Riesling-Jahrgang 1921 Wie durch Missernte ein Jahrhundertwein entstand

Die ältesten Weinreserven in der Schatzkammer Schloß Johannisberg gehen bis ins Jahr 1748 zurück.
Foto: Katrin Unger»Seit mehr als 1200 Jahren wachsen hier Trauben«, sagt Stefan Doktor und zeigt den Hang hinab, auf dem seit 1720 nur Rieslingbeeren gepflanzt werden. Hier, vom Schloss Johannisberg im Rheingau, blickt man nach Süden hinab auf Geisenheim und ein Industriegebiet aus dem 20. Jahrhundert. Dahinter fließt der Rhein, hinter ihm liegt Ingelheim. Von dort aus soll Karl der Große den heutigen Johannisberg entdeckt haben – lange bevor es den berühmten »Riesling« gab.
»Der auffällige Vorteil unseres Hangs war schon damals, dass der Schnee früher schmolz als in der Umgebung«, erklärt Doktor. Es zeigt, was die besten, oft »elegant« genannten Weißweine brauchen, um zu reifen: kühles Klima, das dennoch ausreichend Wärme bietet. Deutschland hat es.
Doktor leitet das älteste Riesling-Weingut der Welt, über das einst Heinrich Heine schrieb: »Mon Dieu. Wenn ich doch so viel Glauben in mir hätte, dass ich Berge versetzen könnte, der Johannisberg wäre just derjenige Berg, den ich mir überall nachkommen ließe.«
Die 50 Hektar plus Schloss, Klosterkapelle und Nebengebäude sind seit 1980 im Besitz der Oetker-Gruppe. Dass die Zeit auch hier nicht stehen geblieben ist, verrät die Visitenkarte, auf der »Estate Manager Stefan Doktor« steht. Seine Vorgänger wurden »Gutsverwalter« oder »Domänenrat« genannt – je nachdem, welchen Titel die früheren Eigentümer aus der Adelsfamilie Metternich bevorzugten.
Fünfstelliger Preis pro Flasche
»Ich will nicht verwalten, sondern gestalten«, sagt der Manager. So wie 2017, als Doktor das Riesling-Sortiment für die neuen Jahrgänge neu sortierte und den »Goldlack« für den teuersten trockenen Wein erfand. Zugleich weiß er, wie viel alter Wein wert ist, im besten Fall in alten Flaschen und aus eigenen Beständen. Was das bedeutet, hat man als Besucher der »Bibliotheca Subterranea« unter Schloss Johannisberg vor Augen: Dort lagern geschätzte 25.000 Flaschen aus vier Jahrhunderten.

Die Geschichte des Jahrhundert-Rieslings
»Mit alten Weinen können Menschen Geschichte schmecken«, sagt Doktor mit hörbarer Begeisterung. Kein anderes Produkt mache es in derselben Weise möglich, das Wetter in einem bestimmten Jahr oder vergangene Momente wie die Ernte oder die Kelterung wiederzubeleben – indem man sie an den Gaumen führt.
Jeder Reifeprozess sei einmalig, habe eine »Magie« und sei ein »Mysterium«, so Doktor. Die Voraussetzung für exklusiven Genuss seien »homöopathische Dosen«. Man dürfe nur sehr wenige Schätze in die Öffentlichkeit bringen. Dahinter verbirgt sich eine typische Strategie der Luxusgüterindustrie: Die Verknappung des Besten, was man besitzt, um es bei geeigneten Anlässen zu möglichst hohen Preisen zu verkaufen. Den Rekord für Schloss Johannisberg hält eine Flasche halbtrockener Wein aus dem Jahr 1920. Sie wurde im Februar 2020 für 18.000 Euro versteigert.
Eine zweite Voraussetzung ist, dass man nicht das gleiche Pech hat wie Domänenrat Wolfgang Schleicher 1984. Während einer gemeinsamen Verkostung mit edelsüßen Weinen aus dem französischen Château d’Yquem hatte er eine Flasche 1921er Johannisberger Beerenauslese erwischt, die dermaßen hinüber war, dass er notierte: »Brotige Firne. Mittlere Qualität.« Und das ausgerechnet bei einem Jahrgang, für den deutscher Riesling seit nunmehr hundert Jahren einen völlig anderen Ruf in der Welt genießt: den eines Jahrhundertweins.
