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Das Geheimnis der Nachtigallenschlucht: Vergessener Schatz

Foto: Thomas Kemnitz

Vergessene Orte Das Milliardengrab

Geheimprojekt der Nazis, Bunker der NVA, Friedhof für eine Währung: Südlich von Halberstadt befindet sich ein riesiges Untertage-Labyrinth mit einer bewegten Geschichte. Dennoch geriet die Anlage lange in Vergessenheit - bis plötzlich Tausende muffig riechende Ostmark-Scheine auftauchten.

Plötzlich tauchten sie im Sommer 2001 wieder auf, Tausende der schon fast vergessenen DDR-Geldscheine mit dem Konterfei von Marx und Engels. Im Internet wurden sie massenhaft zum Verkauf angeboten. Sogar 200- und 500-Mark-Scheine waren darunter, die die DDR zwar gedruckt, aber nie in Umlauf gebracht hatte. Es schien, als feiere Honeckers untergegangener Staat gut zehn Jahre nach der Wende ein bizarres Comeback.

Noch merkwürdiger: Etliche der Scheine rochen ziemlich muffig. Kein Wunder, denn die Scheine stammten aus einer Art Währungsfriedhof. Einbrecher hatten das geheime Versteck geknackt, in dem die DDR 1990 ihr inzwischen wertlos gewordenes Papiergeld verscharrt hatte. Die Räuber waren in eine Grabkammer der Geldscheine eingedrungen, ein kilometerlanges, unterirdisches Labyrinth aus verlassenen, dunklen Stollen in den Thekenbergen südlich von Halberstadt.

Dorthin hatten NVA-Soldaten rund 620 Millionen Banknoten gebracht und hinter dicken Stahlbeton eingemauert, nachdem mit der Währungsunion im Juli 1990 die Ostwährung ausgedient hatte. In den Stollen sollte das Geld, versetzt mit Kies und Sand, langsam verrotten: ein Milliardengrab.

Berührende, brutale, groteske Geschichten

Der Ort, an dem dieses einmalige Experiment zur Vernichtung einer ganzen Währung stattfand, repräsentiert auch ein facettenreiches Stück gesamtdeutscher Geschichte: Es ist ein Ort, der mehrmals Namen und Funktion wechselte, mal hieß er geheimnisvoll "Malachit", dann wieder technisch "Komplexlager 12". Menschen wie der Historiker Arno Lustiger oder der Sicherheitsexperte Gerd Kugler können völlig unterschiedliche Geschichten über diesen besonderen Platz erzählen - berührende und brutale, absurde und groteske.

"Es war die absolute Hölle", sagt etwa Arno Lustiger über die harte Arbeit in den Stollen, "die Steigerung von allem, was ich jemals erlebt hatte." Und das sagt einer, der sich als Jude schon zuvor jahrelang vor den Nazis verstecken musste, seinen Vater in Auschwitz verlor, in mehreren Konzentrationslagern war und im Januar 1945 von einem Außenlager von Auschwitz auf einen Todesmarsch Richtung Westen getrieben wurde.

Arno Lustiger überlebte den Gewaltmarsch irgendwie und kam im Frühjahr 1945 ins KZ Langenstein-Zwieberge bei Halberstadt. Die meisten der Häftlinge dort mussten in der Nähe für das Geheimprojekt "Malachit" schuften. Hinter diesem Decknamen verbarg sich der Plan der Nazis, eine riesige Anlage unter Tage zu errichten, um geschützt vor alliierten Bombenangriffen Zubehör für Flugzeugturbinen produzieren zu können.

Rettung in der Werkzeugkiste

"Die Arbeiter starben wie die Fliegen", erinnert sich Lustiger, heute ein renommierter Historiker. "Die durchschnittliche Lebenserwartung im Lager war drei bis vier Wochen." Ohne Schutzmasken und Helme mussten die Internierten das Gestein aus den Felswänden sprengen. Um fünf Uhr morgens war Appell, danach gab es die einzige Mahlzeit für den ganzen Tag, eine Zwölf-Stunden-Schicht, die binnen eines Jahres etwa 1900 Arbeiter dahinraffte - Vernichtung durch Arbeit. Denn längst war klar, dass der Krieg verloren war und in "Malachit" nie ein einziges Flugzeugteil produziert werden würde.

