
West-Berlin in den Siebzigern Die Luftschlösser der Anarchisten


Gelbe Bananen an Fleischerhaken. Ein absurdes Bild, ganz im Stil der Pariser Surrealisten, die Zweckrationalismus mit der Waffe der Fantasie bekämpften. Anfang der Zwanzigerjahre suchte der Dichter Louis Aragon das "Wunderbare des Alltäglichen" in den bizarren Auslagen schummriger Passagen von Paris, die kurz darauf dem Durchbruch des Boulevard Haussmann zum Opfer fielen.
Als der Fotograf Siebrand Rehberg ein halbes Jahrhundert später, 1973, ein sonderbares Sammelsurium von Dingen im Schaufenster einer ehemaligen Metzgerei in Berlin-Kreuzberg entdeckte, drohte auch dort eine Kahlschlagsanierung. Ganze Straßenzüge mit baufälligen Gründerzeithäusern sollten in den Siebzigerjahren einem Autobahnkreuz und nüchternen Neubaukomplexen weichen.
Der Berliner Senat machte seine Rechnung allerdings ohne die Kreuzberger, die in den maroden Altbauten billig zur Miete wohnten und nicht freiwillig ausziehen wollten. Es waren die Jahre nach der 68er-Revolte, die nach Paris auch Berlin erfasst hatte. In das anarchische Kreuzberg zogen viele Künstler, Linksintellektuelle, Wehrdienstverweigerer, Arbeitslose, Aussteiger, Freaks - kurzum diejenigen, die in konservativen Kreisen als Bürgerschreck galten. Aus Protest gegen die geplante Großsanierung besetzten etliche von ihnen zwischen 1979 und 1981 abrissgefährdete Häuser und lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei.
Als Rehberg 1969 aus dem beschaulichen Niedersachsen nach Berlin kam, lag in Kreuzberg Aufbruchstimmung in der Luft. Von Gentrifizierung und Luxussanierungen sprach damals noch niemand. Der Künstler war von der kulturellen und ethnischen Vielfalt des heruntergekommenen Bezirks fasziniert. "Kreuzberg war für mich das Fremde", erinnerte er sich später. Seine Eindrücke dokumentierte er auf zahlreichen Fotos. Die Farbaufnahmen von Kiezfassaden, die er auf Cibachrome-Positivpapier vergrößerte, waren erstmals 1976 in der Fotogalerie Zillestraße zu sehen. Seit einer Ausstellung in Kopenhagen zwei Jahre später fehlt von diesen Abzügen allerdings jede Spur.
Den Fortschritt im Verfallenen suchen
Nicht nur von den Menschen, auch von der Architektur Kreuzbergs fühlte sich Rehberg von Anfang an wie magisch angezogen. "In den Hinterhöfen habe ich im Verfallenen das Neue entdeckt", sagte er.
Seine Bilder der Kiezfassaden, die teils auch in Schönberg oder Neukölln entstanden, wirken eigentümlich zeitentrückt. Ehemals prächtige Häuser, im Zweiten Weltkrieg beschädigt und in den Folgejahren nie renoviert, tragen jahrzehntealte verwitterte Schriftzüge. Neben ramponierten, bekritzelten Holztüren, übertünchten Mauern und Jalousien auf Halbmast prangt Werbung aus unterschiedlichen Epochen.
Unter dem Ladenschild "Kolonialwaren Millies" wird in altmodischer Frakturschrift Kaffee angepriesen. An anderen Wänden erblickt man das moderne Coca-Cola-Emblem oder Reklame für Schnellimbisse, Poker-Kaschemmen, Eis, Jägermeister und Berliner Bier.
Auch wenn Menschen auf den Fotos unsichtbar bleiben, ist ihre Gegenwart deutlich spürbar. "Freiheit für die Drucker. G.F" pinselte ein Unbekannter 1977 auf eine Kreuzberger Restaurantfassade, unter zwei Fenster, auf die großflächig eine kitschig-bunte Urlaubskulisse samt griechischem Tempel aufgemalt ist. Selbst an diesem Ort wird das traditionelle Berliner Kindl Pils ausgeschenkt. In einem anderen Haus, von dessen rötlicher Fassade der Putz abblättert, hat im Erdgeschoss jemand mit unerschütterlichem Willen zur Verschönerung ein paar mickrige Topfpflanzen ins Fenster gestellt. In einem anderen Altbau mit leeren Fensterhöhlen hat sich inmitten des Verfalls ein türkischer Supermarkt eingerichtet. Die Ladenfront ist, im typischen Stil der Siebziger, knallorange gestrichen.
Orangefarben ist auch das Wort "Luftschloss", das anderswo in ungelenker Schrift auf einer Scheibe steht. Treffender lässt sich das damalige Lebensgefühl wohl kaum auf den Punkt bringen. Nahe der Mauer, die West- von Ost-Berlin trennte, hatten sich die Kreuzberger ein Biotop ohne bürgerliche Zwänge erschaffen.
Wie im Paris der Surrealisten wurde auch in Berlin der urbane Raum poetisiert, die Grenzen zwischen Kunst und Alltag verschwammen. Laut dem Philosophen Walter Benjamin stieß der Surrealismus "auf die revolutionären Energien, die im 'Veralteten'" erschienen. Und Aragon schrieb in "Der Pariser Bauer": "Bei jedem Schritt, den ich zurück in die Vergangenheit tue, finde ich dieses Gefühl des Seltsamen wieder ( )". Die Berliner Häuser aus dem vorigen Jahrhundert boten ihren Bewohnern nicht nur preiswerte Wohnungen, sondern auch geistige Freiräume, in denen sich neue Gesellschaftsutopien entfalten konnten.
"Straßenschlachtung" in SO36
Der von Mauer, Spree und Landwehrkanal umschlossene Kreuzberger Kiez "SO36", in dem Rehberg viele seiner Fotos schoss, war für die Luftschlossbauer eine Idylle auf Zeit. Bereits seit den Sechzigerjahren plante der Berliner Senat dort umfangreiche Abrissmaßnahmen für eine neue Autobahntrasse, die letztlich aber nie gebaut wurde.
Wo bis dahin Gründerzeithäuser standen, sollten außerdem lichtdurchflutete Neubauten und Parkplätze entstehen. Der Architekturkritiker Dieter Hoffmann-Axthelm teilte diese Fortschrittseuphorie nicht. In Kreuzberg sei eine regelrechte "Straßenschlachtung" im Gang, und zwar "langsam, bei lebendigem Leibe", monierte er. 1974 wurde am Kottbusser Tor das umstrittene Neue Kreuzberger Zentrum fertiggestellt, ein Betonriegel mit 295 Wohnungen, der ebenso wie seine Umgebung zum sozialen Brennpunkt geworden ist.
Der Druck der Straße verhinderte immerhin etliche weitere Abrissaktionen. In Kreuzberg wurden damals insgesamt mehr als 80 Häuser "instandbesetzt". Die alternative Szene wuchs und organisierte sich. Es entstanden Kunstprojekte, Frauengruppen, ja sogar ein Kinderbauernhof. Als der Senat 1981 seine Kahlschlagstrategie aufgab und stattdessen auf Modernisierungsmaßnahmen setzte, waren allerdings zahlreiche Gründerzeitbauten, die heute auf dem Immobilienmarkt heiß begehrt wären, unwiederbringlich zerstört.
Siebrand Rehberg:
West-Berlin
1972-1977.
ConferencePoint; 80 Seiten; 35,00 Euro.
Buch Rehberg "West-Berlin" bei Collection RegardPortfolio Rehberg bei Collection RegardSPIEGEL+-Zugang wird gerade auf einem anderen Gerät genutzt
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Einstürzende Altbauten: 1972 fotografierte Siebrand Rehberg dieses ehemalige Porzellanlager in Berlin-Kreuzberg. Kriegsruinen wurden, wenn überhaupt, nur notdürftig renoviert. Seit Anfang der Sechzigerjahre standen viele Gebäude auf der Abrissliste des Senats. Bei der Fassadengestaltung legten Kiezbewohner offensichtlich selbst Hand an. Auf der übertünchten Mauer rechts im Bild ist mit viel Fantasie ein menschliches Gesicht zu erkennen. Von oben läuft rote Farbe wie Blut hinunter. Sehbergs Aufnahmen zeigen West-Berliner Stadtviertel wenige Jahre vor den ersten Hausbesetzungen.
