
Versenkung der "Cap Arcona" Schwimmendes Konzentrationslager
Das Echo des Horrors hallt durch die Flure, die Ballsäle, die Treppenaufgänge aus den Unterdecks empor. Bricht sich an den Wänden und tost hinaus aufs Meer. Sam Pivnik hört die panischen Schreie von Tausenden Männern. Die "Cap Arcona" bebt, er riecht das Feuer, spürt das Knurren der Jagdbomber am Himmel. Und über allem dröhnt dieses Schreien, das schlimmste Geräusch, das er jemals gehört hat.
An jenem 3. Mai 1945 war Pivnik an Bord der "Cap Arcona", ein KZ-Häftling, eingesperrt wie 4600 andere. Er erlebte das Grauen auf dem schwimmenden Konzentrationslager in der Lübecker Bucht. Britische Flugzeuge attackierten die "Cap Arcona", der Angriff war eine der größten Schiffstragödien aller Zeiten. Wenige Männer überlebten die Attacken der britischen Tiefflieger, das Feuer, die Explosion im Inneren des Rumpfs. Und noch weniger, wohl kaum mehr als 500, schafften es aus dem eisigen Wasser lebend an Land.
Nur Wochen zuvor hatten die Nationalsozialisten mit der Verlegung von KZ-Häftlingen auf das Schiff begonnen. Nur fünf Tage, nachdem die Flugzeuge die "Cap Arcona" ins Visier nahmen, kapitulierte das "Dritte Reich". Bis heute ist eine Frage nicht vollständig geklärt: Wieso wurde das Schiff angegriffen?
Ein Paradies für 850 Passagiere
Der Luxusdampfer, gebaut von der Werft Blohm & Voss in Hamburg, vom Stapel gelaufen im Jahr 1927, galt als Flaggschiff der Reederei Hamburg Süd. Zwei Turbinen mit 24.000 PS wuchteten wohlhabende Passagiere aus der Hansestadt über Madeira bis nach Rio de Janeiro. Ein stolzes Schiff, 206 Meter lang - ein Paradies mit 850 teuren Plätzen. 1939, kurz vor dem Kriegsausbruch, überquerte die "Cap Arcona" zum letzten Mal den Atlantik. Der Kriegsmarine übergeben, diente sie 1943 als Drehort für einen deutschen Spielfilm über das Schicksal eines anderen Schiffs: der "Titanic".
Bevor Sam Pivnik nur wenige Stunden vor dem tragischen Angriff die "Cap Arcona" betrat, hatte er noch nie das Meer gesehen. Als Sohn einer jüdischen Familie wuchs Pivnik, der damals noch Szmuel Piwnik hieß, in Bedzin im Südwesten Polens auf. An seinem 13. Geburtstag überfiel die Wehrmacht seine Heimat. Der Terror kam in sein Leben: Bis 1943 musste er mit seinen Eltern und fünf Geschwistern im Getto von Bedzin leben, dann wurden die Piwniks nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Nach zehn Tagen im Lager waren alle Familienmitglieder außer ihm tot.
Die Rote Armee rückte an, Pivnik wurde nach Westen transportiert, wo er den Todesmarsch des KZ Fürstengrube überlebte. Schließlich stand er am 3. Mai auf einem Fischerboot, das ihn von Neustadt in Holstein zur "Cap Arcona" brachte, einem hoffnungslos überfüllten Dampfer: Nach der Evakuierung des Konzentrationslagers Neuengamme im Südosten Hamburgs hatten die Nazis mehr als 9000 Häftlinge auf die Schiffe "Thielbek", "Athen" und "Cap Arcona" gebracht.

Die Zustände an Bord waren katastrophal: Die Häftlinge vegetierten in ihren eigenen Exkrementen zwischen den Toten vor sich hin, halb verrückt vor Durst und Hunger. Pivnik verglich den Anblick in seinen Memoiren mit "einem alten Gemälde der Hölle". Das Paradies für 850 begüterte Reisende war zum Verlies für 4600 Gefangene mutiert.
Eine Falle für die Briten?
