

Wenn ich das Album "Rumours" von der A- auf die B-Seite wende, ist ein heftiges Knistern und Knacken zu hören, bis die Bassdrum von Mick Fleetwood den Rhythmus angibt, die Gitarre erklingt und Stevie Nicks singt "I can still hear you saying you would never break the chain" ("Ich kann immer noch hören, wie du sagst, du würdest nie die Kette brechen").
Das Knacken zieht sich durch den ganzen Titel "The Chain". Das liegt daran, dass er in Warschauer Diskotheken nächtelang gelaufen sein muss. Ich habe die 1977 erschienene LP auf dem polnischen Schwarzmarkt gekauft, für 120 DDR-Mark. Das entsprach zwei damaligen Monatsmieten. Das Geld hatte ich auf dem Schwarzmarkt getauscht - zum inoffiziellen Kurs 1:10 statt dem offiziellen Kurs von 1:7.
Bot jemand günstigere Kurse, war es meist ein Betrugsversuch. Mancher ahnungslose DDR-Reisende wurde in Warschau durch Taschenspielertricks erleichtert. Die Einreise nach Polen war ab 1972 mit Perso möglich, im "Bruderland" konnten unbegrenzt DDR-Mark in Zloty umgetauscht werden. Umgekehrt nicht.
Angeblich ein Gigant unter den Industriestaaten
Nur: Es gab um 1980 in Polen nicht mehr viel zu kaufen. Mich lockten allerdings Original-Schallplatten auf dem Flohmarkt. Für die Polen dagegen war die DDR ein Fleischwaren- und Konsumartikel-Paradies. Das machte den schwarzen Geldumtausch für sie attraktiv.
Wäre ich fünf Jahre früher nach Polen gereist, hätte ich dort eine "Belle Époque" erlebt. 1971 kam es nach einer starken Erhöhung der staatlich festgelegten Preise in einigen polnischen Industriestädten zu massenhaften Streiks. In den Textilfabriken von Lodz legten über 55.000 Beschäftige die Arbeit nieder, 80 Prozent davon Frauen. Streiks in den Werften von Stettin und Danzig wurden blutig niedergeschlagen, 16 Menschen starben.
Polen nahm daraufhin die Preiserhöhung zurück und beschloss ein Programm zur Steigerung des Lebensniveaus. Die Kommunistische Partei vertraute ihrer selbst propagierten Wirtschaftskraft und machte dem Volk weis, es lebe im zehntgrößten Industriestaat der Welt.
Die so gewonnene Kaufkraft ohne entsprechende Warendeckung erzeugte solche Aufbruchsstimmung, dass mehr West-Waren eingeführt wurden - auf Pump. Man meinte, bald kapitalistische Länder wie Italien hinter sich zu lassen. In großem Stil wurde die Produktion von West-Lizenzprodukten angekurbelt, bald konnten die Menschen einen Polski Fiat ihr Eigen nennen, Pepsi trinken und Marlboro rauchen.
"Ein Pole ist Papst geworden"
Auch war es im Gegensatz zur DDR für Polen möglich, wenn auch mit großem Aufwand, in den Westen zu reisen. In einer Phase des realitätsblinden Optimismus blähte die Partei ihren Staatsapparat und die Bürokratie auf. Nur wenige Fachleute wussten, dass Polen dro in der Staatsverschuldung zu versinken drohte.
Eine Missernte läutete 1975 den Niedergang dieses vermeintlichen sozialistischen Paradieses ein. Zeitgleich konnten zwei Drittel der geplanten industriellen Investitionsvorhaben nicht termingerecht in Betrieb genommen werden. Erneut bildeten sich vor den Lebensmittelgeschäften lange Schlangen, schlechte Stimmung machte sich breit.
Dann geschah 1978, womit die Machthaber nie gerechnet hatten. "Ein Pole ist Papst geworden", sagte der polnische Parteichef Edward Gierek 1978, "das ist ein großes Ereignis für die polnische Nation und bedeutet erhebliche Schwierigkeiten für uns." Sogar der Leiter meines sozialistischen Kollektivs in der DDR berichtete damals vor den Kollegen mit Sorge, dem Klassenfeind sei ein schwerwiegender Coup gelungen.
