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Widerstand im Nationalsozialismus: Helden ohne Namen

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Widerstand im Nationalsozialismus Helden ohne Namen

Ein Kinofilm machte sie endlich berühmt: Jahrzehntelang erinnerte sich niemand an die Frauen der Berliner Rosenstraße, die 1943 auf der Straße gegen die Deportation ihrer jüdischen Männer protestierten - und die Nazis in die Knie zwangen. Doch auch in anderen Städten gab es offene Demos gegen die Hitler-Diktatur.
Von Prof. Nathan Stoltzfus

Der 27. Februar 1943 ist berüchtigt für die Verhaftungsaktionen zur "Entjudung" der deutschen Städte. Seit einiger Zeit erinnert man sich anlässlich dieses Datums auch an die wochenlange Protestaktion in der Berliner Rosenstraße, nicht zuletzt seit Margarete von Trottas preisgekröntem Film von 2003. Gestapo und SS hatten an diesem Tag im Rahmen der sogenannten "Fabrikaktion" auch etwa 2000 Berliner Juden aus privilegierten "Mischehen" verhaftet und in einem Haus der Jüdischen Gemeinde in der Rosenstraße 2-4 in Berlin-Mitte zur Deportation zusammengetrieben. Immer wieder von der Polizei bedrängt, hatten in den folgenden beiden Wochen vor dem Gebäude über hundert Ehefrauen für die Freilassung ihrer Männer demonstriert - und wirklich gab das NS-Regime schließlich nach: Fast alle festgenommenen wurden freigelassen, einige bereits Deportierte sogar aus Auschwitz zurückgeholt.

Die Debatte um die öffentliche Anerkennung für diesen Akt offenen Widerstandes gegen das Nazi-Regime war hart - wie Jahrzehnte zuvor der Kampf für die Anerkennung der Leistungen der Männer des 20. Juli 1944. Die Rosenstraßen-Demonstration mag letztlich nicht mehr als eine Geste gewesen sein und Kollektive Straßenproteste sind vielleicht nicht in der gleichen Liga von Widerstand angesiedelt wie ein Staatsstreich. Doch zählten die Frauen der Rosenstraße zu jener kleinen Gruppe von Deutschen, die öffentlich gegen die nationalsozialistische Herrschaft opponierten. Ihr schlichter Straßenprotest war zudem eine Form des Widerstands seitens normaler Bürger, die das NS-Regime in einigen Fällen tatsächlich zum Einlenken bewegten.

Laut Richtlinien der Gestapo waren Juden mit "arischen" Familienmitgliedern von Deportation und Vernichtung "vorläufig zurückgestellt". Aber gelegentliche Deportationen von Juden aus "Mischehen" überall in Deutschland schon vor dem Winter 1943 zeigen, dass ihre "vorläufige" Schonung jeden Moment enden konnte. Die Deportationen sollten "energisch" vorangetrieben werden, solange das nicht "unnötige Schwierigkeiten" verursache, hatte Hitler Goebbels schon im November 1941 wissen lassen. Deshalb sein gegen "jüdische Mischehen, vor allem in Künstlerkreisen" zunächst ein "etwas reserviertes Vorgehen" angebracht. Öffentlicher Protest mitten im Krieg mochte der Diktator, der eine Schwächung der "Heimatfront" für Deutschlands Niederlage im Ersten Weltkrieg verantwortlich machte, als solche "unnötige Schwierigkeit" gewertet haben.

Die Rosenstraße war kein Einzelfall

Viele haben den Protest in der Rosenstrasse als isoliertes Zufallsereignis ohne tiefere Bedeutung mit Blick auf das Funktionieren der Hitler-Diktatur gesehen. Es gab aber während des Krieges anderswo ebenfalls öffentliche Proteste, die in Form und Ergebnis mit dem Fall Rosenstraße vergleichbar sind. In der Ruhrstadt Witten etwa demonstrierten am 11. Oktober 1943, ein knappes dreiviertel Jahr nach den Ereignissen in Berlin, rund 300 Frauen auf der Straße. Vollkommen offen protestierten sie gegen die Behörden, die ihnen die Lebensmittelmarken verweigerten, um sie zur Evakuierung aus dem Ruhrgebiet zu zwingen.

Im Ruhrgebiet hatten die Nationalsozialisten angesichts der zunehmenden Angriffe der Alliierten die Evakuierung aller nicht in der Kriegswirtschaft Beschäftigten in die Wege geleitet. Doch viele Menschen, darunter auch hunderte aus Witten, kehrten von ihren Evakuierungsorten ohne Genehmigung in ihre eigenen vier Wände zurück. Das NSDAP-Blatt "Westfälische Landeszeitung" brandmarkte solche Rückkehrer am 4. Oktober 1943 als "Schädlinge" - eine Charakterisierung für Menschen, die das Reich und die "Kriegsanstrengung" unterminierten.

Heute herrscht der Glaube vor, das NS-Regime habe jedweden Widerspruch sofort brutal niedergeschlagen. Doch es war Hitler selbst, der Polizeieinsätze gegen widerspenstige Evakuierte ablehnte. Er zog es vor, den Protest zu besänftigen, um nicht weitere Aufmerksamkeit auf öffentliche Demonstrationen zu lenken - öffentlichkeitswirksame Proteste konnten nur den Schleier der Propaganda zerreißen, nach dem die Deutschen geschlossen hinter ihrem "Führer" standen.

Die Polizei weigert sich, einzugreifen

Albert Hoffmann, der Gauleiter von Westfalen-Süd, griff daher in Witten zu "sanfter" Gewalt: Er verweigerte den Betroffenen die Lebensmittelmarken. Daraufhin allerdings hätten "etwa 300 Frauen in Witten demonstriert", so ein Bericht des SS-Sicherheitsdienstes (SD), "um gegen die Maßnahme ... öffentliche Stellung zu nehmen". Es sei zu "beschämenden Auftritten gekommen, sodass sich die Stadtverwaltung Witten gezwungen sah, die Schutzpolizei zur Wiederherstellung der Ordnung anzurufen." Die Ordnungshüter jedoch weigerten sich einzugreifen - obwohl öffentliche Demonstrationen seit den frühen Tagen der NS-Herrschaft verboten waren.

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Die Vorkommnisse von Witten sind besonders bemerkenswert, weil sie in die letzte Phase des Krieges fielen, mitten in die Radikalisierung der Gewaltanwendung bei der Sicherung der "Heimatfront". Nach Witten jedoch befahl Hitler binnen vier Monaten sämtlichen Gauleitern, die Streichung von Lebensmittelkarten für unaufgefordert zurückgekehrte Evakuierte auszusetzen. Im Juli 1944 entschieden der "Reichsführer-SS" Heinrich Himmler und Martin Bormann, der "Sekretär des Führers", das Erzwingungsmaßnahmen weiterhin ungeeignet seien, was Bormann im Oktober 1944 noch einmal bestätigte.

Auch in Lünen, Hamm und Bochum kam es am 12. Oktober 1943, einen Tag nach dem Vorfall in Witten, zu offenen Protesten,. Auch hier hatten Mitarbeiter der Bezugsschein-Behörde illegalen Rückkehrern und Schulkindern Lebensmittelkarten verweigert. Die Polizei sprach von einer "Auflehnung" von Frauen, "die zu allem fähig gewesen seien, ohne die geringste Zurückhaltung oder Vorsicht walten zu lassen".

"Sollen Sie uns doch nach Russland schicken!"

Aus Polizeiberichten ist bekannt, dass viele Deutsche angesichts des Bombenkriegs ohnehin jederzeit mit ihrem Tod rechneten - und folglich auch mit Terror nur noch schwer zu kontrollieren waren. "Sollen uns doch lieber gleich nach Russland schicken. Maschinengewehre auf uns halten, und fertig", wurden Wittener Demonstranten zitiert. Und weiter: "Meine Kinder kommen nicht weg, und wenn ich nichts zu essen habe, dann kann ich mit ihnen zusammen verrecken.". Wieder andere nahmen die Herrschenden direkt aufs Korn und kamen so offenem Widerstand schon recht nahe: "Beschimpfungen amtlicher und führender Personen seien an der Tagesordnung gewesen", berichtet ein offizielles Dokument.

"Man darf sich in diesem Punkte nicht dem Willen des Volkes beugen", sinnierte Goebbels in seinem Tagebuch. Durch das Hin und her von Menschenmassen zwischen Evakuierungsgebieten und ausgebombter Heimat werde der Reichsbahn eine unnötige Belastung auferlegt. Deshalb müsse die Regierung "mit geeigneten Maßnahmen diesen Rückstrom abzudämmen versuchen". Wenn "gütliches Zureden" erfolglos sei, "dann muss man Zwang anwenden. Es ist nicht wahr, dass Zwang nicht zu Ergebnissen führt. Selbstverständlich führt er zum Ergebnis, wenn er mit der nötigen Deutlichkeit der Öffentlichkeit klargemacht wird und dann auch tatsächlich zur Anwendung kommt. Bisher hat man davon noch nichts verspürt, und das Volk weiß ganz genau, wo die weiche Stelle der Führung liegt, und wird diese immer ausnutzen. Wenn wir die Stelle, an der wir bisher weich gewesen sind, hart machen, so wird das Volk sich dem Willen des Staates beugen. Jetzt sind wir auf dem bestem Wege, den Willen des Staates unter den Willen des Volkes zu beugen." Der Straße nachzugeben sei gefährlich, notierte der NS-Propagandachef weiter, da der Staat jedes Mal ein wenig Autorität verliere - und am Ende alle Autorität.

Gewagte These, aber vertretbar

Man mag denken, dass Goebbels offenem Protest mehr Wirkung zugestand als die Demonstranten selbst. Aber die Tagebuchpassage zeigt, dass er die Wittener Demonstration im Kontext anderer, ähnlicher Ereignisse sah, bei denen das NS-Regime mit Nachgiebigkeit reagiert hatte: die Proteste in der Berliner Rosenstraße einige Monate zuvor, aber auch das Aufmerken der Katholiken gegen Klosterenteignungen, Kruzifixverbote und das Euthanasie-Programm, welches Hitler nach der öffentlichen Intervention des Münsteraner Bischofs Clemens August Graf von Galen 1941 dramatisch abwandeln hatte lassen, um Unruhe im Reich zu vermeiden.

"Die These mag gewagt sein, aber sie ist vertretbar", schreibt der deutsche Historiker Ekkehard Klausa: "Das auf Zustimmung der 'Volksgemeinschaft' gerade im Kriege angewiesene Regime hätte auf öffentliche und halböffentliche Kritik an seiner Judenpolitik vorsichtig und vielleicht sogar zurückweichend reagieren müssen, so wie es auf die Galen-Predigten und den Frauenprotest in der Rosenstraße tatsächlich reagiert hat."

"Gewagt" ist eine solche Interpretation, weil sie der ältesten und nach wie vor einflussreichsten Sicht zuwiderläuft, dass Hitler und die Gestapo alles im Griff hatten. Ironischerweise hat Hitler selbst seine Macht offenbar nicht für so "total" gehalten, wie es manche heutige Betrachter tun. Bis ganz zum Ende ging er Kompromisse ein, um die Massen nicht zu entfremden. Um die schwere Hand der Unterdrückung etwas im Zaum zu halten, musste er sogar seine übliche Linie verlassen, den Gauleitern weiten Spielraum bei der Art und Weise zuzugestehen, in der sie seine Befehle umsetzten.

Unbesungene Helden - das große Thema?

Nach dem Krieg traf jeder Beleg, dass Protest im "Dritten Reich" doch möglich gewesen war, die Öffentlichkeit im Mark. Die Geschichtsschreibung hat öffentliche Kollektivproteste lange übersehen oder sie verzerrt dargestellt - zum Teil bis heute. Eine Dokumentation des "Arbeitskreises Frauengeschichte Witten" etwa ist bei der Einordnung der Ereignisse in der Stadt bescheiden bis an die Schmerzgrenze: Dass die Demonstrantinnen schließlich bekamen, was sie verlangten, wird nicht einmal erwähnt. Und auf den Aufruf des Arbeitskreises an Zeitzeugen, sich zu melden, kam seit 1990 nicht eine einzige Reaktion.

Vielleicht ist es heute immer noch zu gewagt zuzugeben, man habe spät 1943 mitten in Deutschland öffentlich gegen Hitler protestieren können. Anlässlich des 100. Geburtstags des Hitler-Attentäters Graf Stauffenberg vor wenigen Monaten rief der Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Peter Steinbach, als "das ganz große Thema der Zukunft in der Widerstandsgeschichte" die "unbesungenen Helden" und die "Auseinandersetzung mit Menschen, die wirklich Zivilcourage zeigten" aus.

Nicht unter seinen Beispielen waren die Frauen der Rosenstraße und die aus Witten - die eben keineswegs im Stillen gehandelt hatten, sondern ihren Willen durchsetzen, indem sie Krach schlugen. Wenn aber die Geschichte der Zivilcourage einzelner tatsächlich die Zukunft der Widerstandsforschung ist, dann sollte man den Protest der Straße nicht außen vor lassen, nur weil es die Form war, die selbst die Nazis gelegentlich zum Einknicken brachte. Wir sollten ihnen nicht den nachträglichen Gefallen tun, von denen, die Aufstanden, zu schweigen.


Nathan Stoltzfus ist Professor für Moderne Europäiische Geschichte an der Florida State University in Tallahassee, Florida. Er veröffentlichte 1989 in der "Zeit " den ersten Artikel über den Frauenprotest in der Rosenstraße. 1996 erschien sein Buch "Widerstand des Herzens. Der Aufstand der Berliner Frauen in der Rosenstraße 1943 (Hanser Verlag, München 1996), das eine intensive Debatte über Widerstand im Nationalsozialismus auslöste.

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