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Typhus-Epidemie in Hannover: Killerkeime aus dem Wasserhahn

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Typhus-Epidemie in Hannover Killerkeime aus dem Wasserhahn

Sie sahen es kommen und taten nichts: Im Spätsommer 1926 wurde Hannover von einer Typhus-Epidemie heimgesucht, 282 Menschen starben. Statt die Bürger rechtzeitig vor verseuchtem Trinkwasser zu warnen, spielten die Behörden die Katastrophe wochenlang herunter.

Ungenießbar, ekelhaft, faulig! Die Beschwerden über das Trinkwasser rissen nicht ab. Sechs lange Tage floss im August 1926 aus den Wasserhähnen tausender Haushalte in Hannover eine penetrant stinkende Brühe. Sechs lange Tage scherte sich keine der staatlichen Stellen darum - selbst das Ricklinger Wasserwerk nicht, aus dessen Brunnen die Brühe kam. Erst als die Proteste lauter wurden, ging die Werksleitung der Sache auf den Grund. Die ernüchternde Bilanz: Schon am 14. August hatte die Gesundheitspolizei einen erhöhten Bakteriengehalt festgestellt - aber niemanden darüber informiert. Da das Wasser kontinuierlich gechlort wurde, ging sie davon aus, dass alle Keime zuverlässig abgetötet wurden. Doch die Chloranlage war offensichtlich defekt.

Das Ricklinger Wasserwerk reagierte sofort, überprüfte die Anlage und erhöhte den Chlorgehalt. Schon am folgenden Tag war das Wasser wieder sauber. Damit war für alle Beteiligten die Sache erledigt. Weder die Stadtverwaltung noch Oberbürgermeister Arthur Menge, noch das Wasserwerk oder die Gesundheitspolizei hielten es für nötig, die Bevölkerung vor den möglichen Folgen zu warnen. Die Begründung: Es gehe ja akut keine Gefahr mehr von dem Ricklinger Wasser aus. Der Zwischenfall sollte möglichst schnell in Vergessenheit geraten. Bloß keine Panik schüren, lautete die Devise.

Doch die Rechnung ging nicht auf. Mit ungeahnter Wucht holten die Ereignisse wenige Wochen später den Behördenapparat wieder ein. So folgenlos, wie man geglaubt hatte, sollte das mit Bakterien verseuchte Wasser nicht bleiben. Für Wochen legte es die gesamte Stadt lahm - während die staatlichen Stellen hilflos zusahen.

Viel zu späte Reaktion

Denn Ende August erkrankten plötzlich mehrere Menschen gleichzeitig an Typhus - und zwar ausschließlich in den Arbeitervierteln Linden, Ricklingen und Altstadt, die vom Ricklinger Wasserwerk versorgt wurden. Am 10. September lagen bereits 60 Typhus-Patienten im Krankenhaus. Einen Tag später waren es 300. Explosionsartig verbreitete sich in den folgenden Tagen die Seuche. Innerhalb weniger Wochen hatten sich 2500 Menschen infiziert. 282 raffte der Typhus-Erreger bis Anfang Dezember dahin. Dann war der Spuk endgültig vorbei. Schnell machte der Verdacht die Runde, dass das verseuchte Ricklinger Wasser für die Katastrophe verantwortlich war.

In den ersten drei Wochen wütete der Keim, ohne dass irgendeine staatliche Stelle etwas unternahm. Es schien, als wollten die Staatsdiener nicht wahrhaben, dass das verseuchte Wasser doch nicht so harmlos gewesen war, wie sie vorgegeben hatten. Und so ergingen sie sich noch in gut gemeinten, inhaltsleeren Beruhigungsparolen, als Ärzte und Gutachter bereits öffentlich vor der Epidemie warnten und der Bevölkerung Tipps an die Hand gaben, wie man eine Ansteckung vermeidet.

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Typhus: Broschüren, Impfstellen und Lazarette in Schulen

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Die Presse stand Kopf: "Die Auskünfte der zuständigen Stellen waren, wie gesagt, außerordentlich dürftig und sollten anscheinend immer als eine natürlich unangebrachte Beruhigungspille wirken", wetterte beispielsweise der Hannoversche Kurier am 10. September. Wiederholt prangerten Journalisten die Stadtverwaltung an, sie wolle vertuschen, dass die Typhus-Bazillen durch das Ricklinger Wasser übertragen worden waren.

Erst Mitte September, als bereits knapp 800 Typhus-Patienten ins Krankenhaus eingeliefert worden waren und die Seuche ihren Zenit erreicht hatte, gestand sich die Stadtverwaltung den epidemischen Verlauf der Erkrankungen ein und leitete die ersten Maßnahmen zur flächendeckenden Typhus-Bekämpfung ein. Viel zu spät, wie Ärzte, Gutachter und Journalisten kritisierten. Im Eiltempo wurden Aufklärungsbroschüren in der Bevölkerung verteilt, Schulen in Lazarette umfunktioniert, Impfstellen aus dem Boden gestampft, Desinfektionskommandos in die verseuchten Wohnungen geschickt.

Im Kreuzfeuer der Kritik

Doch das alles wirkte wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Es war nicht zu übersehen, dass die Stadt auf den Ernstfall nicht vorbereitet war. Schonungslos deckte die Presse die Mängel der Typhus-Bekämpfung auf. Es fehlte an Krankentransportern und an medizinischem Personal. Die Desinfektionskommandos kamen hinter der Flut der Aufträge nicht mehr her. Manche Haushalte mussten sechs Tage und mehr auf die Bakterienkiller warten. Die Maßnahmen seien ungenügend, einseitig und dilettantisch, ätzten die Medien unisono. Selbst international geriet Hannovers Staatsapparat ins Kreuzfeuer der Kritik. Die Wiener Zeitung beispielsweise stichelte am 1.10.1926: "Die hannoverschen Behörden nehmen den Kampf um die Beruhigung der Bevölkerung ernster als den Kampf gegen die Ursachen der Epidemie."

