Fotostrecke

Vor Gericht mit Michael Jackson: Der Tag, an dem der Mythos zerbrach

Foto: KEVORK DJANSEZIAN/ AP

Vor Gericht mit Michael Jackson Der Tag, an dem der Mythos zerbrach

Die Trauerfeier für Michael Jackson macht aus dem King of Pop einen Heiligen. Vergessen die Abgründe, die 2004 der Sex-Prozess gegen den Star offenbarte. SPIEGEL-ONLINE-Reporter Marc Pitzke war damals im Gerichtssaal - und erlebte die dunkle Seite seines Jugendidols.

Er ist größer als erwartet. Gertenschlank, feenhaft, zerbrechlich, fast transparent. Und doch sofort die mächtigste, die einzige Präsenz, als er den vollen Saal betritt. Alle anderen schrumpfen zu Statisten.

"Er sieht aus wie ein Gespenst", murmelt Marcia Clark neben mir zufrieden. Dann fördert die frühere O.-J.-Simpson-Anklägerin, seither zur TV-Klatschkorrespondentin mutiert, einen Pappbecher Kaffee aus ihrer Handtasche hervor.

Michael Jackson trägt einen dunklen Blazer mit Goldwappen und weißer Armbinde. Sein langes Haar ist zu Wellen gefönt und schimmert matt. Das gnadenlose Neonlicht lässt seine hageren Wangenknochen und seine Nasenprothese durch die bleiche Schminke scheinen. Wortlos schwebt er nach vorne, auf die Anklagebank.

Ein aufregendes, abstoßendes, anrührendes Schauspiel

Freitag, 16. Januar 2004, 8.45 Uhr: Dienstliche Begegnung mit meinem Jugendidol, in Verhandlungssaal 102 des Bezirksgerichts im kalifornischen Santa Maria, vor dem Jackson wegen Kindesmissbrauchs angeklagt ist. Und zugleich das Ende eines Mythos, für mich persönlich wie wohl für viele andere. Ein aufregendes, abstoßendes und anrührendes Schauspiel, das erst heute, fünfeinhalb Jahre später, so richtig Sinn ergibt, unter dem Eindruck der weltweiten Traueraufwallung.

Meine allererste LP war Michael Jacksons "Thriller", Soundtrack meiner Studentenzeit. Als nächstes besaß ich "Bad" und "Dangerous". Danach verlor ich ganz plötzlich das Interesse.

Doch es ist der Tag im Gericht, der Jacksons Image auch für mich ein für allemal verbiegt, nach all den Jahren der Gerüchte und des Gemunkels. Der Tag, der ihn zu jenem Medienphänomen macht, das er seither sein würde und auch im Tod noch ist, erst recht.

Die zwei Gesichter des Michael Jackson

Ein Segen des Reporterjobs ist es, dass er einem oft einen Logenplatz zur Geschichte bietet. In diesem Fall ist es Sitz C2 im Gericht, dank einer Verlosung im frühen Morgengrauen unter Hunderten Reportern. SPIEGEL ONLINE hat als einzige deutsche Publikation Losglück. Im Nachhinein wünscht man sich, sich an jenem Tag noch viel mehr Notizen gemacht zu haben als nur den einen DIN-A-5-Block, gefüllt mit heute kaum mehr lesbaren Kritzeleien.

Bleibender Eindruck ist die bizarre Zirkusatmosphäre, drinnen wie draußen, in diesem sonst so idyllischen Weinort vier Autostunden nordwestlich von Los Angeles. Doch schon damals, inmitten der Hysterie, offenbaren sich die zwei Seiten Jacksons hinter der Fratze des Freaks, die wir ihm verpasst haben.

Die eine ist das weltfremde, ewige Kind, das weder Gesetze kennt noch Schuldbewusstsein. Die andere ist der unangreifbare Star, den im Rampenlicht alle Furcht verlässt. Wo sich beide treffen, da wird es kompliziert. "Talent und Tragöde", titelt "People" später zu seinem Tod.

Beginn eines Jahrhundertprozesses

Was wir im Gerichtssaal noch nicht ahnen: Der Prozess von Santa Maria ist nur Ouvertüre. Ein erster Vorgeschmack auf das Mega-Drama, das die öffentliche Person Michael Jackson hernach prägen wird, bis über den Tod hinaus.

Es ist, wie mich ältere Kollegen und Simpson-Veteranen belehren, ein "Jahrhundertprozess": Der King of Pop, angeklagt eines unsagbaren Vergehens, der Kinderschändung. Weshalb die paar erträglichen Hotels in Santa Maria längst ausgebucht sind, obwohl der Januar hier sonst der müdeste Touristenmonat ist. Viele Kollegen quartieren sich 110 Kilometer entfernt in Santa Barbara ein, an der goldenen Pazifikküste.

Ich bekomme noch ein Zimmer im Rose Garden Inn, einem nach Zigaretten stinkenden Motel an der Main Street von Santa Maria, das die Preise in Vorfreude auf den Ansturm geschäftstüchtig von 49,50 auf 139 Dollar pro Nacht erhöht hat. Dafür gibt's einen nierenförmigen Pool und eine Sonnenecke.

Santa Maria weiß seine "15 minutes of fame" zu nutzen, seine Viertelstunde im Blick der Welt. Die Anwohner vermieten ihre Vorgärten als Stellplätze für TV-Trucks. Andere brutzeln Burger auf Holzkohlegrills und verkaufen sie an Reporter. Straßenhändler bieten T-Shirts feil ("Lasst ihn in Ruhe"), zehn Dollar das Stück. Ein TV-Satellitenunternehmen bietet Internet auf Klapptischen, 25 Dollar pro Tag, 2750 Dollar für ein komplettes "Übertragungspaket".