Der Ursprung der Legende
Im »Savoy Cocktail Book« von 1930 widmete Harry Craddock, Barchef im Londoner Savoy Hotel, dem Weißwein von Mosel, Rhein (»The Hocks«) und aus Franken ein Kapitel und beschrieb einzig den 1921er: »A magnificent vintage, considered the best for a generation or more. Particularly the Hocks are very full, round, and vinous. They have great keeping properties.« (»Ein großartiger Jahrgang, gilt als bester für eine oder mehrere Generationen. Besonders jene von Mosel und Rhein sind sehr vollmundig, rund und weinig.«)
In einigen deutschen Weinbauregionen war damals bereits von einem »Geschenk Gottes« die Rede. Auf einer zeitgenössischen Postkarte steht: »Als Trost in Zeiten der Not und Schand’ wuchs Einundzwanziger im Moselland«.
Wer nach den Ursachen für die flüssige Legende sucht, stößt auf mehr als eine: Ein ungewöhnlich heißer Sommer hatte 1921 einen großen Teil der Rieslingernte zerstört, was eine Verknappung bedeutete. Doch die kleine Ernte war besonders reif, also zuckerhaltig und aromatisch. Sie floss vor allem in Beerenauslesen und – teils zum ersten Mal – in Trockenbeerenauslesen. Dass der Wein mehrere Jahre in Holzfässern reifen konnte, war damals keine Seltenheit. Zugleich war es in seinem Fall der Inflation geschuldet: Denn erst, als der Geldwert wieder stabil erschien, wurde abgefüllt.
Was sich darüber hinaus auszahlte, war das enorme Ansehen deutscher Weißweine. Man startete nicht wie heute, mit einem mittelmäßigen Ruf, der immer noch unter den Auswüchsen billigster Massenverarbeitung seit Mitte des 20. Jahrhunderts leidet. Man musste auch nicht gegen teure Konkurrenz aus anderen Ländern ankämpfen, weil man längst ganz vorne stand. Seit Ende des 19. Jahrhunderts lagen die Preise weißer Spitzenweine aus Deutschland gleichauf mit oder sogar über den Rotweinen aus Bordeaux und dem Burgund.
Einzigartiges Geschmackserlebnis
Die Entwicklung führte so weit, dass das Weingut Maximin Grünhaus an der Mosel 1000 Liter seiner 1921er Herrenberger Trockenbeerenauslese für astronomische 100.000 (Dollar-basierte) »Goldmark« an das Waldorf Astoria Hotel in New York verkaufte. Sogar über den Zweiten Weltkrieg hinaus, als das Ansehen Deutschlands völlig ramponiert war, führte der 1921er noch die Preislisten an. Das zeigt eine Weinkarte des damals bedeutenden Luxushotels Shamrock in Houston. Die Johannisberger Beerenauslese kostete 40 Dollar – und damit viermal mehr als der teuerste Bordeaux, ein 1937er Haut-Brion.
Neben den klimatischen Bedingungen und gesellschaftlichen Umständen vor hundert Jahren wurden Kelterung und Lagerung von drei weiteren Faktoren bestimmt, die heute oft diskutiert werden und in vielen Weingütern wieder eine Rolle spielen: Erstens die sogenannte Spontanvergärung mit frei lebenden Hefepilzen – nicht mit industriell gefertigten Hefen, die Mitte des 20. Jahrhunderts üblich wurden. Zweitens geschieht die Gärung im Holzfass, nicht in Stahltanks. Und drittens eine Reifung über mehrere Jahre – mit Zeit als einer Form der Investition.
