
DDR-Funktionär Werner Lamberz: Der Tod des SED-Kronprinzen
DDR-Funktionär Werner Lamberz Der Tod des SED-Kronprinzen
Es war stockdunkle Nacht, als der Hubschrauber am 6. März 1978 um 21.30 Uhr am Wadi Suf al-Jin, einem Flussbett rund 160 Kilometer südlich der libyschen Hauptstadt Tripolis, aufstieg. Mit fast 20 Meter Länge war die Super Frelon ("Super-Hornisse") des französischen Herstellers Aérospatiale der größte und stärkste westeuropäische Helikopter.
Die fast zehn Meter langen Rotorblätter wirbelten den Wüstensand auf, die Maschine erhob sich etwa 30 Meter in die Höhe. Doch als die beiden Piloten versuchten, seitwärts wegzufliegen, fiel der Hubschrauber wie ein Stein zu Boden. Die elf Menschen an Bord verbrannten bis zur Unkenntlichkeit. Der Prominenteste von ihnen: Werner Lamberz, mit 48 Jahren das jüngste Mitglied des SED-Politbüros, zuständig für Agitation und Propaganda.
Lamberz war zudem Sonderbotschafter des SED-Generalsekretärs Erich Honecker für afrikanische und arabische Staaten gewesen. Und in dieser Eigenschaft hatte er gerade zuvor ein dreistündiges Gespräch mit dem libyschen Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi geführt, um zwischen ihm und dem äthiopischen Machthaber Mengistu Haile Mariam zu vermitteln.
Gaddafi hatte Lamberz in sein Wüstenzelt eingeladen. Danach wollte der Gast mit dem Helikopter nach Tripolis zurückfliegen, um am nächsten Morgen in die äthiopische Hauptstadt Addis Abeba weiterzureisen.
Hatte Honecker seinen Rivalen ausgeschaltet?
Der plötzliche Tod des DDR-Politikers erregte Aufsehen, weil Lamberz als wahrscheinlichster Nachfolger Honeckers galt. Viele SED-Mitglieder sahen in Lamberz einen Hoffnungsträger. Durch seine Intelligenz, seine Sprachkenntnisse und sein weltmännisches Auftreten stach er aus der Riege grauer Männer in der SED-Führung hervor.
Zwar bestimmte er kompromisslos die ideologische Linie für die öffentliche Propaganda, aber seine Reden waren weniger steril und langatmig als die anderer Politbürokraten. Er konnte in der Öffentlichkeit frei sprechen, verwendete weniger gestanzte Formulierungen und hielt gute Beziehungen zu vielen Kulturschaffenden.
Mit Lamberz starben Paul Markowski, 48, Leiter der Abteilung Internationale Verbindungen des SED-Zentralkomitees, der Dolmetscher Arnim Ernst, 27, und Hans-Joachim Spremberg, 34, Fotoreporter der DDR-Nachrichtenagentur ADN, die beiden libyschen Piloten sowie fünf libysche Staatsfunktionäre.
Sofort kamen Spekulationen auf, dass ein Anschlag auf den Hubschrauber verübt worden sei. Galt er Lamberz oder Gaddafi, der normalerweise mit diesem Helikopter flog? Hatte der sowjetische Geheimdienst KGB einen Mordauftrag gegeben oder steckten Gegner Gaddafis dahinter? Oder hatte gar SED-Chef Honecker selbst einen Rivalen aus dem Weg räumen lassen?

DDR-Funktionär Werner Lamberz: Der Tod des SED-Kronprinzen
Die Geheimniskrämerei, die Gaddafi um die Aufklärung des Unglücks betrieb, gab den Gerüchten zusätzlich Auftrieb. Zur Untersuchung der Absturzursache wurden keine DDR-Experten zugelassen. Der damalige DDR-Botschafter in Tripolis, Freimut Seidel, machte sich gemeinsam mit einem in der libyschen Hauptstadt verbliebenen Mitglied der Lamberz-Delegation am Tag nach dem Absturz auf den Weg zur Absturzstelle; ihnen wurde jedoch wenige Kilometer vor dem Ziel die Weiterfahrt verwehrt. Am Abend des 7. März landete eine Expertenkommission der DDR in Tripolis, aber auch sie erhielt keine Genehmigung, den Unglücksort aufzusuchen.
