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Radiosender Rias: "Eine freie Stimme der freien Welt"

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US-Sender Rias Berlin Die gefährliche Stimme des Klassenfeindes

Schlager, Witze und Warnungen vor Stasi-Agenten - im Kalten Krieg hörten die meisten Ostdeutschen einen Sender aus West-Berlin. Im Rias erfuhren sie, was der DDR-Rundfunk niemals senden durfte.

Die vom Gericht vorgesehene Strafe "lebenslänglich" schien dem SED-Chef zu milde. "Vorschlag: Todesurteil", ergänzte Walter Ulbricht handschriftlich eine Hausmitteilung des Zentralkomitees. Sein Wille geschah: Beim Prozess wenig später wurde der Hauptangeklagte zur Höchststrafe verurteilt und am 14. September 1955 um zwei Uhr morgens in der Untersuchungshaftanstalt I in Dresden per Guillotine hingerichtet.

Das grausame Urteil traf den Ost-Berliner Joachim Wiebach, 29, Dekorateur bei der staatlichen Werbe- und Anzeigengesellschaft Dewag. Wiebach war über die Sektorengrenze zum Sender Rias in West-Berlin gefahren, um Eintrittskarten für die populäre Hans-Rosenthal-Rateshow "Wer fragt, gewinnt" zu besorgen. Weil es gegen Vorlage des DDR-Ausweises höchstens zwei Einlasskarten gab, hatte er Kollegen mitgebracht, um Tickets für die gesamte Brigade zu ergattern.

Das wurde Wiebach später als "Agentenzuführung für den Westen" angelastet. Zudem warf man ihm vor, er habe dem Rias und dem Bundesamt für Verfassungsschutz interne Informationen aus seinem Betrieb gegeben und sei von den Amerikanern zur Militärspionage angeworben worden.

Entscheidend für das DDR-Regime war die Rolle des Rias. Der "Rundfunk im amerikanischen Sektor" war nach dem Krieg in den Vierziger- und Fünfzigerjahren in der Ostzone und späteren DDR so populär, dass bestimmte Rias-Sendungen wie Straßenfeger wirkten; dabei war Rias hören offiziell verpönt und später sogar verboten.

Schlager als "Musikfalle"

Am 27. Juni 1955 erklärte das Oberste Gericht der DDR den Rias zu einer "Spionage-, Sabotage- und Verbrecherorganisation". Funktionäre warnten, Unterhaltungssendungen wie "Wer fragt, gewinnt" oder "Schlager der Woche" seien nur eine "Musikfalle". Wer sich mit dem Rias einlässt, riskiert sein Leben - das war die Botschaft im Schauprozess gegen den unglücklichen Joachim Wiebach. "Unser Volk", schrieb das Parteiblatt "Neues Deutschland", "muss aus diesem Prozeß die Lehre ziehen, die Hetzsendungen des Rias zu verabscheuen".

Doch statt Abscheu erregten Rias-Sendungen Neugier und Begeisterung. Als KInd und Jugendlicher bin ich in Ost-Berlin aufgewachsen und oft in den Westen gefahren, denn bis zum Mauerbau 1961 war Berlin eine offene Stadt. Bis heute reden in Ostdeutschland aufgewachsene Menschen meiner Generation über das Radioprogramm aus dem Westen. So wie ich als Kind und Jugendlicher in Ost-Berlin hörten die meisten montags die "Schlager der Woche". Am nächsten Tag in der Schule summten dann viele die Spitzennummer des Abends, etwa den "Mäcki-Boogie" , gespielt vom Rias-Tanzorchester mit dem Gesangsduo Rita Paul und Bully Buhlan.

Immer gern imitiert wird bei Wiedersehen die Eröffnung einer SED-Versammlung durch den Schauspieler Walter Gross "Uuuunnnnd damit liebe Jenossinnen und Jenossen..."; der Komiker verkörperte im Rias-Kabarett "Die Insulaner" einen halbgebildeten, dümmlich-berlinernden Parteisekretär. Haben wir gelacht! Spaß mit dem Klassenfeind hatten damals Alt und Jung, kleine Radio-Hörer liebten die Kinderstunde mit "Onkel Tobias vom Rias".

Die Unterhaltungssendungen bildeten den Rahmen für ausführliche politische Berichterstattung. Sie machte bei den öffentlich-rechtlichen Sendern in den Fünfzigerjahren nur 15 Prozent des Programms aus, beim Rias dagegen 34 Prozent. Rias-Journalist Klaus Bölling, der später als Regierungssprecher von Helmut Schmidt bekannt wurde, sah die Aufgabe des Senders darin, "der platten Propaganda der kommunistischen Sender in Ost-Berlin eine wahrheitsgemäße, dokumentarische Journalistik entgegenzusetzen". Den Schwerpunkt bildeten Berichte und Kommentare über Vorgänge in der "Zone".

Käuzchen-Rufe kündigen Warnmeldungen an

Der Rias behandelte Themen, über die man nur mit Freunden hinter vorgehaltener Hand flüsterte. So lief mir jedes Mal ein Schauer über den Rücken, wenn Käuzchen-Rufe Warnmeldungen über Spitzel ankündigten: "Achtung Magdeburg, Walter X aus dem Volkseigenen Betrieb Y ist dringend verdächtig, als Informant für das Ministerium für Staatssicherheit zu arbeiten. Achtung Senftenberg..."

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Radiosender Rias: "Eine freie Stimme der freien Welt"

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Der Rias brachte, was die DDR unter allen Umständen verschweigen wollte. Als Bauarbeiter in der Berliner Stalin-Allee, gefeiert als "Helden der Arbeit", am 16. Juni 1953 gegen Normerhöhungen streikten und zum Haus der Ministerien in der Leipziger Straße zogen, machte der Rias diese Sensation umgehend bis in den hintersten Winkel der DDR bekannt. Die Protestaktion bildete den Auftakt zum Aufstand vom 17. Juni.

Als ich an diesem Tag mit einem Schulfreund durch Ost-Berlin radelte, skandierten Streikende "Spitzbart, Bauch und Brille sind nicht des Volkes Wille" - der Spitzbart war SED-Chef Walter Ulbricht, Präsident Wilhelm Pieck hatte einen Bauch, Ministerpräsident Otto Grotewohl trug eine Brille. Vor geplünderten Parteibüros verbrannten Bürger rote Fahnen und Bilder von Funktionären.

In Mietshäusern hatten Leute ihre Radiogeräte auf die Fensterbank gestellt und volle Lautstärke auf Rias geschaltet - der sonst ängstlich-geheim gehörte "Feindsender" als öffentliche Beschallung der Massen. Auch das war eine Demonstration während der volksfestartigen Stimmung, die freilich kippte, als am Nachmittag sowjetische Panzer einrollten und der Aufstand zusammenbrach.

Aufstand ja - Krieg nein

Das DDR-Regime behauptete stets, der 17. Juni 1953 sei das Werk westlicher Geheimdienste und des Rias gewesen. In Wahrheit löste die Unzufriedenheit über die Verhältnisse die Unruhen aus. Doch fungierte der Rias zweifellos "als Katalysator des Aufstandes", wie Chefredakteur Egon Bahr bekannte. Der spätere Architekt der sozialliberalen Ost-Politik unter Willy Brandt gab den Streikenden die Möglichkeit, über den Rias Informationen zu verbreiten, etwa über Treffpunkte der Aufständischen.

Freilich bremsten die Amerikaner Heißsporne in der Redaktion. Der Sender solle sich "auf bloße Berichterstattung beschränken" und Meldungen "sehr vorsichtig formulieren", ohne das Wort "Generalstreik", verfügte die US-Sendeleitung auf Anweisung aus Washington. Wie später beim Mauerbau 1961 wollten die USA verhindern, dass die Ereignisse in Deutschland die fragile Koexistenz der Machtblöcke im Kalten Krieg gefährdete.

Die US-Militäradministration hatte den Rias unmittelbar nach Kriegsende in der Vier-Sektoren-Stadt Berlin gegründet. Die selbsternannte "Freie Stimme der freien Welt" wurde aus den USA finanziert; die Programmgestaltung lag in deutschen Händen. Der Sender war Teil der Ost-West-Auseinandersetzung im Äther.

Dabei profitierte der Rias von der Flüchtlingswelle aus der DDR - von 1949 bis 1961 kamen 2,7 Millionen Menschen nach West-Berlin. Im Notaufnahmelager Marienfelde berichteten wöchentlich Tausende von Zwangsmaßnahmen, Verhaftungen, Wirtschaftsproblemen in der DDR. Zudem gingen DDR-Bürger bei West-Berlin-Besuchen zum Rias und lieferten Stimmungsberichte über den Ost-Alltag.

Pfeiftöne und Knattergeräusche

Solche Informationen sendete der Rias, den die DDR deshalb von Anfang an als Propaganda-Instrument des Westens bekämpfte. Es gab Kampagnen gegen "Rias-Enten", angebliche Lügenmeldungen. Schulkinder lernten den Spruch "Enten haben kurze Beine, Rias hat besonders kleine". Sie bastelten aus Papier Rias-Enten, die sie zu Hause neben das Radio stellen sollten.

Wirkungsvoller als solche Mätzchen waren Störsender, mit denen die DDR Rias-Programme unhörbar machen wollte. Pfeiftöne und Knattergeräusche hemmten den Empfang - bis der Sender, etwa an der Zonengrenze bei Hof, weitere Antennen in Betrieb nahm.

Nach dem Juni-Aufstand von 1953 beauftragte die SED-Führung die Stasi, "konzentrierte Schläge" gegen die "westdeutschen und westberliner Spionage- und Diversionsorganisationen" auszuführen. Der Rias war ein Hauptziel. Agenten spähten das Funkhaus aus und sammelten Informationen über Mitarbeiter. Besonders interessierte sich die Stasi für Ost-Bürger, die Kontakt zum Sender aufnahmen. Sie sollten als "Rias-Agenten" entlarvt und vor Gericht gestellt werden. Der Prozess mit dem Todesurteil von 1955 war der Höhepunkt im Kampf der DDR gegen den Sender.

Mit der Grenzschließung von 1961 versiegte für den Rias eine unerschöpfliche Quelle von Informationen. Drei Jahrzehnte später verhallte mit dem Ende des Kalten Krieges auch der Wettkampf der Systeme im Äther.

Zwar beschlossen die Amerikaner noch 1990, im Jahr der deutschen Wiedervereinigung, den Rias-Fortbestand, um in Mitteleuropa weiterhin eine "wichtige Informationsquelle für 16 Millionen Ostdeutsche über Demokratie und die USA" zu erhalten. Doch am 31. Dezember 1993 um 23.55 Uhr verkündete der letzte Programmdirektor den endgültigen Sendeschluss. Der Rias hatte seine Mission erfüllt.

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