
Unterwegs mit der Transsib 1903: In 17 Tagen um die halbe Welt
Unterwegs mit der Transsib 1903 In 17 Tagen um die halbe Welt
Berlin - Moskau - Peking 1903: Per Eisenbahn machte sich der deutsche Gesandte Alfons Mumm von Schwarzenstein im Mai 1903 von seinem Heimaturlaub zurück zu seinem Posten nach Peking auf. Es waren keine ruhigen Zeiten. Mumms Amtsvorgänger war während des "Boxer-Aufstands" 1900 von aufständischen Chinesen getötet worden, ein Expeditionskorps der europäischen Mächte hatte Peking eingenommen. Jetzt gab es wegen der russischen Präsenz in Asien neue Spannungen. Auf seiner Fahrt mit der neuen Transsib sah Mumm russische Soldatenlager nahe der Strecke. In wenigen Monaten würde es Krieg zwischen Japan und Russland geben. Nach seiner Ankunft sandte Mumm folgenden Reieebericht nach Berlin, der auch Kaiser Wilhelm II vorgelegt wurde.
Gesandter Alfons Mumm von Schwarzenstein an
Reichskanzler Bernhard Graf von Bülow
Peking, den 8. Juni 1903
Peking ist von Berlin nach den neuen Fahrplänen, giltig vom 1. Mai 1903 russischen Stils ab, in 17½ Tagen zu erreichen. Auf die Reise Berlin - Moskau fallen 2 Tage, von dort gelangt man nach Baikal in 7½ Tagen, von wo, nach der Überfahrt über den Baikalsee, die Reisenden durch einen neu eingeführten, wöchentlich 2 mal verkehrenden Expreßzug in 6 Tagen nach Ta schi tsiao gebracht werden. Von Ta schi tsiao führt eine Zweigbahn nach Yingkou, von wo auf der gegenüberliegenden Seite des Liao-ho die chinesische Staatsbahn zwei Tagereisen weit nach Peking führt...
Die Entfernung zwischen Berlin und Peking beträgt 11202 km. Der Fahrpreis beläuft sich (incl. Schlafwagen) auf 727,47 Mark. erster, auf 476,16 M. zweiter Klasse. ... Ich fuhr am 13. Mai d.J., neuen Stils, abends ½11 Uhr, Petersburger Zeit, somit unter den ersten Reisenden, welche die neue schnelle Verbindung benutzen konnten, von Moskau ab, begleitet von den beiden mir zugeteilten Herren, dem Legationssekretär von Radowitz und dem Attaché Freiherrn von Rotenhan. Auch hatte sich mir der österreichisch-ungarische Gesandte in Peking, Baron von Czikann, angeschlossen.
Ich hatte mich, da in Moskau noch 3 Tage vor der Abfahrt nichts Sicheres über den neuen Zug zu erfahren war, ganz auf das deutsche Reichskursbuch verlassen, welches schon in seiner Ausgabe vom 1. Mai die neue Verbindung enthielt, und das nach meinen bisherigen Erfahrungen auch im Auslande immer zuverlässig ist.
Kein Klavier im Luxuszug
In Bezug auf Bequemlichkeit fand ich mich in meinen Erwartungen nicht getäuscht. Der bekannte Luxuszug der internationalen Schlafwagengesellschaft "Trans-sibérien", aus 5 französischen Wagen bestehend, übertrifft an Komfort alle in Europa laufenden Luxuszüge, und der neue mandschurische Expreßzug steht demselben zum mindesten gleich.
Leider, oder vielleicht richtiger gesagt, glücklicherweise fehlte im Zuge das mir vom Fürsten Khilkov verheißene Klavier... Vorteilhaft ist für den Reisenden die Heizung der russischen Lokomotiven. Die 2 ersten Tage Naphtha, durch ganz Sibirien und einen großen Teil der Mandschurei Holz, sodaß wir wenig unter Kohlenstaub zu leiden hatten. Die Maschinen sind in Rußland gebaut und beinahe durchweg Schnellzugslokomotiven neuesten Modells.
Die ersten zwei Tage hatten wir schlechtes Wetter; schmutzige, armselige Dörfer wechselten mit spärlich bebauten Feldern, große, sterile Flächen, auf denen kümmerliches Vieh weidete, mit riesigen Waldterritorien, aus urwüchsigen Birken und Kiefern bestehend.
Am dritten Morgen aber erwachten wir inmitten eines Fichtenurwaldes; auf langer, schiefer Ebene erklomm der Zug den Ural und bei glänzendem Sonnenschein passierten wir die Wasserscheide, die geographische Grenze Europas und Asiens.
Mit dem Eisbrecher über den Baikalsee
In Tscheljabinsk, am asiatischen Fuße des Urals gelegen, war einstündiger Aufenthalt; dort herrschte auf dem Bahnhof ein reges Leben von Leuten verschiedenster Nationalität. Durch die Deportierung und freiwillige Auswanderung ist über Sibirien ein buntes Allerlei russischer Untertanen verstreut, vor allem natürlich Slawen, dann aber auch Finnen, Juden und nicht zum wenigsten Deutsche, welch' letztere einen großen Teil der sibirischen Bevölkerung ausmachen. Vor allem aber erregten unsere Aufmerksamkeit die eingesessenen Kirgisen, Buriaten, Ostjaken, Samojeden, Jakuten, wie denn überhaupt jeder Aufenthalt auf den Stationen zum Sammeln von Eindrücken benutzt wurde.
Am Morgen des 17. Mai befanden wir uns schon inmitten der sibirischen Steppe; auch hier Weideland mit verstreuten Birken. Zur jetzigen Jahreszeit brennt der Viehbesitzer sein Weideland an, damit das verdorrte und verholzte Gras, zu Asche verbrannt, Nahrung und Raum der neu aufsprießenden Heideflora gebe. Er ahnt aber wohl kaum, welche Schätze er damit seinen Nachkommen und seinem Lande raubt, denn zahlreiche Bäume, ja ganze Waldteile fallen dem Feuer zum Opfer, und das Klima der ungemessenen Strecken wird in Zukunft immer unwirtlicher werden durch die systematische Ausrottung aller Bäume, die ich bis in die Mandschurei hinein beobachten konnte.
Der Verkehr über den Baikalsee, den größten See Asiens, wird durch 2 Eisbrecher-Schraubendampfer "Angara" und "Baikal" vermittelt. Letztere nimmt Waggons auf, doch unterbleibt die ursprünglich beabsichtigte Überführung des "Trans-sibérien" vorläufig aus Gründen der Hygiene und Sicherheit, denn ein 8 Tage benutzter Wagen bedarf gründlicher Reinigung und Untersuchung.
In Myssowaja empfing uns somit ein neuer Expreßzug, aus 5, diesmal russischen Waggons bestehend, die eben aus der Fabrik kommend ihre Jungfernreise machten.
Im Zickzack auf den Khingan-Pass
Bald nach der Abfahrt erhielt ich einen hohen Eindruck von russischer Arbeitsleistung. Besonders frappiert der Umstand, daß an allen noch im Bau befindlichen Brücken, an den besserungsbedürftigen Stellen des Bahnkörpers, auf der ganzen über 4000 km. langen Strecke der mandschurischen Bahn zu gleicher Zeit gearbeitet wird. Es macht sich allerorten eine fieberhafte Tätigkeit bemerkbar, als wollte man zu bestimmter Zeit die Bahn vollendet haben...
Bei den mandschurischen Bahnbauten waren vielfach Chinesen tätig. Sie werden in langen Zügen von China in Güterwagen transportiert und siedeln sich an der Stelle, an der sie zu arbeiten haben, für kurze Zeit an.
Die mandschurische Ebene, die von der Bahn in südöstlicher Richtung durchquert wird, ist landschaftlich ganz besonders eigenartig. Denn kein Haus, kein Baum, kein Strauch unterbricht die ungemessenen Flächen, so weit der Horizont reicht. Ich hatte Gelegenheit, eine Strecke von 40 km. zu beobachten, die die Bahn schnureben und schnurgerade durchläuft, sodaß bald ein Übersehen der Linie ausgeschlossen war.
Große Schwierigkeiten bereitet die Überwindung des Khingan-Passes. Hier wird noch an einem Tunnel gebaut, während die Bahn provisorisch in Serpentinen ein Joch erklimmt. Auf der Ostseite ersteigt die Bahn die steile Höhe in Zickzacklinien, mit Kopfstationen an den Ecken, die Lokomotiven spannen jedesmal um und führen den Zug in umgekehrter Richtung weiter.
Was plant das russische Militär?
Hier ist infolge des Tunnelbaus eine wahre Stadt entstanden, ganze Berge von graugrünlichem Gneis sind aus der Höhlung geschafft, Dampfmaschinen zur Erzeugung der Elektrizität arbeiten Tag und Nacht, und der Wald der umliegenden Höhen ist auch hier der Zivilisation zum Opfer gefallen.
Am 13. Tage unserer Reise, dem 26. Mai, erreichten wir abends 6 Uhr Ta schi tsiao, mit nur ½stündiger Verspätung, und wurden von einem uns entgegengesandten russischen Offizier aufs freundlichste empfangen. Nach einstündiger Fahrt in einem Spezialwagen erreichten wir Yingkou (Nintschwang), empfangen von General Kontradowitsch, dem dortigen Leiter des russischen Verkehrswesens.
Der General betonte des öftern, sodaß sich die Absicht erkennen ließ, die Garnison bestehe aus 50 Mann. Nach Mitteilung des deutschen Konsularagenten ist jedoch Nintschwang von russischem Militär nicht geräumt. Seine, des Konsuls, Ansicht sei, Rußland wolle entweder Konzessionen gegen die Räumung bekommen oder Japan zum Krieg reizen, wofür der Umstand spreche, daß es durch den Besitz der Bahn zu energischem Vorgehen befähigt sei.
