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Kult-Musiksender: Viva liebte dich!

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Kult-Musiksender Viva liebte dich!

Als der Musiksender Viva 1993 auf Sendung ging, wurde ein neuer Moderatorentyp Kult. Er war extrem jung, extrem unerfahren und extrem nah dran am Gefühl einer Generation. einestages erinnert an die Helden der Neunziger - und verrät was aus ihnen wurde.
Von Sonja Hartwig

Tobias Schlegl will sich auf einem Biobauernhof in Hamburg treffen. Heike Makatsch bei einem Bio-Italiener in Berlin. Aleksandra Bechtel bei ihrer Agentur in Köln, um 18.30 Uhr muss sie weg, Kinder ins Bett bringen. Nilz Bokelberg schlägt eine australische Bar in Neukölln vor und Mola Adebisi lädt in seine Wohnung nach Solingen ein, ist dann erst nicht da, fährt eine Dreiviertelstunde später in seinem weißen Sportcoupé vor, sagt "mea maxima culpa" und entschuldigt sich mit einem Überraschungsei. Er nimmt sich den ganzen Nachmittag Zeit, er habe zwar viel um die Ohren, aber das, worum es geht, ist ihm wichtig: Viva. Deutschlands Kult-Musiksender der Neunziger.

Eine Generation wurde mit ihm erwachsen. Ein neuer Moderatorentyp wurde mit ihm groß. Schlegl, Makatsch, Bechtel, Bokelberg und Adebisi waren alle extrem jung und extrem unerfahren, als sie bei Viva anfingen. Sie waren so nah dran am Gefühl einer Generation wie kaum ein anderer. Sie interviewten Stars und wurden dabei selbst zu Stars.

"Viva war toll", sagt Nilz Bokelberg. "Viva war 100 Prozent authentisch, ganz anders als der Rest des deutschen Fernsehens", sagt Tobias Schlegl. "Viva war ein riesiger Rausch von morgens bis abends: nichts ernst nehmen, dauernd kaputt lachen", sagt Aleksandra Bechtel. "Viva hat mich für den Rest meiner beruflichen Laufbahn geboren", sagt Heike Makatsch. "Viva war mein Leben", sagt Mola Adebisi. Viva war die Abkürzung für "Videoverwertungsanstalt".

"Ich war ein Show-Paket, ein lebender Wanderzirkus"

Adebisi fährt von seiner Wohnung in Solingen nach Köln, zum Internet-Musiksender Bunch TV, einem seiner Arbeitsplätze, und führt in einen Yogaraum, legt sich seitlich auf die Matte und fängt an zu erzählen, wie es anfing mit ihm und Viva. Er jobbte als Tänzer bei der "West Side Story", als er zum Viva-Casting ging, zum Schluss seiner Vorstellung machte er eine Pirouette, Sprung, Spagat: "Wir sehen uns dann an meinem ersten Arbeitstag." Seitdem gehörte Mola zu Viva und Viva zu Mola.

Einer seiner ersten Sätze war: "Keine Angst, euer Fernsehen ist nicht kaputt, ihr braucht auch nicht daran zu drehen, ich bin wirklich schwarz." Ebenso wenig wie das eine politische Aussage war, war Mola Adebisi ein Pionier. "Ich war ein Showpaket, ein lebender Wanderzirkus. Ich habe von Woche zu Woche gelebt, es ging mir nur um Fun, um maximalen Lustgewinn. Genau genommen war ich nicht Mola, sondern der Molerator."

Wer ist der Molerator? "Der Molerator ist die aufgedrehteste Version von Mola. Mola ist ein ruhigerer Typ, den würde ich mir nicht angucken wollen, der Molerator ist so'n bisschen Fernsehen auf LSD."

Der Molerator, erzählt Adebisi, fragte AJ von den Backstreet Boys mal nach seinem peinlichsten Sexmoment und AJ erzählte, wie er mit einer Frau vögelte und dabei pupste. Der Molerator fragte Robbie Williams, wann er das letzte Mal Sex hatte. Williams: Schon ein paar Monate her. Du? Adebisi: Gestern. So anderthalb Stunden. Williams: Du Angeber.

Adebisi war elf Jahre beim Musiksender, so lange wie kein anderer. Er ging 2004, bevor die MTV-Mutter Viacom den Sender übernahm. "Opa des Musikfernsehens", nannte man ihn. Das hat ihm sehr wehgetan. Er wollte einen akademischen Titel, studierte auf dem zweiten Bildungsweg Marketing und nennt sich jetzt selbständiger Unternehmensberater für Medien und Medienunternehmen. Nebenbei ist er Partner bei einem Demenz-Pflegeservice, betreibt im Sommer einen Beach Club, programmiert Apps, hat vor kurzem ein Buch geschrieben "Zwischen Rassenhass und Promihype" und machte vergangenes Jahr bei den Karl-May-Festspielen in Bad Segeberg mit.