Und es kam noch schlimmer: Papst Johannes Paul II. besuchte 1979 sein Heimatland. Er erlebte Ovationen von Millionen seiner katholischen Landsleute, die oft auch Mitglieder der Partei waren. Der Besuch veränderte ein ganzes Volk. Die Polen erkannten, dass eine Mehrheit die Enttäuschung über die Lebensverhältnisse teilte. Sie wurden selbstbewusster und offener, selbst beim Schlangestehen an den Lebensmittelgeschäften. Sie begannen, Solidarität zu üben. Polnisch: Solidarnosc.
Ein exotisches Besuchserlebnis
Als ich 1979 wenige Wochen nach dem Papstbesuch einen Freund in Warschau besuchte, erlebte ich nach langer Zugfahrt durch arme, ländliche Gebiete eine weltoffene Hauptstadt. Im Kino lief "Hair", in den Blumenläden gab es frische Schnittblumen, durch die wiederaufgebaute historische Altstadt bummelten Touristen aus aller Welt - für einen Besucher aus der DDR ein exotisches Erlebnis.
Als ich zwei Jahre später wiederkam, hatte sich schon alles verändert. Das Land war unruhig geworden. Nicht nur vor Lebensmittelgeschäften, auch vor Zeitungskiosken standen lange Schlangen, um Neuigkeiten von Auseinandersetzungen zwischen Solidarnosc - der ersten unabhängigen Gewerkschaft eines kommunistischen Landes - und der Regierung zu erfahren. In Lesecafés konnte man internationale Zeitungen studieren, die unzensiert über die Ereignisse berichteten.
Mein Freund schwärmte von den Liedern Leonard Cohens, Edith Piafs und Jacques Brels, deren Texte er in die polnische Sprache übersetzte und intonierte, damit ihre humanistische Botschaft das Publikum besser erreichte. Die Theater führten kritische Stücke auf, es wurde über das Leben und den Kommunismus debattiert.
Hungermärsche in den Großstädten
Die Staatspropaganda argumentierte dagegen, wenn die Menschen die Arbeit niederlegten, produzierten sie weniger, was wiederum in den Läden fehle. Doch eine andere Möglichkeit, auf Veränderungen zu drängen, hatten sie nicht. Die Nahrungssuche der Bürger dauerte inzwischen mehrere Stunden täglich, in Großstädten organisierten die Frauen "Hungermärsche".
Zucker war bereits seit 1976 rationiert. Jetzt folgten Lebensmittelkarten für Fleisch, Wurst, Butter, Mehl, Reis und Schuhe. Der Schwarzmarkt blühte, die angeblich zehntgrößte Industrienation der Welt verkam zum Armenhaus.
Als der neue Staatschef General Wojciech Jaruzelski am 13. Dezember 1981 das Kriegsrecht über Polen verhängte, schloss auch die Honecker-Regierung die Grenzen zum "Bruderland" und öffnete sie nicht wieder. Es scheint, als sei Polen der Vorbote für den Niedergang der DDR acht Jahre später gewesen. Das Moskauer System brach zusammen - mit dem Ergebnis, dass für die aufbegehrenden Arbeiter zuerst in Lodz, Kattowitz und Danzig, dann in Karl-Marx-Stadt, Magdeburg und Rostock bald kein Platz mehr blieb.
Inzwischen besitze ich "Rumours" von Fleetwood Mac zweimal. Eine Verwandte, die in den Westen ging, hat mir die zweite LP hinterlassen. Sie hatte das Glück, sie 1979 für 16,10 DDR-Mark als Amiga-Lizenzplatte im regulären Plattenhandel kaufen zu können.
Als ich sie auflegte, knackte sie bei "The Chain".
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Warschau, Stadtzentrum, 1979:
Der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte in Warschau mit ähnlicher Architektur wie in Ost-Berlin, nur ohne Mauer. Das Foto zeigt das moderne Stadtzentrum entlang der Marszalkowska, einem Verkehrsknotenpunkt. In den Siebzigerjahren bereiste Siegfried Wittenburg mehrfach
das kommunistische "Bruderland".
