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West-Berlin: Der Sozialismus auf der anderen Seite der Mauer

Foto: Eva Schweitzer

Berlin Das wahre Sozialistenparadies lag im Westen

Für Eva C. Schweitzer hieß das sozialistische Paradies West-Berlin. Vor dem Fall der Mauer war das Bier dort billig, die Mieten günstig und es musste niemand arbeiten, der nicht wollte.
Foto: Thilo Rückeiss

Eva Claudia Schweitzer arbeitet seit 1987 als Journalistin. Sie studierte in München und natürlich in Berlin: West. Anfang der Achtzigerjahre begann Schweitzer in der Endphase der Berliner Hausbesetzerbewegung für den "Südostexpress" in Kreuzberg zu schreiben, später für den "Kreuzberger Stachel". Anschließend schrieb sie für "Zitty", "taz" und "Tagesspiegel" - vornehmlich über Bauen, Mieten, Immobilienskandale und später über den Hauptstadtumzug. Derzeit leitet Eva C. Schweitzer den Verlag "Berlinica Publishing", der Berlin-Bücher nach New York bringt.

Vor 25 Jahren ist ein Paradies untergegangen. Ein wirkliches sozialistisches Paradies, kein realsozialistisches. Es war ein Land, wo jeder nach seinen Bedürfnissen leben konnte und niemand arbeiten musste, mit einem gelebten sozialistischen Diskurs, echter Solidarität vom gemeinsamen Hofputz bis zum Grillen auf dem Altbaudach, mit günstigem Bier und spottbilligen Mieten. Ja, die Wohnungen hatten Kohleheizungen und kein Bad, aber was macht das schon, wenn die einzige Verpflichtung ein nachmittägliches Proseminar an der Uni ist und das Hallenbad Wannen auf Stundenbasis vermietet. Ein Land ohne Wehrpflicht, ohne eigene Armee und ohne Privatbesitz an Produktionsmitteln, weil es praktisch keine Fabriken gab - von Schering, Philip Morris und Mercedes-Benz einmal abgesehen. Ein sozialistisches Paradies, dessen größtes Problem es war, dass der Kinderbauernhof an der Mauer zu wenig Platz hatte. Die Rede ist von: West-Berlin.

Segen der Berlin-Zulage

West-Berlin war die bessere Hälfte der 1945 befreiten Hauptstadt des "Dritten Reichs", die zügig zum kapitalistischen Aushängeschild mutierte. Oder mutieren sollte, denn erst einmal packten rund eine Million West-Berliner ihre Koffer und ließen sich im Harz, in Hamburg oder in bayerischen Bauerndörfern nieder. Im Gegenzug füllte sich West-Berlin später mit Studenten, Bundeswehrflüchtlingen, bewegten Linken und maoistischen K-Grüpplern, die gegen den Vietnamkrieg protestierten, gegen Ronald Reagan und das kapitalistische Schweinesystem. Sie lebten vom Bafög und der Berlin-Zulage und besetzten Häuser. Die gehörten, wie praktisch alle Wohnungen, dem Land Berlin. Das Land wurde, mit massivster Bundeshilfe, zum größten Arbeitgeber weit und breit. Zusammen mit den landeseigenen Versorgungsunternehmen wie Bewag (Berliner Städtische Elektrizitätswerke) oder der BVG (Berliner Verkehrsbetriebe) waren dort wohl rund eine halbe Million West-Berliner angestellt.

Ich lebte damals in einem städtischen Sanierungsgebiet, am Chamissoplatz (die Wohnungen in West-Berlin wurden, anders als im Osten, mit viel, viel Staatsknete saniert). Mit dem "Mieterladen Chamissoplatz", einer Bürgerinitiative, untersuchten wir einmal im Auftrag des Senats einen sanierten Block. Dort wohnten ein Drittel Studenten, ein Drittel Rentner und ein Drittel Arbeiter. Die Arbeiter stammten ausnahmslos aus der Türkei und verdienten doppelt so viel wie die Studenten oder die Rentner. Dem Senat gehörten auch Gewerbeetagen, in denen linksalternative Projekte vor sich hin bastelten, von der Berlin-Zulage über Wasser gehalten. Ich arbeitete damals bei einer kleinen, linken Tageszeitung, die vornehmlich dank des Talents des Geschäftsführers, Steuerabschreibungen auszunutzen, überlebte. Es handelte sich natürlich um die "taz".

Keine Sperrstunde!

Wir waren alle eine große Familie. In West-Berlin gab es alternative Radiosender, frauenbewegte Schlossereien, engagierte Stadtteilmagazine, linke Druckwerkstätten, politische Fahrradläden, revolutionäre Kneipen, schwule Bars, lesbische Kulturzentren, antifaschistische Sommeruniversitäten und sogar eine ganze linksalternative Partei. Anstelle von Parks hatten wir Wildwuchs auf alten Eisenbahntrassen, und das Fernsehen fing mittags an.

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West-Berlin: Der Sozialismus auf der anderen Seite der Mauer

Foto: Eva Schweitzer

Natürlich hatte West-Berlin auch Glamour. Bunte Lichter, funkelnde Beleuchtung und die Berlinale, wo altgewordene Studenten richtige Jobs hatten (wenn sie nicht an der Freien Universität untergekommen waren, oder beim Senat). Und anders als in der tristen Ost-Halbstadt nebenan, die wir nur betraten, wenn die SEW (Sozialistische Einheitspartei Westberlins) einen Trip sponserte, gab es in West-Berlin Kneipen, Bars und Klubs an allen Ecken und Enden. Keine Sperrstunde! Hatte ich das billige Bier erwähnt?

Ende der Senatsknete

Die trennende Mauer sahen wir dagegen irgendwie gar nicht. Neulich habe ich meine alten Fotos sortiert, von der Mauer hatte ich genau drei. Und an ihren Fall mochten wir kaum glauben. Bis sie am 9. November 1989 doch fiel. Aber mit der Mauer brach ironischerweise auch das sozialistische Paradies West-Berlin zusammen. Helmut Kohl sang die westdeutsche Nationalhymne vor dem Rathaus Schöneberg - unser Rathaus, Schauplatz zahlloser Sit-ins, Proteste und Demos! Die Bundesregierung strich die Berlin-Hilfe schneller, als in Kreuzberg ein Bier gestürzt wurde. Es fing mit dem Einfrieren des Stellenpools an, nur dadurch gemildert, dass Ost-Berlin dringend West-Beamte brauchte (dachten wir). Daran schlossen sich kahlschlagartige Kürzungen der Senatsknete für alternative Projekte an, die doch Herz und Seele West-Berlins waren.

Ein Kollege - ich arbeitete inzwischen bei einer nicht-mehr-so-linken Tageszeitung, es ist natürlich der "Tagesspiegel", machte uns eines Tages auf einen "Skandal" aufmerksam. Es war der erste Vorbote einer Lawine: Der Senat wollte einer politischen Gruppierung die Förderung streichen. Es waren lesbische, autonome Alkoholikerinnen, die bisher 400.000 Mark im Jahr bekommen hatten. Das Geld floss nun in den Osten, vielleicht auch nach Bonn. Nun hatte Berlin zwar eine starke autonome Szene, aber mehr als 10.000 Leute gab es beim Schwarzen Block auch in den besten Zeiten nicht. Lassen wir davon einmal 3000 Frauen sein, zehn Prozent davon Lesben, von denen wiederum zehn Prozent soffen - das macht immer noch mehr als 10.000 Mark pro Kopf. Davon kann man sich eine Menge Bier kaufen. Insbesondere zu West-Berliner Preisen. Aber die stiegen ja auch, zusammen mit den Mieten und der Anzahl der Arbeitsplätze, bei denen Produktionsmittel in Privathand eine Rolle zu spielen begannen.

"Was das wieder kostet!"

Dann kam der Beschluss, die Hauptstadt nach Berlin zu verlagern. Die Abstimmung im Bundestag wurde live im Fernsehen übertragen. Danach rief ich meinen Vater an, vor Aufregung und Begeisterung zitternd! Berlin wird Hauptstadt! Mein Vater sagte: "Du lieber Scholli, was das wieder kostet!" Ich war entsetzt, weil er, der Berliner, Bonn behalten wollte, er war schockiert, weil ich, die linke Traumtänzerin, den Hauptstadtbeschluss gut fand. So entzweite der Untergang des sozialistischen Paradieses ganze Familien.

Ja, West-Berlin. Die Stadt, wo man preisbewusst Holzbretter von Baustellen klaute, um sie zu zersägen und zu verheizen. Die Stadt, wo man nicht etwa in ein Kaufhaus ging, um eine Kaffeemaschine zu erwerben, sondern in der wöchentlichen Gruppensitzung der lesbischen autonomen Alkoholikerinnen darüber debattierte, wer jemanden kannte, der eine Kaffeemaschine übrig hatte. Die Stadt, deren Bewohner vor Weihnachten praktisch geschlossen in Dreilinden standen, dem legendären Grenzkontrollpunkt, wo uns die Berlin-Touristen ins Auto luden, um auf der Transitautobahn in die alte Heimat zu fahren. Dort hörten wir uns dann das Gemecker der Eltern an, dass West-Berlin so viel koste (wenn die gewusst hätten, wie sich das noch entwickelt!). Wo es mitten in der Stadt Schrebergärten gab, "instandbesetzte" Kriegsruinen und 24-Stunden-Kneipen.

Ach, West-Berlin! Das einzige sozialistische Paradies, das jemals funktioniert hat! Am 9. November 1989 begann sein Untergang. Wann es restlos vom Kapitalismus untergepflügt sein wird? Wer weiß, aber lange kann es nicht mehr dauern. Darauf einen Latte Macchiato!

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