Stattdessen präsentierte Gaddafi rasch zwei Sündenböcke: Er schasste den Generalstabschef der libyschen Luftwaffe und den Verkehrsminister. Der Bericht einer von Gaddafi eingesetzten Untersuchungskommission nannte zwei mögliche Ursachen für das Unglück: Entweder habe der Motor nach dem Start Feuer gefangen, sodass die Umdrehungszahl des Rotors rasch absank, oder ein Blatt des Hauptrotors habe sich gelöst. Neben technischen Gründen machte der Bericht die beiden Piloten verantwortlich: Sie hätten keine Erlaubnis für einen Nachtflug gehabt.
In der DDR konnte niemand diese Angaben überprüfen. Allerdings wurden bei einer gerichtsmedizinischen Untersuchung der Leichen in der Ost-Berliner Charité keine Anhaltspunkte für einen Terrorakt gefunden, etwa Metallsplitter einer Bombe.
Die SED-Führung ging rasch zur Tagesordnung über. Als Gaddafi drei Monate nach Lamberz' Tod zum Staatsbesuch in die DDR kam, war von dem Unglück keine Rede mehr. Honecker und Gaddafi schlossen einen Zehnjahresvertrag über wirtschaftliche, technische und militärische Zusammenarbeit.
Verklärte Erinnerungen
Nach dem Ende der DDR wärmten Medien die alte Verschwörungstheorie wieder auf. Das Boulevardblatt "Berliner Kurier" erschien im Oktober 1990 mit der Schlagzeile "Ließ Honecker Werner Lamberz ermorden?" Der "Stern" zitierte ein ungenanntes ehemaliges Mitglied des SED-Zentralkomitees, das gesagt haben soll, nur Honecker und Stasi-Minister Erich Mielke "konnten Gaddafi den Auftrag für einen Anschlag gegeben haben. Andernfalls hätten sie auf einer gründlichen Untersuchung unter Mitwirkung des Ministeriums für Staatssicherheit und eigenen Militärexperten bestanden und die Ursache des Absturzes nicht geheim gehalten."
Manfred Uschner, ehemals persönlicher Referent des Politbüro-Mitglieds Hermann Axen, behauptete ebenfalls im "Stern", für Honecker sei Lamberz "ein gefährlicher Rivale geworden, weil er so ganz anders war", nämlich "ein Typ Gorbatschow". Lamberz sei "offen" gewesen "für neue Gedanken, nur öffentlich musste er sie zurückhalten".
Hans Modrow, nach dem Sturz Honeckers letzter Vorsitzender des DDR-Ministerrats, der 1953 zusammen mit Lamberz die Komsomol-Hochschule in Moskau besucht hatte, erinnerte sich noch 1993: "Ich hatte im Politbüro nur einen Freund - Werner Lamberz."
Der frühe Tod verklärte wohl die Sicht auf Lamberz. Er war stets ein treu ergebener Gefolgsmann Honeckers gewesen, dem er 1971 mit an die Macht verholfen hatte. Lamberz war in geheimer Mission beim sowjetischen Parteichef Leonid Breschnew in Moskau gewesen, um dessen Einverständnis zur Ablösung Walter Ulbrichts einzuholen. Zur Belohnung hatte Honecker seinen Gehilfen gleich ins neue Politbüro geholt.
Karrierist im SED-Regime
Lamberz hatte eine bewegte Karriere gemacht. Er wurde 1929 als Sohn eines KPD-Funktionärs in Mayen in der Eifel geboren. Einer seiner Jugendfreunde war der spätere Schauspieler Mario Adorf, in dessen Schwester Liane er als 13-Jähriger verliebt war. Adorf sagte über ihn: "Er war einer der geradesten Charaktere, der damals politisch weiter war als wir alle."
