Kleine Flaggenkunde Warum rechte Demonstranten Kaiserreich- und Wirmer-Flaggen schwenken

Fähnchen im Wind: Die Flagge des Kaiserreichs wird derzeit vor allem bei Demonstrationen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen häufig geschwenkt, hier am 29. August 2020 vor dem Reichstagsgebäude. Die schwarz-weiß-rote Flagge ist nicht verboten, stehe aber "für die Ablehnung des gegenwärtigen politischen Systems: des Parlamentarismus, der freiheitlichen, repräsentativen Demokratie und ihrer Eliten", so der Marburger Historiker Eckart Conze im SPIEGEL-Interview .
Fabian Sommer / dpa

Zehn-Minuten-Triumph der Radikalen: Reichsbürger mit Reichsflaggen vor dem Reichstag - in Berlin fanden Rechtsradikale und Mitläufer eine Lücke im Polizeiaufgebot, überrannten die Absperrgitter und stürmten die Treppen zum Reichstagsgebäude empor, um sich selbst zu feiern und später markige Erinnerungs-Selfies posten zu können. Chats in Messenger-Kanälen zeigen , dass die Idee schon lange in Umlauf war und die Umsetzung von Umsturzfantasien diskutiert wurde. Conze erinnert die Szene daran, dass "schon die Feinde der Weimarer Republik unter der schwarz-weiß-roten Fahne des Kaiserreichs die Demokratie bekämpft haben".

Ersatz-Stoff: Neonazis würden am liebsten gleich die Hakenkreuzflagge schwenken, das aber dürfen sie nicht. Weil bei Verwendung verfassungsfeindlicher Symbole Strafen drohen, greifen sie oft zur Kaiserreichsflagge, wie diese rund 300 Anhänger der Zwergpartei Die Rechte bei einem Aufmarsch zum 1. Mai in Essen.
Das Kaiserreich ging 1918 unter. In den Köpfen von Rechtsextremisten lebt die Monarchie fort. Sie schwenken gern Flaggen mit dem Antlitz von Kaiser Wilhelm II. (r.), der das Deutsche Reich in den Ersten Weltkrieg geführt hatte und dann abdanken musste, sowie Reichskriegsflaggen (2. von rechts). Das Bild zeigt eine Pegida-Demonstration 2015 im Berliner Regierungsviertel.

Die Reichskriegsflagge, wie sie die Nazis mit Hakenkreuz und Eisernem Kreuz verwendeten, ist heute verboten. Rechte Demonstranten greifen meist zu anderen, abgewandelten Versionen, wie hier am 30. August 2020 nahe dem Brandenburger Tor. Im Kaiserreich und in der Weimarer Republik gab es mehrere Varianten der Reichskriegsflagge.

Auch die sogenannte Wirmer-Flagge tragen Rechtsextremisten gern spazieren, wie hier bei einer Pegida-Demonstration 2015 in Leipzig. Diese kleine, radikale Minderheit wähnt sich nicht nur als "das Volk", sondern mit dieser Flagge auch als "Widerstandskämpfer" - nämlich in der Nachfolge von Graf Schenk von Stauffenberg. Der Wehrmachtoffizier und seine Verbündeten waren am 20. Juli 1944 mit ihrem Attentatsversuch auf Hitler gescheitert; die meisten bezahlten dafür mit ihrem Leben. Die Flagge als neues Nationalsymbol entworfen hatte der Widerstandskämpfer Josef Wirmer, der den Attentatsplan unterstützte und am 8. September 1944 sofort nach einem Schauprozess vor dem "Volksgerichtshof" hingerichtet wurde.

Was ausgerechnet Rassisten und Neonazis mit dem Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur gemein haben wollen? Das ist schwer zu verstehen. "Diese Leute sehen sich in einer Tradition von Stauffenberg", so hat es "Zeit"-Kolumnistin Mely Kiyak zu erklären versucht . "Sie glauben, wenn sie sich in organisierten Busreisen mit Pumpernickel- und Pinkelpause auf eine Demo kutschieren lassen, habe das den gleichen Stellenwert, als hätten sie eine Aktentasche in der Wolfsschanze abgelegt."
Wo ist das Deutsche Reich geblieben? In den Köpfen und, nur echt in Frakturschrift, auf den T-Shirts von Rechtsextremisten - wie hier 2016 bei einer Demonstration in Berlin, zu der rechte Gruppen wie die NPD, Pegida und HoGeSa aufgerufen hatten. Historiker Eckart Conze sieht deutliche Kontinuitäten vom Kaiserreich zum Nationalsozialismus: "Die Gesellschaft des Kaiserreichs war extrem hierarchisch, der Glaube an die Ungleichheit der Menschen war stark, auch der Rassismus und die Ausgrenzung", sagt er im Interview. "So entstanden Voraussetzungen für die breite Akzeptanz etwa der Judenverfolgung unter den Deutschen, die schließlich im Judenmord gipfelte."

Aphorismen für Deutschland: Otto von Bismarck wird bis heute von vielen Rechten verehrt. Hier bringt die Junge Alternative für Deutschland, Nachwuchsorganisation der AfD, den Teilnehmern des Bundeskongresses 2019 in Magdeburg ein Zitat des "Eisernen Kanzlers" per Plakat nahe - "Wo das Müssen beginnt, hört das Fürchten auf".

Umstrittener Reichskanzler: Von 1871 bis 1890 regierte Bismarck das Deutsche Reich. Gleich nach seinem Rücktritt begann eine Welle der Bismarck-Huldigungen mit unzähligen Denkmälern sowie Plätze, Straßen, Orten oder Schiffen, die nach ihm benannt wurden. Etliche davon gibt es bis heute. Im Juni 2020 wurde diese Bismarck-Statue in Hamburg mit roter Farbe beschmiert, als im Zuge von Anti-Rassismus-Protesten weltweit zahlreiche Kolonialdenkmäler attackiert oder vom Sockel geholt wurden.

Bewegte Geschichte: Der Afrikaforscher, Kolonialbeamte und Offizier Hermann von Wissmann ließ unter der Kolonialherrschaft der Deutschen in Ostafrika Aufstände der einheimischen Bevölkerung Ende des 19. Jahrhunderts brutal niederschlagen. Gegen das Wissmann-Denkmal in Hamburg gab es bereits 1961 Proteste; im Zuge der Studentenbewegung wurde es 1967 attackiert und 1968 vom Sockel gestürzt; in den Nullerjahren kam es zu weiteren Farbattacken. Ab Oktober 2016 wurde die beschädigte Figur dann für sieben Monate in der Berliner Ausstellung "Deutscher Kolonialismus" gezeigt (Foto).