Auch Lustiger wurde immer schwächer, er litt an der Ruhr, konnte sich einmal kaum noch zum Stollen schleppen. Sein Leben, ist er sich sicher, verdankt er in dieser Situation einem deutschen Vorarbeiter. "Mit einer Geste bedeutete er mir zu folgen", berichtet der heute 86-Jährige. Etwas abseits stand eine Werkzeugskiste, etwa zwei Meter mal einen Meter groß. Dort sollte Lustiger sich verstecken. Den ganzen Tag blieb er in dieser Kiste, und es sagt viel aus über die damaligen Arbeitsbedingungen, wenn dieses stundenlange Ausharren in einem engen, dunklen Sarg für seinen Körper eine Erholung bedeutete.

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Wenige Tage später wurde das KZ Langenstein-Zwieberge aufgelöst. Lustiger trat seinen zweiten Todesmarsch an, konnte fliehen, wurde von einem Feldpolizisten entdeckt, der auf ihn schoss, ihn aber verfehlte. "Vielleicht war es Absicht", sagt er heute. Die Stollen jedenfalls ließen ihn auch nach 1945 nicht mehr los. In den achtziger Jahren wollte Lustiger den Ort seiner "schlimmsten Tage" noch einmal sehen. Inzwischen trennte der Eiserne Vorhang Deutschland, Lustiger lebte im Westen, "Malachit" und die KZ-Gedenkstätte Langenstein lagen in der DDR.

Gerüstet für den Krieg in Europa

Für den damals schon bekannten Historiker wurde die Reise in seine Vergangenheit zum entwürdigenden Kampf mit der DDR-Bürokratie. Um ein Visum zu bekommen, musst er den Behörden erst beweisen, dass er dort überhaupt Häftling gewesen war. Das gelang schließlich mit Hilfe der Gedenkstätte, Lustiger durfte einreisen, der Leiter der Gedenkstätte wünschte sich eine modische Levis-Jeans als Gastgeschenk. Irgendwann stand der einstige KZ-Häftling wieder vor dem großen Stolleneingang, bewacht von zwei uniformierten NVA-Soldaten. "Da verteidigen wir den Frieden", wurde ihm mitgeteilt. Für Lustiger klang das bizarr - eine Militäranlage mit dieser Vergangenheit zu einem Ort des Friedens zu verharmlosen.

Denn aus "Malachit" war damals schon längst das "Komplexlager 12" geworden, der flächenmäßig größte NVA-Bunker der DDR. Schon in den sechziger Jahren hatten Experten die Anlage untersucht. Vergeblich fahndete man hier nach versteckten Kunstschätzen, die die Nazis geraubt hatten. Zwischenzeitlich gab es Überlegungen, aus dem Stollensystem ein gigantisches Großkühlhaus zu machen, doch dann fand das Militär Gefallen an den dreizehn Kilometer Stollen, die KZ-Zwangsarbeiter in den Berg gehauen hatten.

Und wieder wurde der Ort für den Krieg hochgerüstet: Die Stollen wurden restauriert, teilweise ausgebaut, asphaltiert und beleuchtet, weitere Bahnschienen wurden verlegt, eine Verladerampe von 500 Metern Länge entstand. Für den Kriegsfall lagerten hier 5500 Tonnen Munition und 3300 Tonnen Kleidung; es gab eine moderne Kommandozentrale, große Schlafräume, Filteranlagen, ein Wasserwerk und eine Entgiftungsanlage.

Das Werk von Profis

Doch der Krieg blieb aus, 1989 lagen sich die beiden Deutschlands freudetrunken in den Armen. Das "Komplexlager 12" hatte sich überlebt, ging erst in den Besitz der Bundeswehr, 1995 dann in Privateigentum über. Zu diesem Zeitpunkt beginnt die grotesk anmutende Geschichte des Sicherheitsexperten Gerd Kugler.

