
Wahlen in der DDR: "Es muss demokratisch aussehen"
Wählen in der DDR Zettel falten, Schnauze halten
"Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben." Diese Aussage von Walter Ulbricht, der nach 1945 in der sowjetischen Besatzungszone den Stalinismus installierte und 1961 die Mauer bauen ließ, überlieferte Wolfgang Leonhard im Buch "Die Revolution entlässt ihre Kinder".
Meine erste "demokratische" Wahl erlebte ich 1971 mit 18 Jahren und wurde als Erstwähler mit einem Blumenstrauß begrüßt. Die Wahlbeteiligung und die Ja-Stimmen zur Volkskammerwahl wurden mit 98,48 bzw. 99,85 Prozent angegeben. Angesichts dessen, was die Mitmenschen täglich redeten, waren diese Angaben zweifelhaft.
Turnusgemäß alle fünf Jahre führte die DDR Volkskammer- und Kommunalwahlen durch. An öffentlichen Gebäuden, Straßen und Plätzen wehte Fahnenschmuck. Schwarzrotgold mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz stand für die Deutsche Demokratische Republik, die zwar deutsch, doch weder demokratisch noch eine Republik war. Rote Fahnen repräsentierten die Arbeiterklasse. Das Blau mit der gelben aufgehenden Sonne symbolisierte die in der Freien Deutschen Jugend organisierte Zukunft des Staates, der sich offiziell als "Diktatur des Proletariats" bezeichnete.
In die von der sozialistischen Mangelwirtschaft gezeichneten Läden wurden vorher zurückgehaltene Waren eingespeist. Sie sollten der Bevölkerung das Gefühl geben, dass es mit dem Sozialismus gesetzmäßig aufwärts gehe. Wahlen in der DDR waren aber auch ein günstiger Moment, sich bis hinauf zur Regierung vorsichtig über Missstände zu äußern. Der Ton der Beschwerden klang meist devot. Jeder wusste, dass nach der Wahl wieder Alltag einkehrte und die staatlichen Stellen ein gutes Gedächtnis hatten.

Wahlen in der DDR: "Es muss demokratisch aussehen"
Die Leiter der staatlichen Handelsorganisationen hatten die Aufgabe, die Schaufenster mit Wink- und Propagandaelementen zu dekorieren. Daran war nie Mangel in der sozialistischen Mangelwirtschaft. Plakate mit sozialistischen Botschaften warben um "Deine Stimme den Kandidaten der Nationalen Front!" Die Plakate waren klein, fast unscheinbar. Jeder Bürger hatte dafür Verständnis, war Papier doch allgemein knapp.
Mehr wäre allerdings auch Verschwendung gewesen.
Wahlkampf nicht nötig
Es war unnötig, dass sich die Kandidaten in einem Wahlkampf durchsetzen. Sie wurden von der Wahlkommission der "Nationalen Front", dem Zusammenschluss aller staatlichen Parteien und Massenorganisationen, entsprechend ihrer vermeintlichen Eignung berufen. Im Ergebnis standen Vertreter jeder dieser Organisationen als Stimmvieh zur Verfügung. Die Scheinwahlen waren geschickt getarnt. Als Arbeitskollektiv mussten wir der Kandidatur unseres staatlichen Leiters für die Stadtverordnetenversammlung der Bezirksstadt sogar zustimmen, was wir auch taten.
Die Überlegung dahinter: Nach seiner Wahl würde in der Zeitung stehen, wann er nicht auf der Arbeitsstelle erscheint. Das bedeutete elementare Vorteile für die privaten Interessen der Arbeiterklasse, also uns. Die Eignung als Volksvertreter war Nebensache, denn ohnehin war klar, dass unser Chef in dem Gremium weder Schaden anrichten konnte noch daraus ein Nutzen folgte.
Ein Kollege war sogar Volkskammer-Abgeordneter, für die CDU. Bevor die SED während seines Ingenieurstudiums die Finger nach ihm ausstrecken konnte, war er der Blockpartei beigetreten, für die feste Sitze im Saal des Palastes der Republik vorgesehen waren. Er besaß einen Freifahrtschein für alle öffentlichen Verkehrsmittel der DDR. Auf meine Frage, ob er schon einmal eine Gegenstimme abgegeben habe, antwortete er nur: "Ich bin doch nicht lebensmüde."
Fahnenhalter serienmäßig
Meine Frau und ich hatten nach langer Wartezeit gemeinsam eine Plattenbauwohnung beziehen können, als vor der Kommunalwahl 1984 der Leiter der Hausgemeinschaft - zugleich Volkspolizist und Abschnittsbevollmächtigter - Vertreter aller 16 Familien zur Versammlung in den Trockenraum einberief. Probleme gab es keine zu besprechen, denn die Hausgemeinschaft erledigte die Hausreinigung und Grünanlagenpflege vorbildlich. Also verkündete er, wie er sich die Beflaggung am Wahlsonntag vorstellte: Die Wohnungen links und rechts mit Balkon sollten die Staatsflagge der DDR, die balkonlosen Wohnungen in der Mitte die rote Flagge der Arbeiterklasse anbringen. Fahnenhalter hatte man bereits bei Errichtung des Plattenbaus serienmäßig installiert.