Sitzverlosung für Journalisten

Der emsige Pressesprecher des Gerichts bittet uns um sechs Uhr früh zur Sitzverlosung. Nur 61 Medienplätze gibt es, 76 weitere in einem "Overflow Room" nebenan, der Rest muss draußen bleiben. Saal 102 ist hell und holzgetäfelt, einziger Blickfang sind ein US-Sternenbanner und das Siegel Kaliforniens. Eine uniformierte Wärterin warnt barsch: "Wer sich nicht benimmt, fliegt raus." Ein Schild gebietet: "Kein Essen, Kauen oder Trinken."

Jacksons Eltern Katherine und Joe sitzen in der zweiten Reihe, zum Greifen nahe. Joes Gesicht, in einen grauen Anzug gefaltet, ist schon damals ledern und griesgrämig. Dahinter sitzen die Brüder Jermaine und Tito, verteilen Luftküsschen ans Publikum. Die Familie, auch da bereits solidarisch mit dem Brotverdiener.

Schwester Janet kommt als Letzte, die Augen hinter einer übergroßen Sonnenbrille verborgen, im weißen Kamelhaarmantel mit hohem Kragen, darunter ein schwarzer Rolli. Sie hat ein makelloses Puppengesicht, aber die auffällig sehnigen Hände einer alten Frau.

"Das wird schlimmer als O.J."

So nahe ist keiner von uns Michael Jackson je zuvor gewesen - und wird es nie wieder sein. Nur ein paar Meter trennen den Angeklagten von den Zuschauern. Doch daran denkt keiner. Mein Füller streikt, typisch. Ich leihe mir einen Stift von Marcia Clark, die neben mir sitzt.

Clark ist neun Jahre zuvor damit gescheitert, O.J. Simpson wegen Mordes hinter Gitter zu bringen. Jetzt jobbt sie für "Entertainment Tonight", das TV-Klatschmagazin, das hier seine gesamte Redaktion im Einsatz hat. Clark schmuggelt nicht nur dampfenden Kaffee in den Saal, sondern delektiert ihre Umgebung auch mit rüden Anekdoten aus jenem anderen Jahrhundertprozess, den sie mitbestimmt hat.

"Dies wird schlimmer als O.J.", prophezeit sie. "Glaubst du?", sagt Jeff Toobin, Edelfeder des "New Yorker", CNN-Korrespondent und selbst früher Staatsanwalt, der schräg hinter Clark sitzt. "Warte nur ab", weiß Clark. "Das wird noch irre." Wissende Blicke. Clark und Toobin haben mit Simpson-Büchern Millionen verdient, jetzt folgt ihr nächster Streich.

Clark arbeitet heute immer noch für "ET" und bloggt für die Klatsch-Website "Daily Beast", wo sie ihre jüngste Kolumne mit den Worten überschrieb: "Who killed Michael Jackson?" Toobin ist bei CNN vom Korrespondenten zum (besser bezahlten) Kommentator aufgestiegen und dort nun auch bei Jacksons Tod überall.

Reglos auf der Anklagebank

Jackson bemüht sich fast 20 Minuten zu spät vor Gericht. "Mr. Jackson, Sie haben mit mir auf dem falschen Fuß begonnen", bellt der Vorsitzende Richter Rodney Melville, ein kleiner Mann mit weißem Haar und weißem Bart.

Jackson hört der Anklageverlesung reglos zu, seine dürre Figur ist aufrecht, stocksteif. Es sind vernichtende Worte, die sich hinter dem Aktenzeichen 03-12-098996 verbergen, wenn auch unbewiesen. "Unzüchtige Akte gegen ein Kind." "Verabreichen einer berauschenden Substanz an ein Kind." Ich sehe, wie sich Janet Jacksons Hände zu blutleeren Fäusten ballen.

"Verstehen Sie die Natur der Vorwürfe?", fragt Melville. "Ja", wispert Jackson mit hoher Stimme. Dann, kaum hörbar: "Nicht schuldig." Die gesamte Pressebank beugt sich vor.

Die zwölf Geschworenen werden sich dieser Unschuldserklärung eineinhalb Jahre später anschließen. Zu spät für Jacksons Image.

Binnen Sekunden wieder ein Star

Der erste Verfahrenstag endet so grotesk, wie er begonnen hat. Jackson entschuldigt sich zur Pinkelpause, kehrt aber nicht mehr zurück. Der Richter murrt und vertagt die Verhandlung.

Der Angeklagte wird derweil draußen unter einem schwarzen Sonnenschirm zu seiner Autokolonne geführt, wie ein gerade aus dem Sanatorium entlassener Kranker. Hunderte Fans kreischen, schreien, brüllen, heulen. Wir Reporter kommen dabei fast unter die Räder.

Unvermittelt klettert Jackson aufs Dach seines Jeeps, winkt huldvoll, tänzelt ein bisschen herum, klatscht in die Hände. Die Verlegenheit und das kindliche Unverständnis, das er im Gerichtssaal zutage legte, sind wie weggewischt. Er verstrahlt eine Aura des Selbstbewusstseins. Selbst auf dieser absurden Bühne wird er binnen Sekunden wieder zum Star, erwacht zum Leben. Dies ist die Welt, die er versteht. "We love Michael!", skandiert die Menge schrill.

"Wie love Michael!", rufen sie auch am Dienstag bei der Trauerfeier. Der Kreis schließt sich. Der Mythos, der an jenem Freitag in Saal 102 zerbrach, ist wiederhergestellt, wenn auch nur kurz. "Vielleicht", sagt Jacksons Bruder Marlin, "werden sie dich jetzt in Ruhe lassen."

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren