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Geschichte der deutschen Wahlkämpfe: War früher mehr Lametta?

Foto: Christian Charisius / REUTERS

Wahlkämpfe in Deutschland »Früher wurde mit wüsten Diffamierungen gearbeitet«

Fade Kampagnen, farblose Kandidaten, flaue Kontroversen – früher war mehr Lametta, kurz vor Bundestagswahlen knisterte es. Wirklich? Forscher Thomas Birkner warnt vor einer Verklärung der Vergangenheit.
Ein Interview von Joachim Mohr

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SPIEGEL: Herr Birkner, wagen Sie eine Voraussage, wer Angela Merkels Nachfolge antreten wird?

Birkner: Für mich als Kanzler-Forscher ist das natürlich sehr spannend, denn die Deutschen bestimmen ja nicht nur einen neuen Bundeskanzler oder eine neue Kanzlerin, sondern auch mein nächstes Forschungsobjekt (lacht). Allerdings traue ich mich nicht vorherzusagen, wer am Ende das Rennen macht – zumal die Kanzlerin oder der Kanzler nicht direkt gewählt werden, sondern vom Bundestag, und sehr unterschiedliche Koalitionen denkbar sind.

SPIEGEL: An den Spitzenkandidaten entzündete sich zuletzt viel Kritik, auch dass Armin Laschet, Olaf Scholz und Annalena Baerbock so einschläfernd seien. Hatten wir früher mitreißendere Kandidaten?

Birkner: Die Menschen neigen dazu, die Vergangenheit zu verklären, auch in der Politik. Und sagen dann, früher waren die Kandidaten noch ganz andere Kerle, die Wahlkampagnen wilde Schlachten. Aber wie war das, als Angela Merkel gegen die Sozialdemokraten Frank-Walter Steinmeier 2009, Peer Steinbrück 2013 oder Martin Schulz 2017 antrat? Diese Wahlkämpfe waren fade, weil relativ klar war, dass die Amtsinhaberin gewinnen würde. Genauso öde war es etwa 1994 bei Rudolf Scharping gegen Helmut Kohl.

SPIEGEL: Früher war also auch nicht mehr Lametta?

Birkner: Es gab in der Geschichte der Bundesrepublik dramatische Wahlkämpfe, wenn über tiefgreifende Grundsatzfragen gestritten wurde, etwa in den Fünfzigerjahren über die Westbindung, in den Sechzigern und Siebzigern über eine neue Ostpolitik oder in den Achtzigern über die Nachrüstung.

SPIEGEL: Klimaschutz finden dagegen jetzt alle Parteien wichtig.

Birkner: Heute gibt es zwischen den großen demokratischen Parteien keine radikalen Gegensätze mehr, es dreht sich mehr um unterschiedliche Schwerpunkte und Herangehensweisen an politische Fragen. Und Journalisten machen aus dem Wahlkampf natürlich gern ein Horse race, stürzen sich also auf die Kandidaten und fragen, wer am Ende vorn liegen wird.

SPIEGEL: Adenauer gewann 1957 mit dem Slogan »Keine Experimente!«. Kohl wurde als »Birne« verspottet, regierte aber 16 Jahre, ebenso wie Merkel, die nicht durch Temperament brilliert. Mögen die Wähler eher langweilige Spitzenpolitiker?

Birkner: Es gibt eine Kluft zwischen dem Blick von Medienschaffenden, die etwa Olaf Scholz als farblos, zu brav, zu defensiv empfinden, und der Wahrnehmung vieler Wählerinnen und Wähler. Sie bewerten ihn als seriös und zuverlässig. Und das kommt an, wie die aktuell guten Umfragen zeigen.

SPIEGEL: Wirkt der Wahlkampf auch deshalb so inhaltsleer, weil die Unterschiede zwischen den einstigen Volksparteien CDU und SPD eingeebnet sind?

Birkner: Angela Merkel hat in ihrer Regentschaft die CDU immer stärker in die Mitte gerückt, angestammte Positionen der SPD und der Grünen übernommen und damit eine Sozialdemokratisierung der Union betrieben. Und derzeit kann man wiederum einer Art Vermerkelung des SPD-Spitzenkandidaten Scholz feststellen. Heute herrscht eben viel Konsens. Über die Nato-Mitgliedschaft etwa wurde in den Fünfzigerjahren heftig gestritten, heute ist sie weithin akzeptiert. Bei den vergangenen drei, vier Bundestagswahlen hieß es in den Wahlkampfzentralen, die Wahlen werden in der Mitte gewonnen. Das stimmte, führte aber zu einer Angleichung der Parteien.

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Geschichte der deutschen Wahlkämpfe: War früher mehr Lametta?

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SPIEGEL: Der Wahlkampf 2021 wirkt viel zahmer als etwa 1980: Da beschimpfte CDU-Generalsekretär Heiner Geißler die SPD als »fünfte Kolonne Moskaus«, während Sozialdemokraten und andere linke Gruppen den Unionskandidaten Franz-Josef Strauß mit ihrer »Stoppt Strauß«-Kampagne in die Nähe des Faschismus rückten.

Birkner: Das sogenannte Negative Campaigning geht heute teilweise subtiler vor. Früher wurde tatsächlich mit teils unglaublich harten Bandagen und wüsten Diffamierungen gearbeitet. So warf man Willy Brandt in Wahlkämpfen seine uneheliche Herkunft und sein Exil während der Nazizeit vor. Strauß erklärte, man werde ja wohl noch fragen dürfen, was Brandt in den zwölf Jahren gemacht habe – aus heutiger Sicht unfassbar.

SPIEGEL: Dagegen wirken Angriffe auf Grünenkandidatin Baerbock wegen Unstimmigkeiten in ihrem Lebenslauf und einem Buch harmlos.

Birkner: So ist es. Wer Regierungschefin werden will, muss ein wenig Gegenwind aushalten. Wir erleben einen weitgehend fairen Wahlkampf ohne Diffamierungen, zwischen den Parteien geht es gesittet zu. In den sozialen Medien ist das natürlich nicht immer so.

SPIEGEL: Zu Adenauers Zeit gab es nur Zeitungen und ein Fernsehprogramm in Schwarz-Weiß. Wie hat sich die wachsende Vielfalt der Medienwelt ausgewirkt?

Birkner: Medien haben in allen Bundestagswahlkämpfen eine große Rolle gespielt. Konrad Adenauer wie auch SPD-Chef Erich Ollenhauer haben bereits in den Fünfzigerjahren überlegt, wie sie Journalisten beeinflussen können, in welchen Redaktionen Sympathisanten sitzen, wo Kommentare oder Leitartikel im Sinn der eigenen Partei unterzubringen sind. Und da schon fühlten sich Politiker ungerecht behandelt und unterrepräsentiert. So hielt Adenauer die öffentlich-rechtlichen Sender für einen SPD-nahen »Rotfunk« und hat immer versucht, gegen sie zu arbeiten. Das Fernsehen entfaltete ja eine enorme Wucht, weil die Kandidaten den Bürgern sozusagen in deren Wohnzimmern ihre Politik erklären konnten, beziehungsweise dies zumindest annahmen.

SPIEGEL: Inzwischen haben wir eine immense Medienvielfalt, zudem unablässig detaillierte Meinungsforschung. Verblassen dadurch die politischen Programme und Grundüberzeugungen der Parteien?

Birkner: Der fast unbegrenzte Zugriff auf politische Informationen stellt Parteien vor neue Fragen: Wie bespielt man all die Kanäle? Wie spreche ich junge Leute auf Instagram an, wie die eher älteren auf Facebook? Was bringen Plakate auf den Straßen noch? Das alles bedeutet viel Aufwand, der zulasten der Politik selbst geht. Schon Helmut Schmidt hat gesagt, dass ein erheblicher Teil seiner Arbeit nicht darin besteht, Politik zu durchdenken und umzusetzen, sondern in der Kommunikation darüber. Heute wird Politik oft in Echtzeit kommuniziert, also während sie entsteht. Sie in Ruhe zu entwickeln, ist im medialen Dauerfeuer kaum mehr möglich.

SPIEGEL: Und die Selbstinszenierung umso wichtiger?

Birkner: Die Kandidaten haben sich schon früher inszeniert. Adenauer hat sich beim Bocciaspielen gezeigt oder wie er seine Rosen pflegte. Willy Brandt wollte sich als der deutsche John F. Kennedy darstellen, jung und dynamisch. Helmut Schmidt hat einmal bewusst in eine Kamera gesagt, dass Politik auch Kampfsport sei und ihm das gefalle. Er wollte als entschlossen und durchsetzungsfähig rüberkommen.

SPIEGEL: Gehört auch Unterhaltung zum Wahlkampf?

Birkner: Sicher – solange man nicht übertreibt, wie Guido Westerwelle vor der Bundestagswahl 2002: Der FDP-Vorsitzende trat in einer Fernsehsendung mit einer 18 auf der Schuhsohle auf, um das Wahlziel von 18 Prozent der Stimmen zu signalisieren. Das haben die Wählerinnen und Wähler nicht goutiert. Am Ende kamen die Liberalen auf nur 7,4 Prozent.

SPIEGEL: Es gibt so viele Koalitionsmöglichkeiten wie noch nie. Wann werden wir wissen, wer Kanzler oder Kanzlerin wird?

Birkner: Das kann dauern. Aber schon früher war es nach Schließung der Wahllokale nicht sofort klar: 2002 hat sich Unionskandidat Edmund Stoiber zum Sieger erklärt, dann wurde es doch Gerhard Schröder. Und Helmut Kohl bekam 1976 mit 48 Prozent die meisten Stimmen, aber SPD und FDP haben gemeinsam Helmut Schmidt zum Kanzler gewählt. Diesmal wird es auf jeden Fall spannend.

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