Dieses erzwungene Bekenntnis zur Systemtreue auf Anweisung eines Volkspolizisten war mir zuwider. Ich konnte mir allerdings auch lebhaft vorstellen, welches Signal eine Nichtbeflaggung aussenden würde. Das bereitete mir Kopfzerbrechen.
Der Abschnittsbevollmächtigte schlug zudem vor, dass die Hausgemeinschaft am Wahlsonntag um 10 Uhr geschlossen zum Wahlbüro geht. Nach Aufforderung hoben zaghaft fast alle Bewohner zustimmend die Hand; ich war froh, hinter einem Mann zu stehen, der über 1,90 Meter groß und recht breit war. Erneutes Kopfzerbrechen.
Am Freitag vor dem Feierabend um 16.15 Uhr fragte der Meister, staatlicher Leiter meines Kollektivs, bei einer letzten Runde jeden Kollegen: "Gehst du am Sonntag zur Wahl?" Das war sein Parteiauftrag. Ein "Nein" wäre sinnlos gewesen. Jeder kannte die unangenehmen Folgen. Trotzdem meldete sich das Gewissen und fragte, ob es richtig sei, was man tat. Es gehörte bereits Mut dazu, in einer als vorbildlich geltenden Hausgemeinschaft keine Flagge aus dem Fenster zu hängen.
Die fehlenden 0,2 Prozent
Über Jahrzehnte verkündeten am Montag nach der Wahl die SED-Zeitung "Neues Deutschland" sowie identisch alle 15 "Bezirksorgane" in großer Aufmachung, dass sich die Bevölkerung der DDR fast vollständig zu Frieden und Sozialismus bekannte. Die Ja-Stimmen wurden generell mit über 99,8 Prozent angegeben.
Dass es nicht gleich 100 Prozent waren, lag an Bürgern wie meinem Vater, die prinzipiell nicht zu den Wahlen gingen. Arbeiter mit Erfahrungen aus dem Jahr 1953 waren ein anderer Schlag Menschen und trotzdem für die Volkswirtschaft unverzichtbar. Viele waren als Rentner oder Antragsteller für eine Umsiedlung in die Bundesrepublik ohnehin schon in Gedanken im Westen. Deshalb wurden diese "Elemente" mit weniger als 0,2 Prozent in der Statistik berücksichtigt. Ansonsten wäre die Fälschung zu offensichtlich gewesen.
Die Wahllokale öffneten um 8 Uhr, die Kleingärtner brachten das Procedere zuerst hinter sich. Die Bevölkerung war über Jahrzehnte dazu erzogen worden, bis Mittag die Stimme abzugeben. In den Stunden bis 18 Uhr mussten die Wahlhelfer auf die 0,2 Prozent der Bürger warten mit der Gewissheit, dass diese ohnehin nicht kämen.
Etwa ab 15 Uhr war die Langeweile nicht mehr zu ertragen, nun klingelten die Helfer mit der Wahlurne unterm Arm an den Wohnungstüren der Hartnäckigen. Wie diese reagierten, kann ich nur erahnen.
Zwei auffällig unauffällige Männer
Auch meine Frau und ich brachten das Zettelfalten bis Mittag hinter uns, um am Sonntagnachmittag Zeit für einen Spaziergang zu haben. Es kam uns als zu angepasst vor, mit dem Kollektiv der Hausgemeinschaft unter Führung eines Volkspolizisten zum Wahllokal zu traben. Wir gingen allein.
Dort standen fünf Tische, dahinter die Wahlhelfer. Beim ersten legten wir unsere Wahlbenachrichtigung vor, beim zweiten unsere Personalausweise, der Helfer machte einen Vermerk. Am dritten Tisch erhielten wir den Zettel mit den Kandidaten der Nationalen Front, und am vierten Tisch erwartete lächelnd der Wahlhelfer, dass wir den Zettel falten und in die Urne werfen. Am fünften Tisch saßen auffällig zwei unauffällige Männer.
Ein Ankreuzen von Wunschkandidaten gab es nicht. Man faltete den Zettel und warf ihn ein. Das war die Ja-Stimme. Nur Streichungen jedes einzelnen Kandidaten zählten als Nein-Stimmen. Ich blickte mich nach der Kabine um. Sie stand weit hinten in der Ecke. Es war offensichtlich, dass die auffällig unauffälligen Männer jeden namentlich registrieren konnte, der in die Kabine ging.
Am Montag stand auf den Titelblättern aller Zeitungen das vorgefertigte Wahlergebnis. Erst Wochen später sprach sich herum, dass sich in unserem Wahlkreis ein junger Mann getraut hatte, die Kabine aufzusuchen, bevor er seinen Zettel in die Urne warf. Jeder kannte ihn. Nur eine gültige Gegenstimme wurde gezählt, die Leute zogen ihre Schlussfolgerungen. Manche sagten: "Ach, der? Typisch! Das habe ich schon immer gewusst!"