Die militärischen Baulichkeiten werden aus festem Material ausgeführt; die Besetzung der Bahn, zu der Rußland nach dem Vertrag vom Frühjahr 1902 berechtigt ist, scheint in der energischsten Weise durchgeführt. Die Stärke der Truppen dürfte auf eine andere Absicht als den Schutz der Bahn schließen lassen. In Harbin und Lianyang waren vom Zug aus größere Truppenlager zu sehen, die auf je eine Brigade mit Artillerie und Kavallerie zu schätzen sein dürften. In nächster Zeit soll dort eine größere Parade vom russischen Kriegsminister abgenommen werden, welche vielleicht die Konzentrierung maskieren soll.
Dschunken-Chaos auf dem Liao-ho
Am Morgen des 28. brachte uns die Dampfbarkasse des Generals an die Station der chinesischen Staatsbahn, welche am anderen Ufer des Liao-ho liegt. Die unzähligen Dschunken, die den Handel der großen Chinesenstadt vermitteln, auf dem gelbbräunlichen Fluß wirr durcheinander fahrend, oder in dem natürlichen Hafen, den hier die Flußmündung bildet, mit eingezogenen Segeln vor Anker liegend, Güter der verschiedensten Art löschend oder verfrachtend, machten einen merkwürdigen Eindruck.
Die chinesische Staatsbahn, von englischen Ingenieuren gebaut, ist von der russischen um vieles verschieden. Wer sich, wie wir, den Luxus eine Salonwagens leisten will, kann auch hier in Bezug auf Bequemlichkeit alle Ansprüche befriedigt finden. Die gewöhnlichen Wagen der 1. und 2. Klasse lassen im Verhältnis zu den großen russischen noch manches zu wünschen übrig, und ist der Reisende genötigt, mit Chinesen zusammenzufahren, allerdings solchen von besseren Ständen. Die 3. Klasse, aus offenen Güterwagen bestehend, führt lediglich einheimische Bevölkerung; es befanden sich in unserem Zuge wohl an die 500 Kulis. Der Betrieb ist flott, die Züge fahren bis 40 km. die Stunde, mit kurzen Aufenthalten auf den Stationen.
Abends 6 Uhr in Shanhaikwan angekommen und von einem Offizier des dortigen deutschen Militärpostens empfangen, stiegen wir im neuen, englisch geführten "Railway-Hotel" ab.
Eiserners Kreuz unterm Drachen
Wir begaben uns sofort in das deutsche Lager am Meere; in einem prächtigen Tempel ist dort das Kasino eingerichtet, während die Baracken etwas abseits liegen. Von der Veranda des Tempels genoß ich einen entzückenden Ausblick auf das Meer, auf die europäischen Forts, die Stadt mit dem dahinter sich auftürmenden Gebirge und die Shanhaikwaner Rarität: ein veritables Wäldchen.
Viel Spaß machte uns im Innern des Tempels die Zusammenstellung von europäischer und chinesischer Kultur; in einem großen Raume, der jetzigen Garnisonkirche, ist unter einem Drachen ein schwarz-weißes Kreuz gemalt, an einer mit chinesischen Arabesken verzierten Tür findet sich die Aufschrift "Kompagniekanzlei", unter chinesischen, heiligen Schriftzeichen eine Holztafel mit "Füße abstreifen". Doch haben unsere Offiziere ihre Ehre dareingesetzt, am Tempel möglichst wenig zu ändern und den ganzen bizarren Bau bis in den kleinsten Teil in seiner ursprünglichen Form zu erhalten.
Der nächste Tag brachte uns im selben Wagen an unser Reiseziel. Auf dieser Strecke läuft ein Speisewagen im Zug; durch weites, bis in den kleinsten Fleck ausgenutztes Land, an zahlreichen Dörfern und Gräbern vorbei führt die Bahn über Tongku nach Tientsin, woselbst sich am Bahnhof die deutsche Zivilgemeinde und General von Rohrscheidt mit den Offizieren der deutschen Garnison zu meinem Empfang einfanden.
Am Abend endlich tauchte von fern das Pekinger südliche Stadttor auf; der Himmeltempel erhob sich hinter grünenden Bäumen, die Tartarenmauer grüßte und als alte Bekannte und, von deutscher Militärmusik empfangen, verließ ich den Zug am ersehnten Reiseziel, nach 15½tägiger Fahrt von Moskau nach Peking.
A. v. Mumm
(Unter dem Bericht findet sich die handschritfliche Anmerkung Wilhelms II.: "Sehr hübsch geschrieben")
Dieser leicht gekürzte Text ist dem von Martin Kröger herausgegebenen Band "Die Karawane des Gesandten und andere Reiseberichte deutscher Diplomaten", Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2009, entnommen.