Warschau, Palast der Kultur und Wissenschaften, 1979:
Dieses Gebäude ist ein Geschenk Stalins. Es hält bis heute bei den Warschauern keine guten Erinnerungen wach. 1967 traten dort die Rolling Stones vor geladenem Publikum der Kommunistischen Partei auf, während die Polizei die Fans auf den Straßen gewaltsam in Schach hielt.
Warschau, Nowy Swiat, 1980:
Diese Straße wird Königsroute genannt und führt direkt zum Schloss. Seit ihrem Bestehen ist sie die Straße mit den schönsten Geschäften. 1980 waren allerdings viele davon ziemlich leer.
Warschau, Blumenladen, 1980:
Der Sozialismus in den sozialistischen "Bruderländern" war sehr unterschiedlich entwickelt. War das Angebot an Blumen in der DDR nur sehr spärlich, so gab es sie in Polen in Hülle und Fülle. Einen Besuch bei Freunden ohne Blumenstrauß gab es selbst in schwersten Zeiten nicht.
Warschau, Polski Fiat 126p, 1980:
Der "Kleine", gemeint ist der Polski Fiat 126p, wurde von 1973 bis 1990 produziert und motorisierte die polnische Bevölkerung ähnlich wie der Trabant in der DDR oder der VW Golf in der Bundesrepublik.
Warschau, Schaufenster, 1980:
Die Schaufenster in Warschau waren nicht attraktiver als zum Beispiel in Ost-Berlin. Hier wirken sie, inklusive Katze, gut gefüllt. Einen erschreckenden Anblick boten dagegen die leeren Geschäfte für Lebensmittel oder Fleisch- und Wurstwaren.
Warschau, Kino Relax, 1980:
In den Warschauer Kinos wurden US-Produktionen wie der 1979 uraufgeführte Film "Hair" aufgeführt. Als kurz zuvor in den Kinos "Star Wars" lief, meldeten viele Warschauer, am Himmel Ufos gesehen zu haben.
Warschau, Buchladen, 1980:
Die Einfuhr westlicher Zeitungen, Zeitschriften und Bücher in die DDR war verboten. In Warschau hingegen lagen sie auf dem Grabbeltisch.
Warschau, Lesecafé, 1980:
In einem öffentlichen Lesecafé konnte man sich zahlreiche internationale Zeitungen und Zeitschriften ausleihen. Neben der "Prawda", der "Tribuna Ludu" und dem "Neuen Deutschland" war es auch möglich, den SPIEGEL, die "Times" und "Le Figaro" zu lesen.
Warschau, Zeitschriften, 1980:
Die Auswahl an internationalen Zeitungen war für uns aus der DDR überwältigend. In Ost-Berlin gab es ein vergleichbares Informationsangebot nicht - auch wenn man Westfernsehen empfangen konnte.
Warschau, Zeitungskiosk, 1980:
Die Auseinandersetzungen zwischen der ersten freien Gewerkschaft Solidarnosc und der polnischen Regierung produzierten täglich Schlagzeilen. Vor den Zeitungskiosken standen die Menschen Schlange, um darüber zu lesen.
Warschau, Schlossplatz, 1980:
Im Januar 1945 waren 85 Prozent Warschaus zerstört, was teilweise systematisch von den deutschen Besatzern verschuldet worden war. In der Nachkriegszeit wurden Altstadt und Neustadt weitgehend in ihrem früheren Zustand wiederhergestellt.
Warschau, Altstädtischer Markt, 1980:
Das historische Zentrum Warschaus, nach 1945 vollständig rekonstruiert, bot zahlreiche Restaurants und Cafés, es war sogar möglich, einen Platz zu bekommen. Es herrschte internationales Flair.
Warschau, Stare Miasto, Hot Dogs, 1980:
Im Gegensatz zur DDR, in der die Bockwurst flächendeckend verbreitet war, gaben sich die Warschauer internationaler und boten für den kleinen Hunger Hot Dogs an.
Warschau, Stare Miasto, 1980:
Mir war dieser Anblick fremd. Deshalb habe ich ihn festgehalten. In der DDR wäre dieser Porträtzeichner eine "Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten" gewesen und wäre strafrechtlich verfolgt worden.
Warschau, Barbakan, 1980:
Ein Magnet für internationale Touristen war die Barbakan, das mittelalterliche Stadttor zwischen Altstadt und Neustadt. Auch der Anblick einer solchen Kutsche war mir aus der DDR unbekannt. Ebenso, dass Maler und Kunsthandwerker auf den Straßen ihre Produkte anboten.
Warschau, Stiftskirche des Hl. Franziskus, 1980:
Obwohl im katholisch geprägten Polen die Kommunistische Partei als langer Arm Moskaus an der Macht war, konnte der christliche Glaube nicht so zurückgedrängt werden wie in der DDR. Mitglieder der Kommunistischen Partei nahmen auch am kirchlichen Leben teil.
Warschau, Wohnung in der Ulica Dobra, 1980:
Obwohl unsere Gastgeber während des Warschauer Aufstands gegen die Deutschen im August 1944 Familienmitglieder verloren hatten, waren sie sehr gastfreundlich zu uns. Nachkriegsgeborene trifft keine Schuld, sagten sie und meinten, es sei Aufgabe der Jugend, zu verhindern, dass so etwas wieder geschieht.
Warschau, Jerzy Menel, 1980:
Mein Freund Jerzy Menel beherrschte sechs Sprachen fließend, studierte Flugwesen und Ökonomie, war Songwriter, Lyriker und Übersetzer. Sein Verdienst ist die Übersetzung zahlreicher Chansons von Jaques Brel, Brassens, Edith Piaf und andere in die polnische Sprache. Er starb 2005 in Brüssel.
Warschau, private Boutique, 1980:
Im Gegensatz zur DDR konnten zumindest die Damen Warschaus schicke Kleidung in privaten Boutiquen kaufen. Als ich dieses Foto machte, ertönten die Sirenen, und die ganze Großstadt verharrte für eine Minute zum stillen Gedenken. Es war 12 Uhr am 1. September 1980, der Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs. Als Deutsche beschlich uns ein komisches Gefühl.
Warschau, Flohmarkt, Vogelhändler, 1980:
Dieser Mann bringt seine Kanarienvögel zum Flohmarkt. Es ist Sonntag. Er hat sich ein frisches Hemd und ein Jackett angezogen und eine Krawatte umgebunden.
Warschau, Flohmarkt, 1980:
Ähnlich wie das Singen von Liedern und das Sammeln von Pilzen lieben die Polen den kleinen und individuellen Handel als gesellige Freizeitbeschäftigung am Sonntag. Der kleine Junge im Vordergrund interessiert sich für eine Gasmaske.
Warschau, Flohmarkt, Händler, 1980:
Die Teilnahme am sonntäglichen Flohmarkt war für die polnische Bevölkerung eine Selbstverständlichkeit.
Warschau, Boney-M.-Konzert, 1980:
Eine Karte für einen Platz auf den Rängen gab es zum Spottpreis. Die Beschallung war für das Stadion viel zu schwach und die Distanz zu den Stars viel zu groß. Bis auf einige Ausnahmen direkt vor der Bühne.
Warschau, Konzert Boney M., 1980:
Das große Rätsel dieses Konzerts war, ob sich Boney M. trauen würden, den Titel "Rasputin" zu spielen. Der Song war im Ostblock verpönt und wurde aus den Radiosendungen verbannt. Die Band spielte "Rasputin", doch der Tumult blieb aus.
Warschau, Lazienki-Park, 1980:
Im Gegensatz zur DDR, wo die Geschichte des Staates auf die Bewegungen der Arbeiterklasse umgedichtet wurde, hielt die polnische Bevölkerung den Adel, aus dem die Republik hervorgegangen war, durchaus in Ehren. Der Park rund um den einstigen Palast des polnischen Königs Stanislaus August Poniatowski ist auch heute eine beliebte Freizeit- und Kulturstätte.
