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Ende der Sowjetunion: Wie die Weltmacht zerfiel

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Untergang der Sowjetunion 1991 »Das Steuer entgleitet den Händen«

Ein Knall, ein letztes Wimmern, dann war es um das ruhmreiche rote Riesenreich geschehen. Vor 30 Jahren zerfiel die Sowjetunion. Sie scheiterte an planloser Politik und Nationalitätenkonflikten.

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Das Ende des größten Flächenstaates der Welt wurde am 25. Dezember 1991 per TV-Sondersendung verkündet. Aus dem Kreml wandte sich Michail Gorbatschow ans Volk, »das letzte Mal als Präsident«, sagte er.

Der sowjetische Staatschef, der zum Amtsantritt sechs Jahre zuvor Millionen Menschen durch seine Offenheit beeindruckt hatte, wirkte nervös, als er knapp sein politisches Scheitern schilderte. Er sei »für den Erhalt des Unionsstaates« eingetreten, doch der »Gang der Ereignisse« habe die Zerschlagung gebracht. Noch am selben Abend wurde die rote Flagge mit Hammer und Sichel über dem Kreml eingeholt und durch Russlands weiß-blau-rote ersetzt.

Damit ging ein Weltreich unter, das 1945 Berlin eingenommen und 1961 den ersten Menschen ins Weltall geschickt hatte, von den USA jahrzehntelang als militärisch ebenbürtige Supermacht wahrgenommen. Ein Zerfall dieses gigantischen Staates? Kaum vorstellbar.

Gut zwei Wochen zuvor hatten die Präsidenten von Russland, der Ukraine und Belarus einen Vertrag unterzeichnet, um die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken aufzulösen. Am 21. Dezember 1991 einigte sich eine Mehrheit früherer Republiken, die »Gemeinschaft Unabhängiger Staaten« zu bilden: eine vage Konstruktion, weder ein fester Staatenbund noch ein Bundesstaat. Damit war Präsident Gorbatschow ein König ohne Land.

Doch bereits 1922, im Gründungsjahr der Sowjetunion, hatte ein russischer Politiker gewarnt, wie brüchig dieser Staat sei.

»Die ganze Maschinerie wird zerfallen.«

Auf einem Parteitag der russischen Kommunisten sagte er, die Regierung müsse »richtig zum Ausdruck bringen, was das Volk erkennt«. Denn »anderenfalls wird die Kommunistische Partei nicht das Proletariat führen und das Proletariat nicht die Massen führen, und die ganze Maschinerie wird zerfallen«.

Der Redner hieß Wladimir Uljanow, bekannt als Lenin. Der Staatsgründer und Parteichef benannte bereits im März 1922 ein Grundproblem der Sowjetregierung: »Das Steuer entgleitet den Händen: Scheinbar sitzt ein Mensch da, der den Wagen lenkt, aber der Wagen fährt nicht dorthin, wohin er ihn lenkt, sondern dorthin, wohin ein anderer ihn lenkt.«

Staatsgründer Lenin bei einer Rede auf dem Roten Platz (7. November 1918): »Wir bekommen sehr viel süßliches kommunistisches Geflunker zu hören«

Staatsgründer Lenin bei einer Rede auf dem Roten Platz (7. November 1918): »Wir bekommen sehr viel süßliches kommunistisches Geflunker zu hören«

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Lenin sprach auch von systematischem Betrug: »Wir bekommen – besonders ich von Amts wegen – sehr viel süßliches kommunistisches Geflunker zu hören, Tag für Tag, und manchmal wird einem ganz fürchterlich übel davon.«

Trotz seiner Härte gegenüber politischen Gegnern war Lenin mehr Skeptiker als Staatenlenker, mehr Analytiker als Agitator. Schonungslos erhellte er 1922 die Aussichten der Sowjetmacht. Es könne passieren, dass der Staatsapparat, »dieses bürokratische Ungetüm«, seinen Charakter allmählich verändere und die Kommunisten die Macht verlören: »Die Geschichte kennt alle möglichen Sorten von Metamorphosen; sich auf überzeugungstreue Ergebenheit und sonstige prächtige Eigenschaften verlassen – das sollte man in der Politik ganz und gar nicht ernst nehmen.«

Ein Putsch als Sargnagel

Diese Selbsttäuschung wirkte jahrzehntelang fort – bis die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) ins Koma sank. Gorbatschows letzter Rettungsversuch: Beim Referendum im März 1991 stimmten mehr als drei Viertel der Teilnehmer für den Fortbestand des multinationalen Unionsstaates. In der Ukraine votierten gut 70 Prozent für den gemeinsamen Staat mit Russland, auf der Krim fast 88 Prozent.

Doch mehrere Unionsrepubliken lehnten die Mitwirkung am Referendum ab: Georgien, Armenien sowie die baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen hatten bereits Kurs auf die staatliche Unabhängigkeit genommen.

Danach entwarf eine Arbeitsgruppe in Moskau einen neuen Unionsvertrag und plante die Unterzeichnung für den 20. August 1991. Dieses Projekt Gorbatschows war nur noch ein Staatenbund, kein einheitlicher Staat mehr. Und es fehlten politische Kräfte, die zur Umsetzung in der Lage waren.

Am 19. August putschten Nostalgiker, Spitzenfunktionäre reiferer Jahrgänge und Liebhaber scharfer Getränke. Sie wurden angeführt von einem Alkoholiker, zuvor Vizepräsident: Mit zittrigen Trinkerhänden versprach Gennadij Janajew, »die Gesundheit und das Leben künftiger Generationen« zu bewahren.

Der parodiehafte Putsch brach nach drei Tagen zusammen – der letzte Sargnagel für die Sowjetunion. Boris Jelzin als Präsident der Russischen Föderation verbot die KPdSU, der er selbst seine Karriere im Politbüro verdankte.

Methode: Versuch und Irrtum – mit vielen Irrtümern

Damit war die stählerne Klammer des roten Riesenreiches entzwei, regelrecht durchgerostet. In den meisten Unionsrepubliken diente die Partei nur noch dem Machterhalt örtlicher Eliten. Gorbatschow war sie zu großen Teilen entglitten. Nach dem Putschversuch war er kaum mehr als eine Deko-Figur gegenüber Boris Jelzin, seit Juni 1991 russischer Präsident, in freien Wahlen mit rund 57 Prozent der Stimmen gewählt.

Zugleich fehlte es überall an Gütern des täglichen Bedarfs. Die Regale waren leer, Zucker und Wurst ebenso knapp wie Bleistifte, Teekannen, Rasierklingen oder Schuhe.

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Dennoch brachte nicht in erster Linie die massive Wirtschaftskrise das sowjetische System zu Fall, darüber sind sich Historiker und Politologen in- und außerhalb Russlands heute weitgehend einig. Entscheidend war, dass die Ideologie der KPdSU bereits in den frühen Achtzigerjahren ihre Wirkung verloren hatte. Die politische Führung hatte keine Vorstellung mehr von den Problemen der Gesellschaft.

Im März 1983 veröffentlichte Juri Andropow ein überraschendes Geständnis: »Wenn wir offen sprechen, dann haben wir bis jetzt nicht in dem nötigen Ausmaß die Gesellschaft, in der wir leben und arbeiten, studiert«, schrieb er als KPdSU-Generalsekretär im Theorieorgan »Kommunist«. »Deshalb sind wir gezwungen, gewissermaßen empirisch tätig zu sein, mit der nicht sehr rationellen Methode von Versuch und Irrtum.«

Zermürbt durch Nationalitätenkonflikte

Das war ein Offenbarungseid des Chefs einer Partei, die stets behauptet hatte, Politik auf Basis einer »wissenschaftlichen Weltanschauung« zu gestalten. Andropow war eine Ausnahmeerscheinung im Politbüro. Er besaß einen scharfen analytischen Verstand, hatte den Geheimdienst KGB geleitet und folgte Ende 1982 auf Leonid Breschnew an der Spitze der Partei , starb aber bereits im Februar 1984. Nach einem Intermezzo mit dem schwer kranken Konstantin Tschernenko wurde Gorbatschow 1985 Generalsekretär.

