
Vietnamesen in der DDR Als "Onkel Ho" seine Kinder schickte


Vietnamesische Mädchen 1955 in Moritzburg beim Schachspielen
Foto: Erich Pohl/ Deutsche Fotothek
Fahnenappell im Käthe-Kollwitz-Heim in Moritzburg
Foto: Erich Pohl/ Deutsche FotothekAm Anfang der vietnamesischen Einwanderung nach Deutschland stand ein Missverständnis: 1955 vereinbarten die DDR und Nordvietnam, 350 Kinder aus dem südostasiatischen Land in zwei Heimen in Sachsen unterrichten zu lassen. Die DDR erwartete Waisen. Stattdessen kamen die Kinder verdienter Kader aus dem Unabhängigkeitskrieg, den das kommunistische Nordvietnam gerade gegen die französische Kolonialmacht gewonnen hatte.
Vor ihrer Abreise verabschiedete Nordvietmans Präsident Ho Chi Minh die Kinder persönlich in der Hauptstadt Hanoi. In einer feierlichen Rede sprach "Onkel Ho", wie er bis heute im Land genannt wird, von einer Fortbildung im "Ausland". Die Kinder gingen davon aus, sie würden nach China oder in die Sowjetunion geschickt. Doch als ihr Zug in Peking einfuhr, reichte man ihnen wattierte Jacken. Die Reise ging weiter, das Ziel: "Dong Duc", Ostdeutschland.
60 Jahre später lädt Le Duc Duong in sein Haus im brandenburgischen Hoppegarten südöstlich von Berlin. Neben der Tür prangen die Schriftzeichen für Glück, Wohlstand und Langlebigkeit, ein Mops namens Emmi tollt durchs Wohnzimmer. Le Duc Duong zeigt eine Sendung, die er vor einigen Jahren aufgezeichnet hat, einen Bericht des vietnamesischen Senders "VTV1" über die nach Deutschland geschickten Kinder. Im Film stapfen Mädchen mit geflochtenen Zöpfen in dicken Jacken durch eine schwarz-weiße Szenerie in Sachsen. "Bist du das, Trang?", fragt Le Duc Duong, 73. "Nee, spul mal vor", antwortet Vo Cam Trang, 72, die neben ihm am Tisch sitzt.
"Jede Woche zwei Arbeitseinsätze"
Die beiden, kein Ehepaar, sind "Moritzburger". So bezeichnen sich die etwa 350 vietnamesischen Kinder, die 1955 in die DDR gekommen sind. Die jüngsten waren damals neun Jahre alt, die ältesten 15.
Drei Wochen reisten sie damals mit dem Zug - über Peking, Moskau, Warschau. Niemand von ihnen beherrschte auch nur ein Wort Deutsch. Passende Wörterbücher gab es nicht. "Im Unterricht bekamen wir Deutsch-Lehrbücher für russische Kinder, aber Kyrillisch konnte ja auch niemand", erzählt Le Duc Duong.
Trotzdem gewöhnten sich die Kinder schnell an ihr neues Zuhause. Sie lebten unter sich mit ihren Lehrern - deutschen wie auch vietnamesischen, die sie begleitet hatten. Wie lange sie bleiben würden: unklar. Abitur sollten die Kleinen machen, um ihr Wissen später in Vietnam zum Wohle des Staates einzusetzen.
Die Moritzburger lernten fleißig. Abends sangen sie deutsche Volkslieder, fuhren im Sommer zum Baden an die Ostsee, gingen im Winter Skifahren im Vogtland. "Wir haben uns damals gefühlt wie eine Familie, die Großen haben auf die Kleinen aufgepasst", so Vo Cam Trang, bei ihrer Ankunft in der DDR zwölf Jahre alt. "Ostdeutschland war für uns ein Paradies. Wir waren glücklich, dass wir Schule hatten und etwas lernen konnten. In Vietnam waren wegen des Krieges nur die wenigsten in einer Schule gewesen." Ihr Vater war Soldat, sie hatte ihn kaum gesehen und war größtenteils bei Freunden der Familie aufgewachsen.