Demo vor der Stasi, Herbst 1989: Während der revolutionären Ereignisse im Herbst 1989 in Rostock war die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit ein wesentliches Ziel der wöchentlichen Demonstrationen. In der Nacht vom 4. bis 5. Dezember 1989 wurde das Gebäude in einer dramatischen Aktion von Bürgern besetzt.
Zehn Jahre später nach dieser Aufnahme sollte Siegfried Wittenburg Einsicht in seine eigene
Stasi-Akte erhalten - mit überraschenden Erkenntnissen.
MfS-Bezirksverwaltung Rostock, Februar 1990 - Siegfried Wittenburg: Ich hatte in meiner Heimatstadt die Revolution fotografiert. Als sie in einen Wahlkampf überging, rückte die Stasi in meinen Fokus. Zu dem Ministerium für Staatssicherheit gehörte ein ganzer Komplex mit Gebäuden und Wohnhäusern. In einem der Büros hatte sich der Unabhängige Untersuchungsausschuss der Bürgerbewegung eingerichtet.
Haupteingang MfS-Bezirksverwaltung Rostock, Februar 1990: Die Menschen hatten vor diesem Gebäude ihre Angst verloren. Auch ich dachte, die Überwachungskameras im neuen "Amt für Nationale Sicherheit" seien abgeschaltet. Doch ich irrte mich.
MfS-Bezirksverwaltung Rostock, Eingang zur U-Haft im Februar 1990: Die Aufnahme zeigt den Diensteingang zur U-Haftanstalt im amtlichen Erscheinungsbild der DDR. Aufgabe der Stasi war nicht, Verbrechen zu ahnden, sondern die politischen Aktivitäten der Menschen.
Toreinfahrt zur MfS-Bezirksverwaltung Rostock, Februar 1990: Besonders in den Nachtstunden wirkte der Gebäudekomplex bedrohlich. Während der Besetzung spielten sich im Umfeld dramatische Aktionen ab; die Bürgerrechtler hatten alle Hände voll zu tun, potenzielle Gewalt zu unterdrücken. Später wurde in den Unterlagen Informationen gefunden, dass seitens der Stasi der Einsatz von Giftgas gegen die Bevölkerung in Erwägung gezogen wurde.
Keller der MfS-Bezirksverwaltung Rostock, Februar 1990: Die abgebildete Vorrichtung, die Wände aus rohem Beton, die schweren Stahltüren und die vergitterten Fensterlöcher im Kellergeschoss lösten bei mir großes Unbehagen aus. Plötzlich fasst aus der Dunkelheit eine Hand nach meiner Schulter. Jemand brüllte: "Was machen Sie hier?!!" Ich erkannte einen Mann, der bei der Gründung unserer Stadtteilgruppe des Neuen Forums teilgenommen hatte und anschließend im Unabhängigen Untersuchungsausschuss tätig wurde. Ich erklärte ihm meine Absicht, die Stasi zu dokumentieren, solange das noch möglich ist, und bat ihn um Unterstützung.
Foyer der MfS-Bezirksverwaltung Rostock, März 1990: Nach einer Woche traf ich meinen Bekannten wie durch Zufall wieder. Er sagte, ich könne mit der Kamera in die MfS-Bezirksverwaltung mitkommen. Es war mir ein Rätsel, woher er meinen Aufenthaltsort kannte.
MfS-Bezirksverwaltung Rostock, Emblem, März 1990: Ich hatte eigentlich vor, im Gebäude staatliche Dekoration wie Orden und Seidenbanner zu fotografieren, die ich zuvor durch einen Türspalt gesehen hatte. Doch mein Bekannter sagte mir, dass die Stasi-Leute, die derzeit noch im Gebäude beschäftigt waren, nach Bekanntwerden meines Vorhabens aufgeräumt hätten. In der Tat waren die Vitrinen leer und die Fahnen verschwunden.
MfS-Bezirksverwaltung Rostock, Gang, März 1990: Mein Bekannter führte mich durch die ausgedehnten Flure des gewaltigen Gebäudes. Drei Männer kamen uns entgegen. Einer sagte: "Den kennen wir doch!" Ich war von der Nüchternheit der Flure gelangweilt - kein Bild an der Wand, nichts, was irgendwie an lebendiges Leben erinnerte.
MfS-Bezirksverwaltung Rostock, Klassiker, März 1990: Im Treppenhaus entdeckte ich doch einige Bilder - die Porträts der "Klassiker" Marx, Engels und Lenin. Aus ihren Hinterlassenschaften entstand die Ideologie des Marxismus-Leninismus, dessen Bewacher in diesem Ministerium tätig gewesen waren.
MfS-Bezirksverwaltung Rostock, Tschekist, März 1990: "Tschekist sein kann nur ein Mensch mit heißem Herzen, kühlem Verstand und sauberen Händen". Dieses Zitat stammt vom links abgebildeten Felix Dzerzynski. Er war im Auftrag Lenins der Gründer der sowjetrussischen Geheimpolizei "Tscheka" und der "bewaffnete Arm der Diktatur des Proletariats" unter der Terrorherrschaft der Bolschewiki. Das Ministerium für Staatssicherheit der DDR trug seinen Namen.
MfS-Bezirksverwaltung Rostock, Kampforden, März 1990: Die DDR zählte, was die Produktion von Orden, Medaillen und Ehrennadeln betraf, zur Weltspitze. In diesem Raum fand ich etwa den "Kampforden für Verdienste um Volk und Vaterland, verliehen am 08.02.1987, dem Ehrentag des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR 'Felix Dzerzynski'".
MfS-Bezirksverwaltung Rostock, Dekoration, März 1990: Mein Begleiter schloss eine Bürotür auf und gönnte mir eine Aufnahme von der nüchternen Inneneinrichtung. An einer Wand standen versiegelbare Stahlschränke. Ich hatte das Gefühl, dass diese extra für mich mit staatstragenden Symbolen wie dem Panzerkreuzer Aurora, einem Porträt Lenins und einigen Gastgeschenken des befreundeten KGB dekoriert worden waren.
MfS-Bezirksverwaltung Rostock, Besprechungsraum, März 1990: Hier versammelten sich die Offiziere des geheimen Ministeriums um den Chef der Bezirksverwaltung - Generalleutnant Mittag, Träger des Vaterländischen Verdienstordens in Gold.
MfS-Bezirksverwaltung Rostock, Kantine, März 1990: Ebenfalls im Kellergeschoss befand sich die Kantine. Sie unterschied sich bis auf die mit Plastikfolien überzogenen weißen Tischdecken und der gepolsterten Bestuhlung nicht wesentlich von den Einrichtungen zu Arbeiterversorgung in den "volkseigenen" Betrieben.
MfS-Bezirksverwaltung Rostock, Lenin, März 1990: Auch in der Kantine befanden sich kein Kunstwerk und kein Wandschmuck, die irgendwie auf lebendiges oder reales menschliches Leben im "Arbeiter- und Bauernstaat" hinwiesen. Dafür ein geknüpfter Teppich mit dem Porträt Lenins und der Losung: "Der Name und das Werk Lenins bleiben ewig bestehen".
MfS-Bezirksverwaltung Rostock, Akten, März 1990: Eigentlich dachte ich während meiner Aufnahmen in der MfS-Bezirksverwaltung 1990 schon, genug Aufnahmen zu haben - doch dann lugte ich noch durch den Spalt eines Vorhangs in einen verdunkelten Raum. Ich sah einen riesigen Berg Akten. Widerwillig schloss mein Begleiter mir auf, ich machte diese Aufnahme von leeren Aktenordnern, deren brisante Inhalte vernichtet worden waren.
Unabhängiger Untersuchungsausschuss, März 1990: Die Mitarbeiter des Unabhängigen Untersuchungsausschusses baten bei meinem Besuch noch um ein Foto in ihrem Büro, wo sie bereits begonnen hatten, Akten auszuwerten. Hier erhielt ich die ersten Hinweise auf meine eigene systematische Überwachung.
