
Kryptisch: Der Schlüssel zu den Geheimnissen
Verschlüsselungstechnologie Die Geheimnisse der Enigma
Als der Kessel um Stalingrad geschlossen wurde, hatte der Funker Hermann Kleditz Glück: Er war draußen. Die letzte mit der berühmten Verschlüsselungsmaschine Enigma verschlüsselte Funknachricht empfing seine Einheit von deutschen Kameraden aus dem Inneren des Kessels. An ihren Wortlaut erinnert er sich noch genau: "Kaempfen auf engstem Kellerraum mit Stab und Ordonanzen X Feind greift mit Flammenwerfern an X Es lebe Deutschland." Danach kam noch eine Nachricht im Klartext: "Gruesst meine Eltern."
Enigma war das komplizierteste Verschlüsselungssystem, das die Deutschen im Zweiten Weltkrieg benutzten. Es galt als völlig sicher und wurde deshalb für Nachrichten in die Heimat benutzt. Für die Kommunikation per Morsefunk mit den Truppen an der Front verwendeten die Soldaten ein weit einfacheres System: den Doppelkastenschlüssel. Hermann Kleditz, Jahrgang 1921, und Jürgen Reinhold, Jahrgang 1923, gehören zu den wenigen Zeitzeugen, die heute noch über ihre Arbeit mit der Enigma berichten können.
Kleditz wurde 1939 bei der Wehrmacht als Fernsprecher und dann als Funker ausgebildet. Er leistete seinen Dienst zunächst in Frankreich bei einer Infanteriedivision, mit der es 1941 in den Osten ging. Innerhalb der Division arbeitete man nur mit dem Doppelkastenschlüssel. Im Frühjahr 1942 wurde er zu einer Aufklärungseinheit versetzt, die den verschlüsselten Morsefunk der Sowjets abhörte und auswertete. Diese Einheit zog in der Folgezeit - den besten Horchmöglichkeiten folgend - durch ganz Russland bis nach Stalingrad.
Die geheime Arbeit der Kollegen
Kleditz gehörte zu den Funkern. Die Auswertung der abgefangenen Sprüche übernahmen Spezialisten (meist Mathematiker) derselben Einheit. Zu diesen hatte er jedoch kaum Kontakt und erfuhr nichts über deren geheime Arbeit. Bis heute gibt es über die Arbeit der deutschen Dechiffrier-Spezialisten im Zweiten Weltkrieg nur sehr bruchstückhafte Informationen.

Kryptisch: Der Schlüssel zu den Geheimnissen
Immerhin konnte Kleditz ab und zu darauf schließen, was seine dechiffrierenden Kollegen herausgefunden hatten. Als Funker hatte er nämlich die Aufgabe, deren Berichte an den Armeestab zu morsen. Damit diese streng vertraulichen Daten nicht in Feindeshand gelangten, wurden sie verschlüsselt - mit der Enigma. Wie Kleditz sich erinnert, waren für das Verschlüsseln stets drei Personen zuständig: Einer tippte den jeweiligen Buchstaben in die Enigma ein, der zweite las das Ergebnis der Verschlüsselung vor, und der dritte schrieb es auf.
Damit die verschlüsselte Übertragung korrekt funktionierte, musste der Funker jeweils den richtigen Schlüssel einstellen (dieser bestand aus einer Zahlenkombination). Zu diesem Zweck hatte jede Truppe eine Schlüsselliste mit dabei, von der ein Offizier jeweils ein Stück abschnitt, um dieses dem Funker auszuhändigen. Ein Schlüssel galt jeweils 24 Stunden.
Der Feind hörte mit
Wir waren davon überzeugt, dass die Enigma nicht zu knacken war, erzählt Jürgen Reinhold, der in einer anderen Einheit einer dieser Spezialisten war. Er wurde 1941 eingezogen und kam zu einer Panzernachrichtenabteilung, für die er neun Monate ausgebildet wurde. Dabei lernte er das Morsen und wurde in der Nutzung des Doppelkastenschlüssels sowie der Enigma ausgebildet.
