
Verwaister Freizeitpark: Im Wald der toten Märchenprinzen
Verwaister Freizeitpark Im Wald der toten Märchenprinzen
Im Jahr 1986 stapfte ich mit meinem Assistenten durch einen verlassenen Wald nahe der Grenze zu den Niederlanden. Unsere Augen suchten konzentriert das Dickicht links und rechts des Weges ab. Dann sahen wir es: Eine kleine Gestalt lag reglos im Laub vor uns. Ihre Züge waren grau und verwittert, sie musste schon lange hier gelegen haben. Es war ein kleiner Zwerg, komplett mit Zipfelmütze, umgestürzt unter alten Blättern. Aber wo waren seine sechs Gefährten aus "Schneewittchen" nur geblieben? Wir suchten weiter - und wurden bald fündig. Nach und nach tauchten unter Bäumen immer mehr Steinfiguren auf. Wir kannten sie alle. Aus Märchen: Der Hase und der Igel, Schneewittchen und die Zwerge, Rotkäppchen und der wo war denn nur der Wolf? Unser Ausflug wurde zu einem Suchspiel.
Kurz zuvor hatte ich auf der Suche nach neuen Fotothemen den Tipp bekommen, in Willich-Schiefbahn nahe Mönchengladbach einen alten Märchenpark zu besuchen. Also stiegen mein Assistent und ich ins Auto - und verfuhren uns prompt. Die Straße, die zum besagten Park führen sollte, endete nämlich abrupt am Rande eines Flughafengeländes. Nach einem zeitverschlingenden Suchmanöver und etlichen weiteren Kilometern erreichten wir zu guter Letzt aber unser Ziel. Doch ein verlassenes Restaurant mit einem "Heute geschlossen"-Schild im Fenster dämpfte unsere Euphorie.
Ein hoher, von Efeu umrankter Zaun und ein mit einer dicken Kette versehenes Tor versperrten zudem unseren Zugang zum Reich der Märchen. Also versuchten wir, einen Blick durch eine Lücke im Zaun zu erhaschen. Plötzlich hörten wir hinter uns eine forsche Stimme: "Hallo, was machen Sie denn da!?" Es war ein Mitarbeiter der Besitzerin des Parks und wir mussten ihm erst einmal Rede und Antwort stehen. So erklärte ich, dass ich den Park gerne fotografieren würde, um seine Geschichte zu dokumentieren. Unser Gegenüber reagierte zunächst mit großer Verwunderung, lud uns aber dann zu einer Tasse Tee und einem Gespräch mit der Besitzerin ein.
Gestalten unter Spinnenweben
Wir erfuhren, dass sich außer Immobilienmaklern schon seit Jahren niemand mehr für den Park interessierte und die Stilllegung der hinführenden Bundesstraße L390 Anfang der achtziger Jahre dann das endgültige Aus bedeutet hatte. 1983 war der Park geschlossen worden und lag seitdem im Dornröschenschlaf. Der Natur überlassen und nur von einem Hund bewacht, verbarg er einen letzten Rest deutscher Märchenkultur. Die alten Steinfiguren standen zum Verkauf und sie würden nie wieder erzählen können, was sie in der langen Zeit in diesem Wald erlebt hatten. Nach einer weiteren Tasse Tee bekamen wir schließlich die Genehmigung, den Park zu betreten. Wir wurden über die Gefahren des Holzbruchs und der verwilderten Wege aufgeklärt, dann konnte die Arbeit beginnen.
Das Tor zu dem abgesperrten Gelände öffnete sich quietschend. Nach dem Zwerg im Laub fanden wir nun immer mehr Figuren. Zugewachsen oder umgestürzt riefen sie die alten Märchen, die uns aus unserer Kindheit so vertraut waren, wieder in unser Gedächtnis. Die Farbe war längst abgeblättert von der verwitterten Oberfläche der Steinfiguren und so hatte die Jacke des Jägers aus "Rotkäppchen und der Wolf" ihr Grün nur vom Moos, das sie umgab.
Vereinzelt tauchten im Wald alte Holzhütten auf. Hinter den fast blinden Scheiben konnten wir im Halbdunkel Puppen erkennen, deren Mechanik einst durch den Einwurf eines Groschens in Gang gesetzt werden konnte. So war Bewegung in die Märchenwelt gekommen, die Erzählungen wurden klangvoll zu Gehör gebracht. Aber hier bewegte sich schon lange nichts mehr. Längst waren die Kleider der Puppen verblasst, verschimmelt und von Insekten zerfressen. Generationen von Spinnen hatten ihre Netze um die Figuren gewoben. Man konnte nur noch erahnen, was hier früher die Neugier der Kinder geweckt hatte.
Für Kinder Märchen - für Erwachsene Alkohol
Doch dann wurde ich von dem verzweifelten Hilferuf meines Mitstreiters aus den Träumereien gerissen. Er hatte den Froschkönig gefunden, mitten auf einer grünen Rasenfläche. Nur dass die sich als ein Teppich wuchernder Wasserpflanzen herausgestellt hatte, als er hineingetreten war. Und so stand er nun mit Stativ und Kamera im feuchten Grün - das Wasser reichte ihm bis zu den Knien.
Hatte die Besitzerin uns nicht erzählt, dass hier früher ein heiterer Ort gewesen war? Vor vierzig Jahren, kurz nach dem Krieg, hatten sich an den jetzt überwucherten Stellen Kinder getummelt und verzückt vor einem steinernen Wolf gestanden. Auf einem einfachen Schild neben ihm stand zu lesen: Wohin gehst Du?" Unsicher, wen der Wolf mit seiner Frage wohl meinen könnte, hatten die Kinder umhergeschaut. Und richtig: Dort hinten stand doch das Rotkäppchen! Heute ist es längst umgefallen und liegt vergessen im Gebüsch.
Nach mehreren spannenden Stunden näherten wir uns dem Ausgang und kamen zu dem Ort, wo früher dann auch die Erwachsenen ihren Spaß hatten - dem Restaurant. "Täglich Konzert und Tanz" stand auf der Rückseite einer der Postkarten, die man sich hier als Erinnerung mitnehmen konnte. Die Kinder vergnügten sich auf dem Spielplatz hinter dem Restaurant, während die Eltern tanzten, Kuchen aßen, Kaffee tranken - oder den einen oder anderen Schoppen Wein. Es muss ein herrlicher Ausflug ins Grüne für alle gewesen sein. Über hundert verrostete Fahrradständer zeugten bei unserem Besuch davon, wie beliebt der Märchenpark damals gewesen sein musste. Unsere Fotos waren im Kasten, und wir traten zufrieden unsere Rückreise an.
Lieblose Resteverwertung
Die Bilder landeten im Archiv. Aber nach einigen Jahren kehrte ich aus Interesse zurück an diese Stelle. Es war deprimierend: Randalierer hatten den Park inzwischen fast völlig zerstört. Den Rest hatte ein neuer Besitzer der Gastronomie erledigt. Einige wenige Figuren waren am Restauranteingang aufgestellt worden. Bunt und dick lackiert zeigten sie in das Restaurant "Zum Märchenwald", ein Lokal im Oktoberfest-Design.
Jahre später entdeckte ich die Bilder wieder in meinem Fundus und ging auf die Suche nach anderen, ähnlichen Anlagen, die noch in Betrieb sind. So wurde aus einer fixen Idee ein Thema, das mir für Jahre im Kopf blieb. Ich begann, die Geschichte der deutschen Märchenparks fotografisch zu dokumentieren.
Die Ergebnisse waren oft frustrierend: Deutlich ist diesen Parks anzusehen, wie sehr sie mit sinkenden Besucherzahlen kämpfen: Einige haben notdürftig versucht, ihre Märchenwelt mit Pinsel und Farbeimer farbiger zu gestalten. Mit großen, zeitgemäßen Schildern versuchen andere, den Kindern von heute die alten Märchen plakativ näherzubringen. Wieder andere haben ihr Angebot um Tiergehege erweitert, um irgendwie Besucher anzulocken. Sehr viele Parks aber wurden einfach nur geschlossen und verschwanden ohne jede Spur. In manchen von ihnen fanden die liebevoll gestalteten Märchenfiguren immerhin noch eine letzte Verwendung: Als Füllmaterial für Neubaufundamente.