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DDR-Übersiedler: "Geht doch nach drüben!"

Foto: Das Bundesarchiv / Wittig

DDR-Übersiedler "Geht doch nach drüben!"

Millionen Menschen wollten die DDR verlassen, doch es gab auch eine Gegenbewegung: Rund 500.000 zogen es von West nach Ost, darunter Prominente wie Ralph Giordano, Wolf Biermann und Stefan Heym.
Von Hans-Ulrich Stoldt

Nein, so hat sich Frank Heyda sein Leben im real existierenden Arbeiter-und- Bauern-Paradies nicht vorgestellt. Seit gut zwei Monaten sitzt der 18-jährige Malerlehrling nun schon in diesem seltsamen Heim in der Nähe von Ostberlin, und es ist nicht auszuhalten vor Langeweile. Verlassen darf er das Gelände nicht, es ist gesichert durch einen hohen Metallzaun. Dahinter patrouillieren bewaffnete Wachen. Tischtennis kann er spielen, gut und schön, und eine Außenkegelbahn gibt es auch.

Aber die Tage sind ja so lang.

Täglich ein Bier darf er im heimeigenen Laden kaufen, aber das hilft ihm jetzt auch nicht weiter. Soll er nun ernsthaft jene Bücher studieren, die in der kleinen Bibliothek auszuleihen sind, über den Aufbau der DDR, die Errungenschaften sozialistischer Landwirtschaft und die Niedertracht des Kapitalismus?

Die Leute, die ihn verhören, soll er mit Herr oder Frau "Sachbearbeiter" ansprechen, andere Bedienstete mit Herr oder Frau "Kultur". Alles sehr seltsam. Schon mehrmals fragten sie, wer ihn geschickt und welchen Auftrag er habe. So ein Quatsch. Er selbst hat sich entschlossen, rüberzumachen, von dem gar nicht so goldenen Westen in den anderen deutschen, den sozialistischen Staat. Denn zu Hause, in Hannover, lief es nicht so gut, ständig Stress mit der Polizei und immer diese Geldnot.

Lieber in der DDR

Vor vier Jahren erst, 1977, war Heyda im Rahmen der deutsch-deutschen Familienzusammenführung von der DDR in den Westen übergesiedelt, aber dort fand er sich nicht zurecht. Darum ist er eines Tages zum niedersächsischen Übergang Helmstedt-Marienborn gefahren und hat den Ost-Grenzern erklärt, er wolle wieder zurück.

Und nun sitzt er hier, im "Zentralen Aufnahmeheim Röntgental" in der Mark Brandenburg.

Bis 1989 musste dort fast jeder Erste Station machen, der von West- nach Ostdeutschland übersiedeln wollte. Denn das gab es tatsächlich und jederzeit: Menschen, die – aus privaten oder politischen Gründen – die Bundesrepublik verlassen und lieber in der DDR leben wollten. Zahlenmäßig nicht vergleichbar mit dem Strom in die andere Richtung, aber doch bemerkenswert.

Vor allem in der Nachkriegszeit gab es rege Wanderungen in beide Richtungen. Rund 3,8 Millionen Menschen wechselten von Ost nach West – bis SED-Chef Walter Ulbricht 1961 seinen Staat einmauern und die Grenze verminen ließ. Danach gingen noch einmal 600000, oft unter Lebensgefahr.

Sozialismus als Alternative

Von West nach Ost wollten nicht so viele, die meisten von ihnen entschieden sich vor dem Mauerbau. Das war jene Zeit, als Reisenden im ersten Bahnhof hinter der Grenze noch eine Lautsprecherdurchsage entgegen schallte: "Bürger der BRD, die ihren Wohnsitz in der Deutschen Demokratischen Republik aufschlagen wollen, melden sich am Schalter am Bahnsteig eins."

Exakte Zahlen gibt es nicht, nach Schätzungen waren es aber mehr als 500000 Menschen. Darunter auch später Prominente wie Wolf Biermann, Stefan Heym, Robert Havemann, Ralph Giordano oder Lothar Bisky.

Die erste Zeit nach dem NS-Schreckensregime war das sozialistische Experiment im Osten für viele Deutsche ja durchaus eine Alternative. Sie faszinierte der antifaschistische Gründungsmythos, die angeblich konsequente Vertreibung von Nazis aus Ämtern und Wirtschaft. Anders im Westen: Da erstarkten restaurative Kräfte, und alte Strukturen wurden neu beatmet. Auch Wiederbewaffnung und Wehrpflicht waren heftig umstritten.

SED-Chef Ulbricht nutzte die Gelegenheit, um für seinen Staat zu werben: "Junge Arbeiter, junge Bauern, junge Hochschüler und Studenten, wenn Ihr den Frieden wollt und ein einiges Deutschland, dann lasst Euch nicht von den Hitlergeneralen missbrauchen! Wer will, kann in die DDR kommen, um hier der friedlichen Arbeit nachzugehen."

17 Aufnahmelager

In jenen Jahren nach Kriegsende habe man durchaus eine Ostorientierung in Teilen der Bevölkerung beobachten können, so der Potsdamer Historiker Bernd Stöver. Man vergesse leicht, dass nach 1945 "kommunistisch-sozialistische Ideen und westliche Demokratievorstellungen in direkter Konkurrenz um die Gunst der Deutschen standen".

17 Aufnahmelager für Übersiedler aus dem Westen unterhielt die DDR in den Sechzigerjahren, und die eigentlich so uniformen Ostmedien überschlugen sich damals mit individuell gefärbten Reportagen: "Im Vorzimmer zur neuen Welt" waren sie luftig überschrieben oder mit "Umsteigen ins Morgen". Nahe Potsdam gab es extra ein Heim für wechselwillige Ärzte, Ingenieure und Techniker – sie wurden in einer schmucken Waldvilla untergebracht. Jeden Tag wolle er ein "starkes (Westflüchtlings-)Schicksal" lesen, ordnete Hermann Axen, Chefredakteur des "Neuen Deutschland", 1959 an.

Das klappte zunächst ganz gut, auch weil etliche Menschen, die es in den Westen gezogen hatte, enttäuscht zurückkehren wollten. Viele waren den Sirenen der Konsumkultur erlegen, verhedderten sich aber im harten Alltag.

Reuige Selbstkritik erwartet

Die DDR hätte durchaus jeden begrüßen können, der aus eigenem Beschluss zurückkommen wollte, aber das war ihr zu wenig. Sie verlangte einen Kotau – allein schon, um es der Welt zu zeigen. Es wurde reuige Selbstkritik erwartet, auch mit vorgestanzten Worten.

So gab ein 19-Jähriger zu Protokoll, er wolle aus Dortmund heim in die DDR, "weil ich mich als Arbeiterkind nicht von den faschistischen Offizieren der Bonner Söldnerarmee für einen neuen Raubkrieg drillen lassen will". Ein junger Bergarbeiter versicherte: "Wie so viele andere bekam ich die Härte des Bonner Regimes zu spüren."

Nachdem Republikflucht strafbar geworden war und Erich Mielke 1957 Stasichef wurde, änderte sich das Klima. Mauerbau und Wehrpflicht auch im Osten reduzierten zudem die Attraktivität der DDR als Gegenmodell zur Bundesrepublik. Dazu kam, dass sich der sozialistische Staat durch Misstrauen und Paranoia selbst unterminierte.

Argwohn und Verhöre

Bald war jeder, der an die Tür der Republik klopfte, verdächtig. Furcht vor eingeschleusten Agenten überwog bei Weitem die Freude über Neuzugänge. Und immer argwöhnischer wurden vor allem jene beobachtet, die von ihrem Westausflug zurück in den Osten wollten. Sie wurden tage-, ja wochenlang akribisch durchleuchtet und endlos verhört, bevor sie wieder der DDR dienen durften.

Immerhin: Nach dem Mauerbau wechselten noch rund 70000 Menschen Richtung Osten. Einige hatten berufliche Probleme, Ärger mit unterhaltsberechtigten Exgattinnen oder der Steuerfahndung. Politische Motive waren selten, denn nur wenige wollten der Aufforderung folgen, die kapitalismuskritischen Geistern von den Stammtischen zugerufen wurde: "Geht doch nach drüben!"

Die meisten, die kamen, suchten eher menschliche Wärme als die marxistische Weltanschauung.

Es gab Rückkehrer wie den späteren brandenburgische Innenminister Alwin Ziel. Er war im April 1988 nach einem privaten Besuch in Hamburg geblieben und wollte seine Familie nachholen. Doch dazu kam es nicht. Die Stasi setzte seine Frau harten Verhören aus, die stets mit den Worten endeten: "Um ihre Kinder werden wir uns kümmern."

Als Ziel erfuhr, dass seine Frau unter dem psychischen Druck schwer erkrankt ins Hospital eingeliefert worden war, gab er auf. Nach vier Monaten kehrte er in die DDR zurück – und landete im Zentralen Aufnahmeheim Röntgental. "Das war wie Knast", erzählte Ziel später, "die ganze Mühle, die da existierte, war so aufgebaut, dass die Insassen kleingemacht werden sollten. Sie sollten ihr Selbstbewusstsein verlieren."

Gesinnungsprüfung in Röntgental

So ähnlich funktionierte der ganze Staat: "Man wurde entindividualisiert", sagt die Historikerin Birgit Schädlich aus Bernau, die sich seit 20 Jahren mit der Thematik befasst. "Röntgental war eine kleine DDR."

Seit 1979 war das Heim die zentrale Aufnahmestelle für Ostumsiedler in der DDR – ein streng geheimer Ort, um den sich viele Gerüchte rankten. Ein Stasiknast wurde dort vermutet, eine Waffentestanlage oder ein Versteck für RAF-Terroristen, von denen tatsächlich einige mit neuem Namen in der DDR untertauchen durften.

Auf dem etwa vier Fußballfelder großen, in einem Wäldchen gelegenen, eingezäunten Gelände befanden sich ein siebenstöckiger Plattenbau und acht Baracken. Die Anlage unterstand dem Ministerium des Inneren, doch das Sagen hatte die Staatssicherheit. Mehr als 200 Menschen konnten hier untergebracht werden, im Schnitt waren es aber nur 30. Ihnen standen 114 Mitarbeiter gegenüber, die Damen und Herren "Sachbearbeiter" und "Kultur".

Weil jeder Ankömmling verdächtig war, herrschte in Röntgental ein strenges Regime, geprägt von zermürbenden Verhören, Befragungen und Gesinnungsprüfungen am Tag und bei Nacht. Familienangehörige wurden getrennt vernommen, dieselben Fragen drei Wochen später erneut gestellt – um Widersprüche aufzudecken.

Es schien, als könne der Staat es selbst nicht glauben, dass sich jemand freiwillig hinter Mauern, Stacheldraht und Selbstschussanlagen begeben wolle, um dort zu leben.

Nicht jeder durfte hinein

Die West-Ost-Wanderer ließ man lange im Unklaren. Irgendwann kam dann die Nachricht: Sie durften hinein ins rote Deutschland – oder eben nicht. Etwa die Hälfte der Eintrittsbegehrenden wurde "rückgeschleust", wie es auf DDR-Sprech hieß, wegen krimineller Delikte im Westen oder auch wegen vermuteter politischer Unzuverlässigkeit.

Das traf zur Überraschung der Betroffenen oft auch jene, die tatsächlich aus politischer Überzeugung DDR-Staatsbürger werden wollten. "Ihnen wurde nicht selten bedeutet, dass sie für den Sozialismus am meisten tun könnten, wenn sie dort blieben, wo sie seien, und sich vielleicht geheimdienstlich für die DDR engagierten", sagt Historiker Stöver.

Malerlehrling Frank Heyda saß rund drei Monate lang in Röntgental. Als er eines Tages erneut gefragt wurde, wer ihn geschickt habe und was sein Auftrag sei, reichte es ihm: Er trat in den Hungerstreik, und als das nichts bewirkte, zerlegte er sein Zimmer. Er war ja Handwerker. Wenig später brachten ihn mehrere Herren "Kultur" und "Sachbearbeiter" an die Grenze und schoben ihn ab. Zurück in den Westen.

Der wohl letzte Bundesbürger, der einen DDR-Personalausweis bekam, war der Schriftsteller Ronald M. Schernikau, der seinen Weg in dem autobiografischen Werk "die tage in l." beschrieb. Er war als Sechsjähriger mit seiner Mutter in den Westen gekommen, fühlte sich dem Osten aber stets enger verbunden. "Die meisten halten mich für verrückt", sagte er, aber: "Ich passe besser in die DDR."

Das war im September 1989. Der verträumte Sozialist ahnte nicht, dass die Tage der DDR da schon gezählt waren.

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