Vietnamesische Mädchen 1955 in Moritzburg beim Schachspielen
Foto: Erich Pohl/ Deutsche Fotothek"Na ja", sagt Le Duc Duong, "die deutschen Lehrer waren schon sehr streng." Er erinnert sich daran, wie die Kinder Kartoffeln und Zuckerrüben ernten mussten: "Jede Woche gab es zwei Arbeitseinsätze, bei jedem Wetter. Die Erziehung war sowjetisch geprägt, schon sehr anders als heute."
Ho Chi Minh auf Stippvisite
1957 besuchte Ho Chi Minh "seine Kinder". Zur Begrüßung hielten die Moritzburger sein Konterfei hoch. An Details erinnert sich Le Duc Duong nicht mehr: "Für uns war das ein Tag wie jeder andere, wir haben gelernt und gespielt, dann kam Onkel Ho vorbei. Er hat sich zwischen uns gesetzt, wir haben Fotos gemacht. Dann war er wieder weg."
1959 endete der Aufenthalt der "Moritzburger" in der DDR - vorerst. Sie mussten zurück nach Nordvietnam, viele von ihnen wären lieber in der DDR geblieben. Vier Jahre lang hatte Le Duc Duong seine Familie nicht mehr gesehen, nun als 17-Jähriger fand er sich in Vietnam nicht mehr zurecht.
Gut drei Jahre später waren er und Vo Cam Trang zurück in der DDR. Diesmal sollten sie einen Beruf erlernen. Bei Carl Zeiss in Jena wurde Vo Cam Trang zur Optikerin ausgebildet, Le Duc Duong zum Maschinenbauschlosser in Dresden. Eigentlich interessierten sie sich viel mehr für Literatur und Geschichte - aber bei der Berufswahl hatten sie kein Wort mitzureden.
Etwa 150 ehemalige Moritzburger machten wie er eine Ausbildung in der DDR, schätzt Le Duc Duong. Nach der Ausbildung nahmen die beiden ein Studium auf. Le Duc Duong erhielt einen Platz in Verfahrenstechnik an der Uni Magdeburg, Vo Cam Trang studierte Chemie im sächsischen Freiberg.
Fahnenappell im Käthe-Kollwitz-Heim in Moritzburg
Foto: Erich Pohl/ Deutsche FotothekDanach gab es Probleme mit der Aufenthaltserlaubnis. Beide mussten zurück nach Vietnam - wieder wären sie lieber geblieben. Le Duc Duong arbeitete als Deutschlehrer, Vo Cam Trang als Dolmetscherin. Erst mehr als ein Jahrzehnt später konnten sie erneut nach Deutschland reisen. Bis 1989 warb die DDR etwa 60.000 Vietnamesen als Vertragsarbeiter an - aber viele sprachen kaum Deutsch. Plötzlich waren die ehemaligen Moritzburger, die fließend Deutsch sprachen, sehr gefragt. Le Duc Duong wurde Gruppenleiter vietnamesischer Vertragsarbeiter in einer Wäscherei, Vo Cam Trang Gruppenleiterin in einer Schuhfabrik.
"Wo ich begraben werde, ist mir egal"
Der Fall der Berliner Mauer 1989 änderte alles. In der kollabierenden DDR-Wirtschaft schwanden die Aussichten der Vietnamesen auf Arbeit. Immer häufiger kam es zu Übergriffen gegen Ausländer, 1992 warfen Rechtsradikale in Rostock-Lichtenhagen Molotowcocktails auf ein Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter.
Schließlich zogen bis zu 50.000 der Vertragsarbeiter wieder in ihre Heimat. Le Duc Duong und Vo Cam Trang waren diesmal entschlossen, in Deutschland zu bleiben. Er arbeitete später im Büro des Gleichstellungsbeauftragten von Treptow, sie im Büro der Ausländerbeauftragten von Berlin-Lichtenberg.
Von den Rückkehrern haben viele Karriere in Vietnam gemacht, darunter Professoren und ein Regierungsberater. Nur noch etwa zehn "Moritzburger" leben heute in Deutschland, schätzt Le Duc Duong - und werden mitunter vergessen. Sie erhielten keine Einladung, als ein Verein die vietnamesischen "Moritzburger" im Jahr 2005 aus Anlass des 50. Jahrestags ihrer Ankunft in Deutschland nach Moritzburg einlud. "Das hat mich schon enttäuscht", sagt Le Duc Duong.