Lamberz' Vater wurde von den Nazis in Konzentrationslagern inhaftiert und zur "Frontbewährung" ins Strafbataillon 999 abkommandiert. Er konnte fliehen und sich der Roten Armee anschließen. Auf Anraten von Freunden und Verwandten besuchte Lamberz von seinem zwölften Lebensjahr an verschiedene Eliteschulen der Nazis, was ihm und seiner Mutter einen gewissen Schutz bot.
Nach dem Tod der Mutter übersiedelte er ins brandenburgische Luckenwalde zu seinem Vater, der 1945 nach Deutschland zurückgekehrt war. Er machte eine Lehre als Heizungsmonteur und wurde Funktionär der Freien Deutschen Jugend (FDJ); so lernte er den damaligen FDJ-Chef Honecker kennen, mit dem er weiter aufstieg.
Lamberz war freundlich und fleißig. Zum Schauspieler Manfred Krug sagte er einmal: "Ich bin nicht mit dem Fallschirm im Zentralkomitee abgesprungen. Das ist harte Arbeit gewesen. Es gibt 164 Länder auf der Erde, in 110 davon bin ich gewesen."
Kaffee gegen Waffen
Die Außenpolitik fiel eigentlich in das Ressort des Sekretärs für internationale Verbindungen, Hermann Axen. Da dieser aber wegen seiner jüdischen Herkunft als Gesprächspartner in arabischen Ländern abgelehnt wurde, knüpfte Lamberz erfolgreich Beziehungen zu diesen sowie zu vielen afrikanischen Staaten.
Dadurch konnte er auch zur Überwindung der "Kaffeekrise" in der DDR beitragen: Als 1977 die Preise für Rohkaffee derart stiegen, dass die devisenschwache DDR nur noch einen mit Bohnen, Getreide und Rübenschnitzeln gestreckten Kaffee-Mix (Spottname: "Erichs Krönung") herstellen konnte, kam es im Land zu erheblicher Unruhe. Lamberz gelang es, mit der äthiopischen Regierung einen Deal Kaffee gegen Waffen auszuhandeln. Auch aus Angola brachte Lamberz Kaffeeabkommen mit.
Da Lamberz auch für die "Anleitung und Kontrolle" der Medien zuständig war, unterhielt er persönliche Kontakte zu Schriftstellern, Journalisten, Sängern und Schauspielern. Nachdem das Politbüro, einschließlich Lamberz, 1976 beschlossen hatte, den Liedermacher Wolf Biermann auszubürgern, unterschrieben zwölf Schriftsteller und der Bildhauer Fritz Cremer eine Resolution für den unbequemen Sänger, der sich mehr als hundert weitere Künstler anschlossen. Unter Lamberz' Federführung startete die SED eine Medienoffensive zur Rechtfertigung der Ausbürgerung.
Lamberz versuchte, prominente Schauspieler wie Angelica Domröse, Manfred Krug, Armin Müller-Stahl oder Hilmar Thate zu überzeugen, ihre Unterschriften unter der Protestnote zurückzuziehen. Im Mai 1977 führte er zwei Gespräche mit Krug, um ihn von dessen beantragter Ausreise abzubringen. Er verkündete: "Um Manfred Krug wird gekämpft bis zum letzten." Noch am Tag des zweiten Gesprächs übersiedelte Krug nach West-Berlin.
Nach Lamberz' Tod übernahm Joachim Herrmann, bislang Chefredakteur des Parteiorgans "Neues Deutschland", die Position des SED-Chefpropagandisten. Nun dirigierte, wie es in einem Dossier des Bundesnachrichtendienstes hieß, wieder ein "getreuer Apparatschik mit wenig Intelligenz" die DDR-Medien.