Gleichzeitig griffen die Zeitungen die Sozial- und Gesundheitspolitik der vergangenen Jahre an. Grund für die schnelle Ausbreitung der Typhus-Epidemie war nämlich nicht nur das verseuchte Ricklinger Wasser, sondern auch die desolaten Wohnverhältnisse in den Arbeitervierteln. Oft genug teilten sich zwei Familien eine Wohnung, so dass bis zu neun Personen auf 40 Quadratmetern hausten. Eine Kanalisation gab es nicht. Die Fäkalien wurden in zum Großteil undichten Sickergruben entsorgt. Die hygienischen Bedingungen waren folglich katastrophal und begünstigten die Verbreitung der Seuche. Jahrelang hatten der Ausbau der Kanalisation und die Beseitigung der Wohnungsnot auf der Agenda der Stadtverwaltung gestanden. Doch nichts war passiert.

Ähnlich rückständig stellte sich die Lage im Gesundheitswesen dar. Es gab den städtischen Verein für Gesundheitsfürsorge, den sozialhygienischen Ausschuss, das Wohlfahrtsamt, die Gesundheitskommission, die Stadt- und Kreisärzte und viele andere kleinere Vereine. Sie waren alle in der Gesundheitsfürsorge tätig, arbeiteten aber nicht zusammen. Die Ineffizienz dieses Systems offenbarte sich vor allem im Verlauf der Epidemie. Was fehlte, war eine zentrale Stelle, die sämtliche gesundheitspolitischen Aktivitäten koordinierte. Die meisten anderen Städte im Deutschen Reich verfügten bereits über eine solche Gesundheitsbehörde. Lautstark forderten daher Ärzte und Medien, dass auch in Hannover ein zentrales Gesundheitsamt eingerichtet werden sollte, um der "Anarchie im Gesundheitswesen", wie es im Ärzteblatt "Der Sanitäter" hieß, Einhalt zu gebieten.

Menge holt zum Gegenschlag aus

Menge ließ die Vorwürfe nicht auf sich und seinen Behörden sitzen und holte zum öffentlichen Gegenschlag aus. Die Presse schüre unnötige Panik und schade dem Image der Stadt, ließ er verlauten. Schützenhilfe bekam er dabei von der Hannoveraner Wirtschaft. Der hannoversche Landbund warnte, dass der Umsatz der Unternehmen um bis zu 50 Prozent eingebrochen sei. Produkte würden aus ganz Deutschland wieder zurückgeschickt, weil die Empfänger in den Verpackungen Typhus-Bazillen vermuteten. Selbst die Hannoveraner würden sich kaum noch zum Einkaufen trauen - aus Angst vor Ansteckung. Auch der Zentralverband der Angestellten und der Deutsche Verkehrsbund kritisierten die Berichterstattung: Die "verhältnismäßig geringe Verbreitung der Erkrankungen" stehe in keinem Verhältnis zu den "Sensationsmeldungen".

Angeheizt von der allgemein aufgebrachten Stimmung stellte die KPD-Fraktion Mitte September im Stadtparlament den Antrag, die Typhus-Epidemie wegen "verbrecherischer Fahrlässigkeit der Kommunal- und Staatsbehörden" zu untersuchen. Und auch die SPD-Fraktion verlangte eine Stellungnahme des Oberbürgermeisters. Ende Oktober verteidigte Menge das Krisenmanagement im Stadtparlament. Er versprach, sich zeitnah um den Ausbau der Kanalisation zu bemühen, den Wohnungsbau voranzutreiben und die Trinkwasserversorgung zu verbessern. Gleichzeitig wies er sämtliche Vorwürfe an seinem Krisenmanagement zurück - und bestritt vehement einen Zusammenhang zwischen dem mit Keimen verseuchten Ricklinger Wasser und dem Ausbruch der Seuche. Was er damals noch nicht wissen konnte: Ein halbes Jahr später kam ein unabhängiger Gutachterausschuss zu dem Ergebnis, dass das Ricklinger Wasser mit hoher Wahrscheinlichkeit den Keim in Umlauf brachte.

Offensichtlich gab man sich mit diesen Erklärungen im Stadtparlament zufrieden. Und auch in der Bevölkerung schien das desolate Management der Typhus-Epidemie bald vergessen. Denn Menge blieb bis 1937 im Amt. An den Missständen in Hannover änderte sich in dieser Zeit allerdings kaum etwas. Die Kanalisation wurde in den folgenden Jahren nur schleppend ausgebaut. Der Wohnungsbau kaum genauso stockend voran. Die Einrichtung einer zentralen Gesundheitsbehörde blieb der Wunschgedanke einiger engagierter Ärzte. Und selbst das Ricklinger Wasserwerk blieb wie gewohnt am Netz.

Dieser Artikel basiert auf dem preisgekrönten Beitrag "Was hatte es überhaupt noch für einen Sinn, die Bevölkerung zu warnen" - Der Skandal um die Typhusepidemie 1926 in Hannover für den Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten 2011 von Manuel Schwonberg (Gymnasium Isernhagen, 10. Klasse). Mehr Informationen gibt es auf der Website des Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten. 

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