Bananen und Würste: Über dem Laden steht zwar noch "Fleischerei". Der neue Geschäftsinhaber hatte sein Sortiment 1973 jedoch erheblich erweitert. Im Angebot waren unter anderem auch Bananen, die etliche Jahre später zum Symbol für das Zusammenwachsen und West und Ostdeutschland werden sollten.
Graffiti: Fassaden von Häusern, für die sich niemand mehr verantwortlich fühlte, wurden zu einer Art kollektiven Eigentums. Auf schmuddelige Wänden wurden haufenweise Kritzeleien und Sprüche hinterlassen, ohne dass sich jemand darüber beschwerte.
Aus zweiter Hand: Wie ein Schattenriss wurde eine windschiefe schwarze Gaslaterne auf die weiße Fassade neben einem Trödelladen in der Kreuzberger Pücklerstraße gepinselt. Die Einwohner Kreuzbergs hatten meist wenig Geld und richteten sich deshalb kreativ mit gebrauchten Möbeln und Fundstücken ein.
Improvisationsgeist: Vor Blicken von außen schützten sich diese Bewohner mit einer grünen Plane - so entstanden hübsche Spiegelbilder.
Schlägel und Eisen: Das alte Bergbausymbol und der Schriftzug erinnern daran, dass in diesem Haus in Berlin-Schöneberg früher Kohlen verkauft wurden. "Wer Haus Pack kennt, der weiss, wie bequem und sauber gemütliche Wärme sein kann", steht auf einem der alten verwitterten Reklameschilder. In manchen Vierteln Berlins gibt es auch heute noch Ofenheizungen.
Afro-Look in SO36: Die Hippie-Bewegung fand auch in Kreuzberg ihre Anhänger. Der knallige rote Fassadenanstrich passte in die Zeit des Umbruchs. Rehberg durchstreifte immer wieder die Straßen seines Kiezes und schoss dieses Bild 1972 auf der Kneipenmeile Oranienstraße.
Leerstand: Wo früher mit Nachlässen gehandelt wurde, waren 1972 längst keine Geschäfte mehr zu machen. Bereits in den Fünfzigerjahren ließ der Berliner Senat marode Gründerzeithäuser abreißen, um durch Neubauten dringend benötigten Wohnraum zu schaffen. In den folgenden Jahren wurden Häuser systematisch "entmietet" und dem Verfall überlassen. Anfang der Siebzigerjahre begann der Bezirk sein Gesicht radikal zu verändern.
Goldjunge im Krug: Berliner Kindl Bier gehört zu der Stadt wie Eisbein und Sülze. Auch in dieser Kreuzberger Spelunke durfte das einheimische Pils nicht fehlen. Hinter einer speckigen Fassade und vergilbten Gardinen lockte überdies die Aussicht auf "kalte u. warme Speisen zu jeder Tageszeit".
Autobahn statt Altbauten: Die Wiener Straße, wo 1973 dieses Foto entstand, sollte ebenso wie das Gebiet des Görlitzer Bahnhofs der "Südtangente" Platz machen. Jahrelang standen Wohnungen leer, bevor Abrisskommandos anrückten. Das Autobahnkreuz, das den Bezirk zerschnitten hätte, wurde aber nie gebaut.
Ladenschluss: Der Begriff "Kolonialwaren" wurde zwar noch bis in die Siebzigerjahre hinein verwendet. Dieser Tante-Emma-Laden hatte 1973 seine Jalousien aber schon für immer heruntergelassen. Oft wurden ehemalige Gewerbeflächen in provisorische Wohnungen umgewandelt.
Ost-Tristesse: Siebrand Rehberg durchstreifte nicht nur Kreuzberg oder Schöneberg, sondern gelegentlich auch Ost-Berliner Bezirke. Dieses unrenovierte Haus im Prenzlauer Berg unterschied sich kaum von baufälligen Gebäuden im kapitalistischen Westen.