Ende 1944 war die "Cap Arcona" noch zum Transport von Flüchtlingen aus Ostpreußen eingesetzt worden. Dann lag sie manövrierunfähig vor Neustadt in Holstein in der Lübecker Bucht - bis die Nationalsozialisten sie als schwimmendes Konzentrationslager zweckentfremdeten. Sie unterließen es, die "Cap Arcona" etwa mit einer weißen Flagge zu markieren. Aus der Luft war das Schiff für die britischen Jagdbomber daher wohl kaum zu unterscheiden von Truppentransportern der deutschen Marine.
Was wollte man damit bezwecken? Wollten die Nationalsozialisten die "Cap Arcona" nur als Zwischenstation einsetzen, wie dies hohe SS-Offiziere später bei Ermittlungen angaben? Sie behaupteten, man habe vorgehabt, die Häftlinge nach Schweden zu bringen - eine wenig plausible Darstellung. Wahrscheinlicher sind zwei andere Szenarien: Die erste geht davon aus, dass den Nationalsozialisten schlicht die Unterbringungsmöglichkeiten für ihre Gefangenen ausgingen. Die "Cap Arcona" sei somit nur eine Notunterkunft gewesen. Man habe die Häftlinge unter Umständen als Arbeitskräfte oder sogar Verhandlungsmasse bei den Gesprächen über eine Kapitulation einsetzen wollen.
Am weitesten verbreitet, auch unter den überlebenden Häftlingen, ist jedoch eine ganz andere Erklärung: Die SS habe die Schiffe mitsamt der Häftlinge versenken wollen - quasi einen Massenmord in der Ostsee geplant. Einige gehen sogar weiter und spekulieren, dass den Briten ganz bewusst eine Falle gestellt worden sei. Die fehlende Markierung der Schiffe sollte den Flugzeugen die "Cap Arcona" als lohnendes Ziel erscheinen lassen, sie anlocken.
"Keine gebellten Befehle, keine Prügel, keine Stiefel"
Die Verbände der Royal Air Force donnerten am Nachmittag des 3. Mai in Richtung Lübecker Bucht. Die "Cap Arcona" war mit Artillerie bestückt, neben den Häftlingen waren Bewacher, Flakmatrosen und Seeleute an Bord. Es wirkte wie ein gewöhnliches Marineschiff. Die Bomber machten keine Ausnahme für die "Thielbek" oder die "Cap Arcona". Gut 200 angreifende Flugzeuge warfen an jenem Tag ihre tödliche Fracht über der Kieler und Lübecker Bucht ab, mehr als hundert Schiffe wurden versenkt oder schwer beschädigt.
Sam Pivnik erinnert sich an den Moment der Attacke in seinen Memoiren - sie setzte ein, als der Neuankömmling gerade einen Sitzplatz erspäht hatte: "Ich kletterte über andere Menschen, als die Hölle losbrach. Ein mächtiger Knall", erinnert er sich. "Was zum Teufel ging hier vor?" Dann die Schreie, die Panik, das Feuer. Kurz nach 15 Uhr legte sich die "Cap Arcona" auf die Seite, sie war verloren: In ihrem Bug ertranken und verbrannten die Häftlinge. Pivnik konnte sich retten, er hielt sich im sieben Grad kalten Wasser an einer Planke fest.
Dann sah er die Fischerboote, die ihn kurz zuvor noch auf das Schiff gebracht hatten. Die Besatzungen retteten jeden, der eine Uniform trug, jeden, der nach SS-Wachmann oder Crew aussah. Auf die normalen Insassen hingegen, die verzweifelt gegen das Ertrinken kämpften, soll geschossen worden sein. Pivnik: "Sie retteten keinen einzigen Gefangenen." Er bemerkte, dass an Land kommende Überlebende ermordet wurden. Mit anderen Häftlingen quälte sich Pivnik deshalb bis zum Einbruch der Dunkelheit im Wasser. Er verlor das Bewusstsein, wurde an Land geschwemmt. Und überlebte.
Pivnik erwachte am 4. Mai - es sollte der Tag sein, an dem ihn britische Truppen befreiten. Er war durchnässt und halberfroren. "Ich realisierte, dass dies der erste Morgen seit meiner Zeit in Auschwitz-Birkenau war, an dem es keinen Morgenappell gab. Keine gebellten Befehle, keine Prügel, keine Stiefel." Pivnik nahm keinerlei Geräusche wahr. Außer dem Zwitschern der Vögel.