
US-Geheimprojekt Teststadt für den Feuersturm
Dugway liegt etwa 120 Kilometer südwestlich von Salt Lake City. Das militärische Sperrgebiet befindet sich inmitten einer Wüste aus Felsen und Sand und ist mit einer Fläche von 3200 Quadratkilometern größer als das Saarland. Diese Abgeschiedenheit hat einen guten Grund: Abgeschottet von der Außenwelt testet die Army in der kargen Steppe von Dugway chemische und biologische Kampfstoffe. Die Gegend, heißt es, sei schlimmer verseucht als das nukleare Testgelände im nahen Nevada.
Die wenigen Besucher, die Dugway seit seiner Errichtung 1942 dennoch besichtigen konnten, beschreiben die Einrichtung als einen "Irrgarten aus mysteriösen Testanlagen und Zielarealen". Legenden aus dem Kalten Krieg ranken sich ebenso um das Gelände genauso wie moderne Verschwörungstheorien. Und doch ist das bizarrste Relikt, das siebzig Jahre Waffentests in Dugway hinterlassen haben, ein schlichter Ziegelbau mit spitzem Dach und hohen Giebeln.
Das Gebäude selbst ist nichts Besonderes: ein zweistöckiger, roter Backsteinblock, anonym, kantig, bieder. Ein Haus wie man sie bis heute in Leipzig, Dresden oder Berlin findet. Doch was macht es dann in der Weite des amerikanischen Westens? Warum steht es zwischen verdorrtem Salbei und niedrigen Dornbüschen? Und warum wurde es von einem der bedeutendsten Architekten der Weimarer Republik entworfen? Zu einem einzigen Zweck: um an ihm die Bombardierung deutscher Arbeiterviertel zu üben.
Nur keine Bomben verschwenden
Als die Armee 1943 den zwei Jahre zuvor in die USA emigrierten jüdischen Architekten Erich Mendelsohn unter strenger Geheimhaltung damit beauftragte, Pläne für ein "German Village" in Utahs Wüste zu zeichnen, waren die Anforderungen klar: Benötigt wurde ein möglichst originalgetreues Abbild der deutschen Gebäude - bis hin zu den verwendeten Materialien. An dieser Geisterstadt wollte man proben, was manche Militärstrategen damals für eine kriegsentscheidende Mission hielten: die großflächige Zerstörung deutscher Städte und - damit verbunden - die Demoralisierung ihrer Einwohner.
Die US-Militärs waren unter Druck. Seit Amerika 1941 in den Krieg eingetreten war, hatten die Angriffe seiner Luftstreitkräfte auf Hitler-Deutschland noch nicht den durchschlagenden Erfolg gebracht, den Strategen prophezeit hatten. Die Operationen der 8. US-Luftflotte hatten bisher keine nachhaltigen Effekte gezeigt. Die Truppe war klein und ihre Reichweite eingeschränkt. Viel Zeit und Geld wurden in Übungen, Trainingsflüge und Kampfsimulationen investiert, ohne dass man dem Ziel, die Deutschen zu schwächen, entscheidend näher gekommen war.
Nicht nur amerikanische Militärberater, auch die britischen Bündnispartner drängten daher auf einen Strategiewechsel. Die Royal Air Force selbst hatte bereits 1942 damit begonnen, neben industriellen auch zivile Ziele in Deutschland anzugreifen. Auf Empfehlung von Churchills Berater Lord Cherwell sollten dabei vor allem Arbeitersiedlungen angeflogen werden, da um die Häuser der Mittelklasse zu viel freie Fläche wäre und auf diese Art "Bomben verschwendet" würden. Churchill persönlich warb bei Roosevelt um eine Intensivierung der Luftangriffe auf deutsche Siedlungen. So wurde in Dugway mit dem Bau des "German Village" begonnen.
Ein wichtiger Unterstützer der amerikanischen Streitkräfte war dabei die Ölindustrie. Die Planung des Waffentestdorfes war Standard Oil übertragen worden, die zuvor bereits den Auftrag für die Entwicklung neuer Brandbomben erhalten hatte. Den eigentlichen Arbeiten, ging eine umfangreiche Forschungsphase voraus. Techniker und Ingenieure versuchten, möglichst viel Information über die Bauart deutscher Häuser zusammenzutragen. In entscheidenden Punkten griff man dabei auf das Fachwissen von Emigranten zurück - insbesondere was heikle Bereiche wie etwa die Konstruktion der Dachstühle betraf: "Um verlässliche Daten zu erhalten, führte ein ehemals führender Architekt Deutschlands eine Bestandsaufnahme von sechzehn großen deutschen Städten durch", hielt Standard Oil in einem vertraulichen Dokument fest.
Wohnungen wie in Wedding
Neben Erich Mendelsohn, der mit dem "führenden" Experten wohl gemeint war, war es vor allem der in Frankfurt an der Oder geborene Ingenieur und Architekt Konrad Wachsmann, der die Planer von Standard Oil beim Bau des "German Village" beriet. Seine Arbeit "Holzbau Technik und Gestaltung" aus dem Jahr 1930 machte ihn zum Fachmann, was die Wahl geeigneter Baumaterialien anging. So riet er etwa als Äquivalent für die in Deutschland verwendete Kiefer die vor allem im Süden der USA wachsende "Southern Yellow Pine" zu verwenden.
Doch nicht nur was die Bauweise anging, auch was die Innenräume betraf, strebte man nach größtmöglichem Realismus. Schließlich konnte auch die Einrichtung eines Hauses dessen Brandverhalten entscheidend beeinflussen. Um höchste Authentizität zu erreichen heuerte das Projektteam daher die Set-Designer der RKO-Studios in Hollywood an. Diese hatten kurz zuvor mit dem Film "Hitler's Children" einen Hit gelandet und galten als Fachmänner für deutsches Wohnen. Unter ihrer Anleitung sollten die Bauten des "German Village" mit Betten, Schränken und Kästen angefüllt werden, wie sie damals in jedem Arbeiterblock in Berlin-Wedding oder Pankow zu finden gewesen wären - um anschließend alles in Schutt und Asche zu legen.
Im Frühjahr 1943 war es soweit: Unterstützt von Häftlingen des Utah State Prison, die in großer Zahl als Arbeitskräfte verpflichtet worden waren, zog eine lokale Baufirma drei Blocks in die Höhe, die in jeder Hinsicht ihren Vorbildern im weit entfernten Deutschland entsprachen. Die Hälfte der Gebäude des "German Village" imitierte Arbeiterwohnungen des Ruhrgebiets, während sich die andere Hälfte an norddeutscher Bauweise orientierten. Zwischen Mai und September 1943 sollten sie mindestens dreimal bis auf die Grundmauern niedergebombt und wiedererrichtet werden. Die Kosten, die dadurch entstanden, beliefen sich auf insgesamt eine Million Dollar.
Feuerstürme mit "hurrikanähnlichem Sog"
Es sei unwahrscheinlich, dass Mendelsohn oder Wachsmann je selbst in Dugway waren, glauben amerikanische Historiker. Ihre Aufgabe beschränkte sich auf Planung und Beratung, auf das Herstellen absoluter Ähnlichkeit. Waren sich die Architekten bewusst, woran sie beteiligt waren? Im Nachlass Mendelsohns finden sich keinerlei Hinweise darauf, was seine Motivation oder wie seine Haltung zu dem Projekt gewesen sein mochte. Ganz anders bei Antonin Raymond, dem tschechischstämmigen Architekten, der zur gleichen Zeit in unmittelbarer Nähe an der Planung eines "Japanischen Dorfes" als Testanlage für den Pazifikkrieg arbeitete. Dieser schrieb später in seiner Autobiografie, er sei nicht stolz gewesen auf das, was er in Dugway geschaffen habe.
Über 97 Prozent der Brandbomben, die die amerikanischen Luftstreitkräfte in den letzten eineinhalb Kriegsjahren über Deutschland abwarfen, waren vom Typ AN-M50, der zuvor in Dugway getestet worden war. Die Verwüstung, die dieser neue Waffentyp anrichtete, war gewaltig. Eine amerikanische Kommission von Militärangehörigen, Feuerwehrleuten und Versicherungsexperten, die nach Kriegsende Bilanz zog, stellte fest: "Es kam zu Feuerstürmen; die großflächige Feuer erzeugten einen gewaltigen, hurrikanähnlichen Sog, der andere Feuer fütterte und alle Versuche, die Lage unter Kontrolle zu bringen, zum Scheitern verurteilte." Der Luftkrieg in Deutschland, schätzten die Experten, habe 305.000 Menschen das Leben gekostet, 780.000 verwundet und 7,5 Millionen Obdachlose zurückgelassen.
Von dem "German Village" selbst, das die Wucht und den Schrecken dieser neuen Art der Kriegsführung als erstes zu spüren bekommen hatte, blieb nach dem Krieg nur ein einziges Gebäude übrig - das sogenannte Building 8100. In den fünfziger Jahren wurde es genutzt, um biologische und chemische Waffen zu testen. Auch in den dann folgenden Jahrzehnten wurde es gelegentlich für Experimente verwendet, sodass noch 1994 eines der erhaltenen Appartements wegen Kontaminierung versiegelt werden musste. Seitdem geriet das langsam verfallende Bauwerk immer mehr in Vergessenheit, ein einsames, deutsches Wohnhaus in der weiten Ebene Utahs.