islamische Kultbauten. Zum Teil datieren sie zurück bis in die Zeit kurz nach den Kreuzzügen, also ins 13. Jahrhundert. Zwei der mittelalterlichen Moscheen sind offenbar größtenteils zerstört, allen voran die Habib-i Neccar Camii. Das ist der bedeutendste mittelalterliche Bau in der Stadt, er liegt mitten im Zentrum. Dort sind Teile der Vorhalle und das Minarett eingestürzt, ein herber Verlust.

Multikulturell: Im historischen Antakya flossen jüdische, christliche und muslimische Traditionen zusammen. Der Namensgeber der großen Moschee, Habib-i Neccar, ist der Prophet Agabus aus der Apostelgeschichte, einer der frühen Anhänger Jesu (Aufnahme von Februar 2023).
Foto: Mehmet Malko / ZUMA Wire / IMAGOSPIEGEL: Wie sieht es außerhalb Antakyas aus?
Brands: Über den Zustand der antiken und mittelalterlichen Bauten in der Umgebung von Antakya wissen wir nur in Einzelfällen etwas mehr. Von der Kreuzfahrerburg Bagras Kalesi berichten Freunde, dass sie nur minimale Schäden erlitten hat, in anderen Fällen, vor allem in der Amuq-Ebene scheinen die Schäden wesentlich massiver zu sein. Darüber hinaus gibt es Berichte über Zerstörungen an Kirchen und antiken Stätten im nordsyrischen Kalksteinmassiv, nur 50 km von Antakya entfernt, in den sogenannten Toten Städten, wo es über 700 Siedlungen aus spätrömischer und byzantinischer Zeit gibt. Insgesamt ist das Bild, das wir uns von der Situation dort machen können, aber noch sehr unvollständig. Es ist derzeit weder verantwortlich noch zumutbar, jemanden in die Berge zu schicken, um den Zustand der Monumente zu überprüfen. Bis wir einen vollständigen Überblick haben, wird es wohl noch Monate, wenn nicht Jahre dauern.

Burgen, die Geschichte erzählen: Die Kreuzfahrerburg Bargas Kalesi, hier eine Aufnahme vor dem Erdbeben, wurde in der Kreuzfahrerzeit immer wieder umkämpft.
Foto: Anadolu Agency / Anadolu Agency / Getty ImagesSPIEGEL: Was bedeutet das Erdbeben für die archäologischen Grabungsmissionen in der Region?
Brands: Soweit ich weiß, sind die Grabungen in Antakya und der Umgebung für dieses Jahr ausgesetzt. Die Kollegen und Kolleginnen der dortigen Universität und des Museums, das eine der bedeutenden Sammlungen in der Türkei besitzt, sind damit beschäftigt, die Museumsbestände zu sichern und zu dokumentieren. Sie mussten in Depots ausgelagert werden, da das erst vor wenigen Jahren eingeweihte neue Archäologische Museum ebenfalls schwerbeschädigt wurde. Wir haben, wie einige andere Institutionen, unsere Hilfe angeboten und warten nun ab, wie die türkische Seite darauf reagiert und in welcher Weise wir die Kollegen und Kolleginnen vor Ort unterstützen können.
SPIEGEL: In Antakya gab es immer wieder Erdbeben – wie viel von der historischen Substanz der Stadt ist überhaupt erhalten?
Brands: Ein berühmtes Zitat besagt, Antakya sei »ein Paradies am Rande der Hölle«. Seit der Antike gab es über hundert dokumentierte Erdbeben dort, teils katastrophale. Bereits im 6. Jahrhundert n. Chr. wurden innerhalb von zwei Jahren zwei Erdbeben verzeichnet, die praktisch die gesamte Stadt zerstörten und angeblich mehr als 200.000 Todesopfer forderten. Es gibt alle 60 bis 80 Jahre ein schwerwiegendes Erdbeben in der Region, das letzte große 1872. Antiochia war und ist eine Stadt des permanenten Wiederaufbaus. Trotzdem stehen die antiken Stadtmauern und andere Bauten der römischen Kaiserzeit, aus dem 1. bis 6. Jahrhundert n. Chr., weitgehend aufrecht.
SPIEGEL: Gibt es schon erste Gespräche über einen Wiederaufbau der Kulturstätten in Antakya?
Brands: Nein, dafür ist es noch viel zu früh, obwohl die türkischen Kollegen und Kolleginnen mit der Schadensdokumentation begonnen haben. Restaurierungskonzepte wurden aber meines Wissens nach noch nicht entwickelt. Noch geht es in erster Linie um ganz existenzielle Probleme der Menschen in Antakya und der Region.

In Trümmern: Die Sankt Paulus Kirche der griechisch-orthodoxen Gemeinde ist ebenfalls zerstört worden.
Foto: Anadolu Agency / Anadolu Agency via Getty ImagesSPIEGEL: Sind Sie denn zuversichtlich, dass die historischen Monumente restauriert werden?
Brands: Das hängt ganz vom Zustand der historischen Bausubstanz ab. Da es in der Türkei keine institutionelle Denkmalpflege nach deutschem Verständnis gibt, dürfte viel davon abhängen, wie Privatleute und Institutionen mit den Altbauten umgehen. Es steht zu befürchten, dass eine gestaltlose Innenstadt, die nichts mit der historisch gewachsenen Stadt zu tun hat, die Altstadt überformt. Andererseits gibt es in der Stadt und ihrer Bevölkerung durchaus ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Schönheit und Bedeutung des historischen Erbes.
SPIEGEL: Wann wird die archäologische Forschung in der Region fortgesetzt werden können?
Brands: Auch das lässt sich noch nicht mit Bestimmtheit sagen. Zumindest in diesem Jahr ist nicht mit Ausgrabungen zu rechnen. Dazu fehlt die nötige Infrastruktur. Aber wir haben unsere Expertise bei der denkmalgerechten Sanierung angeboten. Es wird großer internationaler Anstrengungen bedürfen, um bei der Restaurierung voranzukommen.
SPIEGEL: Und wie geht es Ihren Kollegen und Kolleginnen in der Region?
Brands: In den vergangenen Wochen haben wir versucht, all die Kolleginnen und Kollegen, die Studierenden und die zahllosen Helfer zu lokalisieren, mit denen wir in den letzten Jahrzehnten zusammengearbeitet haben. Es scheint, dass die meisten das Erdbeben überlebt haben, aber natürlich beklagen sie Verwandte und Freunde, die bei dem Erdbeben ums Leben gekommen sind. Und, was vielleicht nicht weniger schlimm ist, den Verlust ihrer vertrauten Heimat.