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Adebisi ist jetzt 40 und ihm ist wichtig, dass es einen erwachsenen Mola gibt, der nicht nur herumhüpft und "All I have to give to you" von den Backstreet Boys ansagt. Ein bisschen Molerator ist aber noch da: "Wenn du mir aufträgst, wir machen jetzt drei Stunden Interaktiv, brauche ich nur ein Mikro, dann mach ich das aus dem Effeff. Ich liebe das."

Als Viva begann, sprach in den Nachrichten niemand von Terrorbedrohungen und von Finanzkrise, "Gute Zeiten, schlechte Zeiten" war gerade als erste Daily Soap angelaufen, man spielte Gameboy und Musik hörte man auf Kassetten und auf dem Walkman. Die Klamotten der Jugend waren bunt und grell, die Inhalte der Generation unpolitisch, ihre Statements farblos. Viva gab der gesichtslosen Jugend ein Gesicht und die Moderatoren gaben ihren Fans ein Versprechen: Wenn ihr aus der Schule kommt, sind wir da. Dann verbringen wir zusammen den Nachmittag. Die Stars sind bei uns auf der Couch. Entweder ihr ruft an, grüßt eure Freunde und stellt eure Frage, oder ihr schickt ein Fax, das aus dem roten Faxmund kommt. Und wenn nicht, auch kein Problem, wir ticken ja eh wie ihr und fragen das, was ihr wissen wollt. Und ach ja, eins darfst du nie, nie, niemals vergessen: "Viva liebt dich."

Klassensprecher einer Generation

Junge, grinsende, lässige Menschen, die aus der Schule kamen oder zumindest so aussahen, wurden zu Klassensprechern einer Generation und in der Art, wie sie redeten, wie sie sich die Haare stylten, wie sie sich auf dem Sofa fläzten und mit Stars herumlungerten, wurden sie zu Kultfiguren. Sie waren gut drauf, laberrhabarberten die Stunden weg und wussten jede Nichtigkeit in eine Neuigkeit zu verwandeln, die Ahnungslosigkeit in ein Lebensgefühl. "Sesamstraße auf Speed" sei Viva, schrieb "Tempo", und Harald Schmidt nannte die Moderatoren "lernbehinderte und verhaltensauffällige Kids".

Mola Adebisi und Olli Pocher tanzten mit Britney Spears zu "Hit me Baby one more Time", Tobias Schlegl saß inmitten der Spice Girls, fragte, was überhaupt ein Girlie sei. Antwort: Das musst du selber sein, sei authentisch, hab Spaß. Aleks Bechtel hatte das Geburtstagskind Blümchen zu Gast, sie aßen Geburtstagskuchen und riefen Puffy von Echt an, der auch Geburtstag hatte. Das war das Highlight ihres Gesprächs. Sonst passierte da nichts.

Bechtel schaut sich das Video zwei, drei Minuten an, dann stoppt sie den Ausschnitt, reicht. Sie finde sich ja ganz eloquent, sagt sie, es sei aber auch ein bisschen schräg, das jetzt zu sehen, so gestrig, "würde man heute natürlich viel schneller machen. Doch egal was man sagte, die Leute fanden's damals toll."

Bei Viva war sie die Partymaus und die große Schwester, bei der man sich ausheulen konnte, die ein bisschen tröstete, wenn man Liebeskummer hatte. Angst vor der Mathearbeit. Und als sich Take That trennten. Bechtel traf alle Stars, die irgendeinen Hit in den Neunzigern landeten. Jon Bon Jovi trank neben ihr im Studio Rotwein. Mit Take That lag sie für ein Interview auf dem Bett in einem Berliner Hotelzimmer und bekam danach Morddrohungen von Fans. Mit Evil Jared von der Bloodhound Gang lieferte sie sich eine Buffetschlacht, sie kippten sich Wackelpudding und Kartoffelsalat über den Kopf. "Wir dachten nie an den Weltstar, wir waren ja selbst cool. Wir dachten: Wir sind Viva. Der Star kommt zu uns, will ja seine Platte promoten. Also: Better be nice."

Die Plattenindustrie erfreute sich eines Senders, auf dem sie Dauermarketing ausstrahlen konnte: Teuer produzierte Clips, die nicht als Werbung rüberkamen, sondern irgendwie ja auch Kunst waren. Als erstes lief Fanta Vier: "Zu geil für diese Welt". Ein Clip, der zur Chiffre des Popkanals wurde. Bei Viva gab es deutschsprechende Moderaten, deutsche Musik, deutsche Stars. Tic Tac Toe. Captain Hollywood. Mr. President sind nur einige, die es ohne Viva wohl niemals geschafft hätten.

Quietschig, peppig, bunt

"Viva war mit seinem Musikprogramm anfangs hart für mich", sagt Heike Makatsch, "meine Clique rümpfte die Nase. Das, was wir hörten, ging gegen das, was ich verkaufte." Makatsch, die mit ihren bunten Haaren, erst rot, dann wasserstoffblond, und ihrer unbekümmerten Plapperei perfekt ins peppige Viva-Studio passte, wäre eigentlich lieber zu MTV gegangen, doch dort vermasselte sie das Casting. Also erklärte sie bei Viva ihren minderjährigen Groupie-Zuschauern auch mal, dass Oasis und Blur eigentlich viel cooler seien als der Trash, den sie hörten.

Wenn Makatsch an sich und Viva denkt, sieht sie sich in der Maske im grauen Studiobunker sitzen, wo sie der Maskenbildner immer quietschig schminkte. Wenn man selbst an Makatsch und Viva denkt, ist man schnell bei einer Titulierung, in die die Medien sich verliebten, was Makatsch ihnen nie verzieh: Girlie, Supergirl der Nation, neues deutsches Fräulein. Darüber kann sie sich noch heute sehr aufregen.

So wie Viva schnell zu einem Mythos wurde, wurden die Moderatoren zur Marke.

Tobias Schlegl war das süße Schlitzohr, der Liebling aus dem Volk. Dem Boulevard erzählte er, dass alle auf dem Schulhof Autogramme wollen und Mädels auf seinem Grundstück Grillfeste veranstalten. "Ich habe aus Unsicherheit und Nichtwissen, wie ich mit den Medien umgehen soll, so viel Quatsch geredet, weil es gut für die Geschichte war. Eigentlich habe ich mich im Haus versteckt und die Rollläden runtergezogen, und meine Eltern mussten sagen, dass ich nicht da bin."

Der Sprücheklopfer wurde später zum Gesellschaftskritiker: Erst berief Gerhard Schröder ihn in den Rat für Nachhaltige Entwicklung, dann moderierte er die Satire "Extra 3" und jetzt ab und an das Kulturmagazin "Aspekte".

In seinem Keller hat er noch drei Kartons mit Videobändern von damals, angeguckt hat er sie sich nie wieder. Will er nicht. "Ich habe den Abstand nicht. Ich dachte mal, 20 Jahre später schaue ich mir die alten Ausschnitte an, aber ich muss wohl noch 20 Jahre warten: So sehr es mich auch amüsiert, irgendetwas quält mich auch dabei." Wieso ist es so schlimm? "Es ist, als sehe ich einem anderen Menschen zu. Ich war ein Teenie und hatte natürlich aus heutiger Sicht überhaupt noch nicht zu mir selbst gefunden."

Viva passte ins Unbeschwerte, Knallige, Bunte der Neunziger. Dann kam der 11. September 2001. Und Viva sendete nur Schwarzbild.

Am nächsten Tag saßen Tobias Schlegl und Jessica Schwarz auf der Interaktiv-Couch und suchten nach Worten. Schwarz: "Gestern war ein sehr geschichtlich pfff harter Tag für alle, würde ich sagen." Schlegl: "Wir wollen hier nicht großartig politisch diskutieren und jetzt genau wissen, was da in Afghanistan los ist, was da passiert ist. Also, ich glaube, ihr habt das alles mitbekommen." Drei Stunden schleppten sie sich durch die Spezialsendung, sie seien ja nur ein Unterhaltungssender, sagten sie immer wieder: Informationen gäben sie nicht, aber sie böten ein Forum. Lasst alles raus, wir hören zu.

Der Viva-Mythos wird entzaubert

Viva war bei sich selbst angekommen: ein Forum, ein Freund, mehr wollten sie nie sein. Aber auch mit den besten Freunden ist es vorbei, wenn sich Horizonte und Herausforderungen ändern. Fast mit der gleichen Logik, mit der Viva ins Leben gekommen war, verschwand es wieder: die Digitalisierung strukturierte die ganze Branche um, Musik war überall zu hören, es gab kaum mehr Geld für Clips, der Star fand seine eigenen Wege, zum Fan zu sprechen und brauchte den Moderator nicht mehr. Der Mythos: entzaubert. Er hinterließ: eine Popkultur, die auch in Eckernförde und Sindelfingen ihre Anhänger gefunden hatte. Und einen Typus des Moderators, der das vormachte, was YouTube-Stars jetzt nachahmen: Konventionen - pah. Wir wollen gar nicht angepasst und arriviert sein. Buht uns doch aus! Wir reden mit unseren Fans und wollen wissen, was sie denken. Wir erfinden das Fernsehen neu!

Nilz Bokelberg, Ex-Schlafschlumpf von Viva, sah meist verpennt aus, oder bekifft, wenn er auf Sendung war. Er fand MTV viel cooler, Eurodance war für ihn schon immer Horrorsound. "Ich wollte einfach Chaos machen", sagt er, das tat er dann auch. Er war der Freak, der heute darüber lacht, wie er sich damals seine Wollmütze ins Gesicht zog. Nachdem er Viva verließ, hat man kaum mehr was von ihm gehört. Er studierte Regie in München, lebt jetzt in Berlin, sei ein glücklicher, zufriedener Mensch. Er bloggt für den Weltfrieden, heißt es auf seiner Website, hat vor kurzem ein Buch rausgebracht, in dem er sein Erwachsenwerden an Hand von wichtigen Platten und Songs erzählt, auf YouTube macht er eine Kinosendung. Seine Tochter ist zwölf. Als er letztens bei einem Schulfest war, kamen zwei Jungs an: "Hey, Sie sind doch der Nilz von YouTube, oder?"

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