Heute freuen sich Le Duc Duong und Vo Cam Trang über die deutsche Wiedervereinigung. Sie werden in Deutschland bleiben und wahrscheinlich auch hier sterben. Zurück nach Vietnam? Für ihn keine Option, findet Le Duc Duong. Und Vo Cam Trang sagt: "Wo ich begraben werde, ist mir egal - ich bin halt ein deutsch-vietnamesisches Zwischending."
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Reigen: 1955 schickte das kommunistische Nordvietnam etwa 350 Kinder in die DDR. Die Kleinen zwischen 9 und 15 Jahren wurden im sächsischen Moritzburg untergebracht und unterrichtet. Bis heute nennen sie sich "Moritzburger". Das Bild zeigt eine Festveranstaltung in Moritzburg im Jahr 1955.
Staatsbesuch: 1957 reiste Ho Chi Minh (Mitte), der Präsident Nordvietnams, in die DDR. "Onkel Ho" - wie man ihn in Vietnam bis heute nennt - besuchte auch Moritzburg.
Heimisch geworden: Vo Cam Trang (links) und Le Duc Duong vor seinem Haus in Brandenburg. Die beiden sind zwei der etwa zehn "Moritzburger", die heute noch in Deutschland leben. "Ostdeutschland war für uns ein Paradies", sagt Vo Cam Trang .
Bildungsprojekt: Die vietnamesischen Kinder sollten in Ostdeutschland das Abitur ablegen. Auf diesem Foto betrachten einige Mädchen 1955 eine Weihnachtspyramide. Die einheitlichen Schürzen dienten zum Schutz der Alltagskleidung.
Handwerk: Später absolvierte Vo Cam Trang (rechts) als junge Frau eine Ausbildung bei Carl Zeiss Jena zur Optikerin. Sie schloss mit der Note 1,0 ab. Das Bild zeigt sie bei ihrem Abschluss.
Ertüchtigung: Sport gehörte ebenfalls zum Unterricht in Moritzburg (Foto von 1955).
Etikette: Neben dem Unterricht lernten die Kinder ab 1955 Gesellschaftstänze und deutsche Volkslieder.
Rückkehr: 1959 beendete Nordvietnam das Bildungsprojekt. Die Kinder mussten zurück - mitsamt ihren vietnamesischen Lehrern, die sie auch in Moritzburg unterrichtet hatten.
Völkerverständigung: Vor einer Regierungsdelegation aus ihrer Heimat führten die Kinder 1955 eine Tanzdarbietung auf.
Feier: Viele der ehemaligen "Moritzburger" machten Karriere in Vietnam. Nur etwa zehn leben heute noch in Deutschland, darunter Vo Cam Trang und Le Duc Duong. Die Aufnahme entstand 1955 bei einer Festveranstaltung.
Irrtum: Bei ihrer Abreise Südostasien wussten die Kinder wussten gar nicht, dass sie nach Ostdeutschland geschickt wurden. Sie dachten, es gehe in die chinesische Volksrepublik oder in die Sowjetunion. Diese Aufnahme wurde 1955 gemacht.
Adventszeit: Die meisten der vietnamesischen Kinder hatten in ihrer Heimat wegen des Kriegs gegen die Franzosen nicht regelmäßig die Schule besuchen können. Hier sind sie beim Schmücken eines Adventskranzes zu sehen, dahinter ein Bild von Ho Chi Minh (undatierte Aufnahme).
Sprachschwierigkeiten: Bei ihrer Ankunft in der DDR konnten die Kinder aus Nordvietnam kein Wort Deutsch; ein Foto aus dem Jahr 1955.
Freizeitvergnügen: Zu unterschiedlichen Jahreszeiten unternahmen die Kinder mit ihren Betreuern Ausflüge. Im Sommer ging es zum Baden an die Ostsee, im Winter zum Skifahren ins Vogtland.
Vermittler: Viele "Moritzburger", die Ende der Fünfzigerjahre zurück nach Nordvietnam mussten, kamen immer wieder in die DDR, etwa für eine Ausbildung oder ein Studium. Als ab den Achtzigerjahren immer mehr vietnamesische Vertragsarbeiter in die DDR gingen, waren die "Moritzburger" wegen ihrer guten Deutschkenntnisse wichtige Integrationshelfer.
Vietnamesische Mädchen 1955 in Moritzburg beim Schachspielen
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