Berlin-Hohenschönhausen, Zaun, 2012: Das Schicksal, in der DDR mit der Stasi-Haftanstalt Hohenschönhausen Bekanntschaft zu schließen, ist mir glücklicherweise erspart geblieben. Im Einleitungsbericht zu der 1986 gegen mich eingeleiteten Operativen Personenkontrolle hieß es: "Ziel der OPK ist die (...) Erarbeitung von Informationen und Beweisen, die den Verdacht einer Straftat gemäß §§ 106, 220 StGB begründen." Glücklicherweise konnte mir nicht nachgewiesen werden, ein Staatsfeind der DDR zu sein.
Berlin-Hohenschönhausen, Zelle, 2012: Möglicherweise hatte weniger zu meiner Verhaftung gefehlt, als ich vermutet hatte. So hielt der Bericht der Operativen Personenkontrolle fest, ich sei "mehrmals in geschickter Form in der Vergangenheit mit negativen politisch-ideologischen Haltungen und Äußerungen in Erscheinung getreten" und hätte "ideologisch ungefestigte Fotofreunde" um mich gesammelt. Ich hatte wohl Glück, nicht in einer solchen Zelle zu landen.
Berlin-Hohenschönhausen, Schreibmaschine, 2012: Schreibmaschine für das Protokoll beim Verhör, aufgenommen in der ehemaligen Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit
Berlin-Hohenschönhausen, Pritsche, 2012: Als ich 1999 meine eigene Stasi-Akte einsehen konnte, sagte mir die Mitarbeiterin der Außenstelle des "Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR", mein Leben in der DDR sei ein Hochseilakt gewesen: "Ein falscher Schritt, und Sie wären abgestürzt!"
Berlin-Hohenschönhausen, Folterkammer, 2012: Politisch Aktive wurden nach Feststellung einer "staatsfeindlichen Tätigkeit" gegen hohe Summen in die Bundesrepublik verkauft, was die stetig klamme Devisenkasse des Staates auffrischte. Folterungen wurden so durchgeführt, dass körperliche Schäden nicht offensichtlich waren. Die seelischen Schäden vieler Betroffener sind bis heute umso schlimmer.
Ehemalige SED-Bezirksleitung Rostock, 2014: Der eigentliche Auftraggeber für die Bezirksverwaltung der Staatssicherheit saß in diesem Gebäude - die SED-Bezirksleitung, in diesem Fall unter dem 1. Sekretär Ernst Timm. Auch dieses Gebäude wurde im Herbst 1989 von Bürgerrechtlern besucht. Doch außer den Telefonen auf den Schreibtischen wurde nichts gefunden. Heute befindet sich in dem Haus ein Sozialamt.
Wohnhaus Rostock-Schmarl, 1985: Bei der Lektüre meiner Stasi-Akte entdeckte ich, dass in meiner ehemaligen Wohnung in Rostock in diesem Gebäude am 8. April 1987 eine "konspirative Durchsuchung" durchgeführt worden war. Aufgelistet waren unter anderem alle meine geerbten Bücher, die von westlichen Verlagen herausgegeben wurden.
Wohnzimmertisch, Rostock 1985: Persönliche, "gefährliche" Dinge in meiner Rostocker Wohnung. Darunter ein Buch vom West-Verlag, Korrespondenz mit dem "NSW", dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet, und, was noch gefährlicher war: mit Polen. Der Zwischenbericht von 1987 hielt fest: "Leider konnte die Korrespondenz in englischer Sprache nicht ausgewertet werden."
Bunker, Tessin 2011: Am Hauptgefechtsstand der Volksmarine der DDR in Tessin hielt ich dieses Schild fest. Zum "Wohle des Volkes" hatte die Staatssicherheit in der DDR auch mein Leben durchleuchtet. Festgehalten wurde, meine "politische Grundeinstellung zu den gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR" sei "geprägt durch westliche Denkweisen zu Problemen der persönlichen Freiheit, der Reisetätigkeit und der Rolle der Kunst in der sozialistischen Gesellschaft sowie die führende Rolle der SED".
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