Farbklecks: Die verfallenen Häuserblocks luden die Anwohner förmlich dazu ein, selbst Hand anzulegen. Und sei es nur mit Pinsel und Farbeimer, wie Rehberg 1973 beobachtete. Sechs Jahre später wurde in Kreuzberg das erste Haus "instandbesetzt".
Industriekultur: Viele Jahre bevor junge Kreative in ausgediente Fabriklofts zogen, fotografierte Siebrand Rehberg 1973 in Berlin-Wedding ein altes Eingangstor zu einer Werksanlage. Als Kulisse würde es auch auf eine Theaterbühne passen.
"Luftschloss": Eine ehemalige Eisdiele wurde kurzerhand zu einer Wohnung umfunktioniert. Mit Ironie trotzen die Bewohner dem nüchternen Alltag, wie auch dieser Schriftzug vermuten lässt. Dazu passt der Spruch "Traum ist Wirklichkeit", den protestierende Studenten im Mai 1968 an die Wände der Pariser Sorbonne geschrieben hatten. Nach dieser Maxime hatten auch die Surrealisten um André Breton gelebt, die mit ihrer Kunst die Gesellschaft revolutionieren wollten.
Stillleben mit Mecki-Igel: Das Schaufenster einer ehemaligen Seifenhandlung haben die neuen Bewohner mit Philodendron, Christstern und Comicfiguren aufgehübscht. Der Igel, der zunächst in Märchenfilmen auftauchte, wurde nach dem Krieg Maskottchen der Zeitschrift Hörzu. Nach ihm wurde auch eine Bürstenschnittfrisur benannt.
Kleine Fluchten: "Unter dem Pflaster liegt der Strand" hatten die 68er-Revoluzzer gerufen. Eine bunte Mittelmeerkulisse auf zwei Kneipenfenstern bot ein Kontrastprogramm zum grauen Alltag. Darunter steht eine Solidaritätsbekundung für das linke Kollektiv Agit Drucker, dessen Publikation "Info Undogmatischer Gruppen" (Info BUG) 1977 verboten wurde. Vier Aktivisten wurden verhaftet.
Kahlschlagsanierung: Mietskasernen aus dem späten 19. Jahrhundert waren Berliner Stadtplanern nach dem Zweiten Weltkrieg ein Dorn im Auge. Über den Erhalt historischer Bausubstanz machte man sich wenige Gedanken. Neue Betonklötze standen für den Aufbruch in die Zukunft. Doch diese Wohnsilos verwandelten sich oft in soziale Brennpunkte.
Dichtgemacht: Ein ehemaliger Holzkohlenhandel in Berlin-Kreuzberg, aufgenommen 1974
Ganz lecker: Eine Imbissbude an der Skalitzer Straße Ecke Görlitzer Straße, 1974
Es grünt: Mit Topfpflanzen auf der Fensterbank haben die Bewohner dem heruntergekommenen Haus Leben eingehaucht.
Noch immer imposant: Der alte Glanz dieser herrschaftlichen Bauten lässt sich trotz sanierungsbedürftiger Fassade noch erahnen.
Zum letzten Mal ausgeschenkt: Eine ehemalige Schankwirtschaft an der Kottbusser Straße mit einem Spielcasino, einer Imbissbude und der "Schmusi Filmbar", aufgenommen 1976
Warten auf die Abrissbirne: Eine schreiend orangefarbene Wohnzimmertapete, die bereits in Fetzen herunterhängt, schmückte 1976 die Fassade dieses Abbruchhauses in der Kreuzberger Admiralstraße. Unter leeren Fensterhöhlen verkaufte ein türkischer Metzger im Erdgeschoss Fleischhälften, Äpfel und Apfelsinen. Bis auch in seinem Laden für immer das Licht ausging.
Verlorener Schatz: Auf Cibachrome-Positivpapier abgezogen, bestachen Siebrand Rehbergs Fassaden-Aufnahmen durch besondere Farbbrillanz. 1976 wurden sie in einer Galerie in der Charlottenburger Zillestraße und zwei Jahre später in der fotografisk galleri in Kopenhagen gezeigt. Seither fehlt von ihnen jede Spur. Der Fotograf hofft nach wie vor auf Hinweise, die ihn zu den verschollenen Bildern führen könnten.
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