Die Deutschen setzten mehrere zehntausend Exemplare dieses Geräts im Zweiten Weltkrieg ein - nicht wissend, dass die Briten große Teile des Enigma-Funkverkehrs abhörten und entschlüsseln konnten. Winston Churchill ließ für diesen Zweck eigens einen Industriebetrieb mit mehreren Tausend Beschäftigten aufbauen, die mit speziellen Dechiffrier-Maschinen deutsche Verschlüsselungen lösten.
Davon hatte Jürgen Reinhold keine Ahnung. Für die oft strategisch wichtigen Nachrichten, die die größeren Stützpunkte in Richtung Deutschland funkten, war Enigma die erste Wahl. Nur wenn eine solche ausfiel - was durchaus vorkam - griff man auf das weit simplere Verfahren des Doppelkastenschlüssels zurück. Wie es funktionierte, erzählt Reinhold: Man musste die senkrechten Zweiergruppen im A- und B-Kasten suchen, ein Viereck bilden, ein weiteres Viereck bilden und das Ergebnis in Fünfergruppen zum Morsen eintragen.
Zu groß fürs Marschgepäck
Die Arbeitsteilung zwischen Enigma und Doppelkastenschlüssel ist leicht einzusehen: Die schreibmaschinengroße Enigma war für das Marschgepäck zu sperrig und daher für Soldaten, die an der Front kämpften oder zu Fuß unterwegs waren, ungeeignet. Ein Papier-und-Bleistift-Verfahren wie der Doppelkastenschlüssel war für solche Truppenteile die bessere Alternative. Ohnehin waren Frontnachrichten oft schon nach wenigen Stunden veraltet, und so schnell konnten selbst die besten Dechiffrierer des Feindes nicht arbeiten.
Im November 1942 stand Kleditzs Einheit mit den Kameraden schließlich in Sety bei Stalingrad. Dort erhielt der Funktrupp Besuch von einer Gruppe rumänischer Nachrichtenoffiziere. Diese waren von der Enigma besonders angetan. Ah, la machina dechifrata! sagten sie bewundernd und waren offensichtlich von der hohen Sicherheit des Geräts überzeugt. Wie die Deutschen ahnten sie nicht, dass die Briten die Enigma längst geknackt hatten.
Kurz darauf griffen die Sowjets unerwartet an. Kleditzs Einheit wurde versprengt und sammelte sich erst Tage später in Teilen wieder. Inzwischen war der Kessel um Stalingrad geschlossen. Einige Zeit später musste auch Kleditzs Einheit die Überlegenheit der vorrückenden Sowjets anerkennen und den Rückzug fortsetzen. In der Tschechoslowakei sammelte sich die versprengte Gruppe wieder. Am 9. Mai 1945 zerstörten Kleditz und seine Kameraden ihre Enigma. Schon während der Ausbildung hatte man den Funkern eingeimpft: Die Enigma darf nie in Feindeshand geraten, und der auf Papier geschriebene Doppelkastenschlüssel muss zur Not aufgegessen werden. Die Funker übten sogar, Papier zu kauen.
Die letzte Enigma zerschlug er mit dem Hammer
Jürgen Reinhold erlebte das Kriegsende in Ungarn. Auch nach dem 8. Mai 1945, als der Krieg bereits zu Ende war, nutzte er die Maschine noch. Er wollte aus Ungarn in die britische Besatzungszone kommen und fürchtete dabei die Rote Armee. Über verschlüsselte Enigma-Nachrichten verständigte er sich mit Kameraden per Funk über einen sicheren Weg und erreichte schließlich sein Ziel. Es muss sich bei seiner Enigma um ein robustes Exemplar gehandelt haben, denn, so erinnert sich Reinhold: Das Gerät hat bis zuletzt immer tadellos funktioniert. Die letzte Enigma zerstörte er schließlich mit dem Hammer und ließ die Überreste zurück
Da die meisten Soldaten damals im letzten Gehorsam ihre Enigmas ebenfalls vernichteten, sind von mehreren zehntausend produzierten Exemplaren heute nur noch einige Hundert erhalten geblieben. Sammler zahlen dafür Preise um 20.000 Euro, für spezielle Modelle sogar mehr.