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Vintage-Mode: Das Comeback des Dorfschuhhändlers

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Vintage-Mode Das Comeback des Dorfschuhhändlers

Hip-Hopper, Szenegänger, Skater: Ende der Neunziger wollten alle Retro-Sneaker tragen. Der Siegeszug der Oldie-Schlappen verhalf einem alten Dorfschuhhändler zu ungeahnten Erfolgen. Per Online-Versteigerung konnte er seine komplette Scheune leer räumen - und verkaufte bald Schuhe in alle Welt.
Von Stefan Wirtz

Die meisten langjährigen Kunden kauften nur noch aus Mitleid bei Schuh-Franz. Denn der regionale Strukturwandel und ein harter Preiskampf machten es schwer für ihn und die vielen anderen älteren fahrenden Händler, die mit ihren klapprigen Lieferwagen von Dorf zu Dorf fuhren, um Schuhe, Töpfe oder Backwaren zu verkaufen. Doch Ende der neunziger Jahre entdeckte ich in dem umgebauten roten Mercedes 309 von Schuh-Franz einen Schatz, der sein und mein Leben verändern sollte.

Es war die Zeit der Mods, Indies, Hip-Hopper und Skater - die zu Ende gehenden Neunziger waren geprägt von einer enormen Vielfalt an Jugendkulturen. Sie alle hatten ihre Erkennungsmerkmale und subkulturellen Codes - in Form von Kleidung, Dialektik oder bewusstem Konsum-Verhalten. Aus solchen Codes entstanden häufig zukünftige Mode-Trends - oder was die Industrie zum 'neuen Trend' hochstilisiert. Die Industrie versuchte, die Codes der Subkultur zu verstehen, um sie für den kommerziellen Erfolg eigener Kleidungs-Kreationen zu nutzen.

Die letzten Jahre der technologisierten Neunziger-Dekade waren in einigen Subkulturen von einem popkulturellen Comeback der Sechziger und Siebziger geprägt. Innerhalb meines Freundeskreises trugen viele Jugendliche bewusst alte Kleidungsstücke aus den siebziger Jahren. Genervt von den futuristischen Auswüchsen der Zeit, in denen sich zum Ende hin alles um dot.com-Yuppietum zu drehen schien und wir unserer Umwelt schon als weltfremd erschienen, wenn wir nicht mindestens einmal ernsthaft versucht hatten, die Domain www.sex.com zu registrieren, flanierten wir, musikalisch umgeben von Britpop-Bands wie Supergrass, The Smiths, Oasis oder The Verve, auf unseren eigenen, feinsinnigen Wegen zurück zur "guten alten Zeit".

Von Oasis zum Retro-Look

Der Britpop brachte ab Mitte der Neunziger eine musikalische Rückbesinnung zur britischen Gitarren-Musik der sechziger Jahre. Ein weiteres Stilelement dieses Musik-Revivals war die romantische Wiederbelebung popkultureller Elemente früherer Jahre in Mode, Kultur und Lifestyle. In unseren Köpfen existierte letztlich etwas, das sich heute als sentimentale Sehnsucht nach den Bildern "von früher" beschreiben ließe. Wir wurden Teil des Vintage-Trends.

So lechzten wir modemäßig nach den Insignien vergangener Zeiten, nach grellen Adidas-Trainingsjacken und minimalistischen Puma-Sneakern. Die waren jedoch nicht immer leicht zu bekommen. Bis sich ausgerechnet bei den altmodischen "rollenden Märkten", von denen sich bei uns "auf dem Dorf" noch einige gehalten hatten, eine Lösung für unser Kleidungsbeschaffungsproblem ergab. Denn unter den fahrenden Händlern war auch Schuh-Franz, bei dem meine Großeltern aus Generationen-Verbundenheit regelmäßig ein paar Schuhe erwarben.

In meiner Grundschulzeit, also irgendwann in den achtziger Jahren, hatte Franz dann und wann versucht, mir ein Paar Adidas-Schuhe aus den Siebzigern anzudrehen. Doch erstens hatte ich zu diesem Zeitpunkt schon einen "Foot Locker" von innen gesehen, und zweitens fand ich Nike damals natürlich viel cooler - ich lehnte ab.

Schuh-Schatz in der Scheune

Diese Einstellung sollte ich im Winter 1998 ändern. Zu diesem Zeitpunkt stieg ich nochmals in Franz' Mercedes 309 und entdeckte neben einigen Adidas Lendl noch die Modelle Kegler, Spezial und einige Puma Roma: Ich war schuhmäßig im Vintage-Paradies angekommen. Nebenbei erwähnte mein neuer persönlicher Held, dass seine ganze Scheune noch mit diesen Turnschuhen vollstünde und er keine Idee hätte, wie er die alten Dinger loswerden oder gar entsorgen könne. Niemand interessiere sich schließlich mehr für ordentliche deutsche Turnschuhe. In diesem Moment waren wir bereits Partner und ich hatte einen neuen Chef, einen wirklichen Turnschuh-Experten der alten Schule, der zu zähen Preisverhandlungen mit der oftmals starren Landbevölkerung auch schon mal einen martialischen "Adidas GSG 9" als Fußwerk anlegte.

Schuh-Franz und ich verkauften seine Schuhe zukünftig über Ebay nach San Francisco, Manchester und Buenos Aires. Unsere Kunden waren internationale Sneaker-Sammler, aber auch 'normale' Mode-Hipster. Nach einigen Monaten hatten wir die Lagerbestände seiner alten Scheune abgesetzt und begannen - wie es sich für angehende Anarcho-Globalisten gehört - die Restbestände aus struktur- und generationsbedingten Geschäftsauflösungen in Belgien und Nord-Frankreich aufzukaufen und via Ebay in die Welt zu schicken.

Für meinen über 80-jährigen Partner war es ein Riesen-Comeback. Verbittert über die Neunziger, in denen die zunehmenden Globalisierungstendenzen einen Gesellschafts- und Strukturwandel einläuteten und dem Berufsstand des "mobilen" Land-Gewerbes hart zugesetzt hatten, verspürte Schuh-Franz vielleicht so etwas wie eine späte Genugtuung. Im Spätherbst seiner Karriere war er "back in business", wie man wohl im Globalisierungsjargon sagen würde. Seine Schuhe waren wieder beliebt - fast wie damals, irgendwann 1976.

Renaissance von Roma und Spezial

Weit weg von unserem Dorf griff die Modeindustrie den Vintage-Trend auf. Insbesondere Puma und die französische Sportartikelmarke Le-Coq-Sportif positionierten sich im Zuge der stetig wachsenden Welle neu und stiegen wieder zu fast schon alter Stärke auf. Heute ist es nahezu selbstverständlich, in City-Galerien oder Stadt-Passagen einen Adidas Spezial oder Puma Roma zu kaufen. Retro-Schuhe wurden über die Jahre zu einem Massenphänomen und sind bis heute fester Bestandteil der Popkultur.

Im Sommer 2004 beendeten wir unsere Zusammenarbeit. Nach dem furiosen Comeback der Schuhe aus Franz' Scheune war sich der 84-Jährige sicher: "Junge, die Zukunft liegt im Internet."

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