Augenblick mal Flinte für drei Hände

Dieses Riesengewehr auf die leichte Schulter zu nehmen, konnte böse enden. einestages erzählt die Geschichte einer Waffe, die nicht nur für ihr Ziel gefährlich war.
Title: Big gun, 7/30/23Date Created/Published: [19]23 July 30.

Title: Big gun, 7/30/23Date Created/Published: [19]23 July 30.

Foto: Library of Congress

Das Tragen einer Waffe ist in den USA ein verfassungsmäßig verbrieftes Recht. Manchmal trägt man sie besser zu zweit, etwa wenn das Ding so groß und schwer ist wie in diesem Fall. Doch wohin tragen die beiden Herren die Knarre? Was ist ihr Ziel?

Die Aufnahme mit dem schlichten Titel »Big gun« stammt aus dem Archiv der Library of Congress in Washington, D.C., datiert auf den 30. Juli 1923.

Soweit bekannt, fanden in der US-Hauptstadt zu jener Zeit keine größeren Gefechte statt. Und angesichts der industriellen Boomphase, in der sich die amerikanische Wirtschaft damals befand, wirkt das Gewehr seltsam antiquiert. Fast wie selbst geschnitzt. Was also war da los?

Tatsächlich waren Waffen dieser Art zu jenem Zeitpunkt noch in Gebrauch – und das sogar in Europa! Nicht im Gefecht, aber bei der Jagd.

Vorsicht: Rückstoß!

Die beiden Herren auf dem Foto scheinen damit allerdings weniger Erfahrung zu haben. Sonst müsste ihnen klar sein, dass man eine Schrotflinte von diesem Ausmaß beim Abfeuern besser nicht auf der Schulter hält. Der Rückstoß wäre so gewaltig, dass die Herren am Ende vor allem eines davontragen würden: schwere Verletzungen.

Bei der Kanone könnte es sich um eine »punt gun« handeln, benannt nach der Art ihres Gebrauchs: Die Waffe wurde auf ein längliches, flaches Ruderboot – Punt genannt – montiert, während der Schütze beim Zielen bäuchlings ausgestreckt dahinterlag.

Die Größe täuscht womöglich über das Ziel, denn gejagt wurden mit der Riesenkanone keine Seeungeheuer - sondern Wasservögel. Das Prinzip scheint vergleichbar mit dem beim Fischfang: Wozu angeln, wenn man mit einem Netz den ganzen Teich leeren kann? In diesem Fall: Statt auf eine einzelne Ente oder Gans zu zielen, konnte man mit einem Schuss von einem Pfund Schrot einen ganzen Vogelschwarm erlegen.

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Wildvogeljäger Snowden Slights: Der Letzte seiner Art

Foto:

Sydney Harold Smith/Yorkshire Museum

Im Boot knieend und mit Stangen im Grund staksend oder auch mit den nackten Armen im Wasser rudernd, manövrierten sich Wildvogeljäger etwa seit Beginn des 19. Jahrhunderts mit derartigen Megaflinten durch Flussniederungen und seichte Kanäle. Sie wollten dem ahnungslosen Geflügel so nah wie möglich kommen, bis die ersten Tiere den Kopf reckten. Wenn sie dann zum Abheben ansetzten, würde die auf die gestreckten Körper treffende Ladung ihre verheerende Wirkung entfalten.

Mehrere Dutzend Tiere soll es so jeweils auf einen Schlag erwischt haben. In der Lokalzeitung von Mayville im US-Bundesstaat Wisconsin behauptete 1876 ein Jäger, in den Sümpfen von Horicon Marsh, heute Naturschutzgebiet, mit einem einzigen Schuss 96 Enten erlegt zu haben. Den größeren Teil des Tages verbrachte der Schütze vermutlich mit dem Einsammeln der Beute.

Die Riesenflinte stammt aus einer Zeit, da professionelle Jäger ihren Lebensunterhalt damit verdienten, den Fleischhunger der wachsenden Stadtbevölkerung zu befriedigen. Der Bau der Eisenbahn ermöglichte in den USA die Belieferung von Märkten über weite Strecken. Entsprechend lukrativ war die Maximierung der Treffer pro Schuss.

Das ging nicht lange gut. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts war der Wildvogelbestand in den USA wie auch in Großbritannien derart dezimiert, dass die Politik mit regulierenden Gesetzen einschritt - vor allem auf Drängen gutsituierter Hobbyjäger. Denn die Jagdklubs der Oberklasse fürchteten ob des Massenschlachtens um ihr eigenes Vergnügen.

Mit dem Gesicht nach unten

In Großbritannien kultivierte sich die Jagd daher mit Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem Sport mit eigenem Verhaltenskodex. Die Regeln sahen etwa vor, welche Tiere wo und zu welcher Zeit geschossen werden durften. Während der Zwischenkriegszeit, so schätzt die britische Sportschützen-Gesellschaft, zählte das Land etwas mehr als 180 aktive Punt-Gun-Schützen.

Heute sind es vielleicht noch ein Dutzend. Mit dem Gesicht nach unten stundenlang frierend auf den Boden eines Holzkahns zu liegen, ist nicht jedermanns Sache. Im Schnitt paddle ein Jäger siebenmal im Jahr auf die Pirsch und drücke viermal ab, wobei er pro Schuss vielleicht ein halbes Dutzend Tiere erlegt, wie der britische »Telegraph« um die Jahrtausendwende berichtete.

Die Jagd mit der Punt Gun ist mittlerweile ein äußerst mühsamer Sport. Die Herausforderungen haben sich quasi umgekehrt: Statt möglichst viel Gefieder vor die Flinte zu bekommen, muss der Jäger sicherstellen, keine einzige geschützte Art zu erwischen.

Zudem gilt die Waffe nicht nur für Wasservögel als gefährlich. Sie ist es auch für den Jäger, etwa wenn der Rückstoß das Boot zerlegt oder Eis im Lauf zur Explosion führt. Nicht zuletzt wegen all der Mühen und der Risiken galt die Jagd mit der Riesenschrotflinte auch in den Niederlanden als ehrbarer Sport, während sie in Deutschland kaum bekannt ist.

Verbot der kommerziellen Jagd

In den USA hingegen hatten Wisconsin und weitere Bundesstaaten bereits um 1870 die Jagd mit der Punt Gun und später auch den Transport und Handel von Wildtieren über Staatsgrenzen hinaus untersagt. Spätestens als die kommerzielle Jagd 1918 komplett verboten und 1922 auch noch der Handel mit Federn drastisch eingeschränkt wurde, brach in den USA das Interesse an Punt Guns massiv ein.

Dies dürfte auch Grund dafür gewesen sein, dass anders als in Großbritannien US-Waffenhersteller nie in die industrielle Produktion von Punt Guns eingestiegen sind. So blieb es dort fast ausschließlich bei Einzelanfertigungen, was das hausbackende Design des Ungetüms auf dem Foto erklären könnte.

Jeglicher legaler Einsatzmöglichkeit beraubt, blieb Punt-Gun-Besitzern in den USA nur noch eines: das Ding ins Museum zu tragen.

Augenblick mal!
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