Kugler arbeitete damals als oberster Sicherheitschef der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW). Die KfW war seit 1994 Rechtsnachfolger der Staatsbank der DDR - und erbte auch die Berge wertloser DDR-Banknoten, die nun schon seit vier Jahren in den Stollen lagerten. Ganz geheuer war Kugler das nie, er ahnte, dass der DDR-Schatz zumindest in Halberstadt ein offenes Geheimnis sein dürfte.

Als die muffig riechenden DDR-Banknoten auftauchten, nahmen seine Sorgen zu. "Das war ein Alarmzeichen", erinnert er sich, "auch wenn ich mir kaum vorstellen konnte, dass jemand heimlich im Stockdunklen eine zwei Meter dicke Stahlbetonwand aufbrechen kann." Doch als Kugler das Geldversteck inspizierte, klaffte ein Loch in der Betonmauer - und das in fünf Metern Höhe, dort, wo die Wand vermutlich am schwächsten war. "So etwas macht man nicht mit Hammer und Meißel", sagt er, "das sah nach Profis aus."

Bäuchlings über Geldberge

Sofort machte er sich auf Spurensuche, robbte mit Taschenlampen bäuchlings durch das Loch und fand sich wie Dagobert Duck auf Bergen von Geld wieder: 3000 Tonnen Papier, vermischt mit 15.000 Tonnen Sand und Kies. Die Hügel mit der DDR-Kohle waren so hoch, dass Kugler nur kriechen konnte. Zum ersten Mal sah er nun selbst das vergrabene Geld und war ziemlich überrascht: Viele Scheine waren noch in einem erstaunlich guten Zustand, manche gar druckfrisch und originalverpackt.

Damit war klar: Der Plan der DDR zur Geldvernichtung war grandios gescheitert - und die KfW hatte nun ein Riesenproblem: "Uns war klar, dass wir den Mythos des vergrabenen Schatzes ein für alle Mal beenden mussten", sagt Kugler, "sonst würden wir immer wieder Abenteurer anlocken." Denn das gestohlene Geld erzielte bei Sammlern ordentliche Preise - und machte damit den Wert der DDR-Banknoten kaputt, die die KfW auf zwölf offiziellen Auktionen nach der Wende versteigert hatte.

Zwei Einbrecher ertappte Kuglers Team in den Stollen auf frischer Tat, als sie mit Rucksäcken voller Geld aus dem Stollen schlichen - sie wurden später zu mehrmonatigen Bewährungsstrafen verurteilt. Vermutlich waren sie nicht die Einzigen, die an dem spektakulären Einbruch beteiligt waren, dazu war der logistische Aufwand zu groß, doch mutmaßliche Hintermänner wurden nie aufspürt.

Ein Magnet für Kriminelle

Mit Hochdruck begann die KfW im Jahr 2002, das Geld zu entsorgen - und ließ sich die monatelange Aktion eine Million Euro kosten. Die Betonwand wurde niedergerissen, Radlader schoben das Geld zusammen, mit einem Trommelsieb wurden die Scheine vom Sand getrennt und fielen über Förderbänder auf einen riesigen Geldhaufen. "Ein skurriler Anblick, das Geld so rieseln zu sehen", erinnert sich Kugler. Er fand besonders paradox, dass die DDR-Währung damit sogar die D-Mark überlebt hatte, die bereits vom Euro abgelöst worden war.

Allerdings nicht lange. Im Sommer 2002 wurden die DDR-Scheine in einer Müllverbrennungslage vernichtet. Doch auch danach geriet der Bergstollen nicht aus den Schlagzeilen: Pläne, die historische Stätte touristisch zu vermarkten oder eine Bunkerdisco zu eröffnen, scheiterten. Stattdessen lockte die Anlage erneut Kriminelle an: 2006 entsorgten fünf Deutsche und ein Niederländer hier illegal 5000 Tonnen Müll.

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