Die fulminante Geschichte dieses Weins und die missglückte Probe seines Vorgängers haben Stefan Doktor am Ende des Jubiläumsjahres 2021 bewegt, noch einmal eine Flasche 1921er aus der Schatzkammer zu holen und für den Autor aufzuziehen. Beinahe festlich erklärt er: »Die Entscheidung ist vom Wunsch getragen, ein perfektes Produkt aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu holen, auch um möglicherweise etwas für die Zukunft zu lernen.«
Die Verkostung startete vielversprechend: Die alte Flasche ließ sich problemlos mit dem Kellnerbesteck öffnen, der Korken war vor 40 Jahren ausgewechselt worden. Ein 2020er Johannisberger Riesling wurde gereicht, um die Gläser auszuspülen.
Dann der Moment: Die Hundertjährige fließt aus der Flasche – klar und bernsteinfarben! Ihr Duft (»die Nase«) ist reich an fruchtigen Aromen. Um Punkt 18 Uhr, mit den Glocken der St. Johannes Kapelle, wird der 1921er zum Mund geführt.
Von Anfang an sind viele Früchte zu schmecken: Mandarinenkompott, Orangen- und Zitronenschalen. Getrocknete Aprikosen, Rosinen, Apfel und Mango, das alles auf einem leichten Hefeteig – von einem talentierten Konditor zusammengestellt. Auch gibt es einen Hauch von Bergamotte wie im Earl Grey Tee, ein wenig Lakritze, Zimt, Tabakblätter, Bitterschokolade und Karamell mit ein wenig Salz.
»Wir trinken eine Beerenauslese, die süß war, aber die wir heute nicht mehr als süß wahrnehmen, obwohl sich der Zucker noch im Wein befindet. Dadurch bleibt ihm das Cremig-ölige«, erklärt Stefan Doktor. »Die Säure, die junge Rieslinge dominiert, ist ein großer Segen. Sie hält den Wein frisch.«
Der Kaiser und die Heuschrecken
Bald kommen Bitternoten durch, aber nie unangenehm. Auch die dezente Schärfe einer Chilischote. Sogar Kohlaromen: der Stumpf eines Brokkoli, der Geschmack von Kimchi. Und geräucherter, fetter Fisch. Das ist Umami – vor hundert Jahren noch völlig unbekannt.
All das passt zusammen, ist im Gleichgewicht. Besonders beeindruckend ist, dass sich das Geschmacksbild weiterentwickelt, als die Mundhöhle längst leer ist. Nach einigen Minuten hüllt Minze die Früchte ein. »Das sind die ätherischen Öle, die in Verbindung mit Sauerstoff zuerst die Citrusaromen freigesetzt haben«, sagt Doktor. Es ist ein Abschluss, der noch Stunden später am Gaumen haftet. Dieser 1921er war – wie erhofft – auf seine Weise einzigartig, mit unzähligen Aromen. Und, so Doktor, »mit Sicherheit noch Jahrzehnte schön«.
Nicht nur die Aromen haben übrigens die Zeit überdauert in Johannisberg, sondern auch alte Verpflichtungen: Noch heute überweist man hier einen Zehnten des Ertrags an die ehemalige österreichische Kaiserfamilie von Habsburg. Zeitgemäß ausgedrückt ist es »eine Dividende in Cash«, nicht mehr in Fässern, die Klemens von Metternich 1816 zugesagt hatte, nachdem Kaiser Franz I. ihm das Schloss Johannisberg geschenkt hatte.
Im Grunde sind die Habsburger längst dort, wohin viel mehr gelangen wollen – ob der japanische Konzern Suntory im Weingut Robert Weil, die Erben der Bitburger Brauerei bei Van Volxem an der Mosel oder der Eigentümer von Hawesko und Jacques Weindepot in St. Antony im rheinhessischen Nierstein. Oder wie Jens Reidel, den Franz Müntefering »Heuschrecke« nannte, in der ehemaligen Staatsdomäne an der Nahe, die er »Gut Hermannsberg« getauft hat.
Selbst wenn niemand gern über Renditen spricht: Je mehr der deutsche Spitzenwein aus seiner Geschichte lernt und je wärmer das Klima wird, desto mehr Investoren werden kommen. Wie immer beim Wein ist es wohl nur eine Frage der Zeit.