Andropow hatte den Landwirtschaftsfunktionär aus Stawropol wegen seiner Fähigkeit gefördert, »offen zu sprechen«. Doch während Andropow sich von Experten immer wieder Analysen vorlegen ließ, etwa über Konflikte mit Nationalisten in der Westukraine, im Baltikum und in Tschetschenien, unterschätzte Gorbatschow die Sprengkraft der Nationalitätenkonflikte.

Verstärkt wurden sie durch einen »Separator«, wie russische Forscher sagen. Die Sowjetunion, so der Politologe Juri Solosobow, habe in den großen Randgebieten vor allem des Kaukasus und Zentralasiens nationale Eliten herangebildet, die von der obersten Staatsführung mit Ressourcen versorgt worden seien, auf Kosten des russischen Kernlandes. Die Folgen zeigt Solosobow am Beispiel Aserbaidschans. Im September 2000 gestand Präsident Gejdar Alijew, Vater des heutigen Staatschefs, er habe schon als Parteichef der Sowjetrepublik »gewollt, dass Aserbaidschan unabhängig wird«.

Eskalation mit tödlichen Folgen

Die sowjetische Führung wollte diese Dynamik nicht sehen. Noch 1986 behauptete Gorbatschow, die »unverbrüchliche Völkerfreundschaft, die Achtung der nationalen Kultur und der nationalen Würde aller Völker« seien in der Sowjetunion »fest im Bewusstsein Dutzender Millionen Menschen verankert«.

Ein Wunsch, weit entfernt von der Wirklichkeit. Im Dezember 1986 protestierten in Kasachstan Tausende gegen einen Russen als Parteichef, bevor im Südkaukasus Konflikte zwischen Aserbaidschanern und Armeniern eskalierten. In Sumgait bei Baku massakrierte im Februar 1988 ein aserbaidschanischer Mob Armenier mit Knüppeln und Messern.

Der Sowjetstaat konnte seine Bürger nicht mehr schützen. Gorbatschow aber hielt sich fern, auch von weiteren Konflikten, die bald anderswo entbrannten: zwischen Georgiern und den Völkern der Südosseten und der Abchasen; in Transnistrien auf dem Gebiet der Republik Moldau; in Tschetschenien, wo im September 1991 bewaffnete Separatisten putschten.

Gleich nach Ende der Sowjetunion im Dezember 1991 eskalierten politische und ethnische Gegensätze zu Bürgerkriegen. Der Konflikt in der Region Karabach/Arzach zwischen Armenien und Aserbaidschan forderte mehr als 20.000 Tote. In Tadschikistan entbrannte 1992 ein langer Bürgerkrieg zwischen Islamisten und Anhängern eines weltlichen Staates und führte zu rund 100.000 Toten. Der erste Tschetschenienkrieg ab 1994, direkte Folge des sowjetischen Kontrollverlustes, kostete rund 80.000 Menschen das Leben.

Nostalgische Erinnerungen überdauern

Zahlreiche westliche Autoren loben die »erstaunliche Gewaltlosigkeit des Umbruchs«, so der Historiker Manfred Hildermeier in seiner kenntnisreichen Darstellung »Geschichte der Sowjetunion 1917 – 1991«. Doch für das Prädikat »gewaltlos« waren es viel zu viele Tote.

Nach dem Mauerfall entstanden auf einst sowjetischem Gebiet Grenzen, wo nie welche waren. Russlands Präsident Wladimir Putin bezeichnete 2005 den Zerfall der Sowjetunion als »größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts«. Damit meine er »vor allem den humanitären Aspekt«, sagte er 2019 der »Financial Times«: Auf einmal hätten sich 25 Millionen Russen »jenseits der Grenzen« befunden, eine »Tragödie«.

Eine Mehrheit der russischen Bürger sieht es ähnlich: Der Aussage »Wir waren ein einiges, starkes Land« stimmten 2020 zwei Drittel in einer Umfrage des unabhängigen Lewada-Centers in Moskau zu. Ähnlich positiv beurteilten sie drei Jahre zuvor das Wirken von Staatsgründer Lenin – der laut Putin durch Schaffung nationaler Republiken eine »Zeitbombe« unter dem Gebäude der Sowjetunion gelegt hatte. Lenin ist im Massenbewusstsein noch weit stärker verankert, als es vielen russischen Politikern und ihren westlichen Gegenspielern lieb sein kann.

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