
Zeugen Jehovas: Weltuntergang auf Wiedervorlage
Endzeit-Sekte Zeugen Jehovas Und die Erde drehte sich weiter
Das bevorstehende Ende aller Tage stellte auch die garantiert Überlebenden vor schwierige Fragen. Lohnte es sich zum Beispiel noch, ein Kind für die Grundschule anzumelden? Marko Martin war fünf und lebte in der DDR, als die Zeugen Jehovas die Apokalypse nahen sahen: "1977 wurde ich eingeschult. Vor 1975 hieß es immer, dazu würde es gar nicht mehr kommen."
Auch Klaus-Dieter Pape erinnert sich gut. Sein Vater und sein Onkel waren lange bei den Zeugen Jehovas und klärten nach ihrem Austritt über die Strukturen der Sekte auf. Klaus-Dieter Pape schloss sich ihnen an. Wenn der katholische Klinikseelsorger heute an den für 1975 prophezeiten Weltuntergang denkt, fällt ihm zuerst ein, wie ein mit seiner Familie befreundetes Paar das Zeugen junger Zeugen verschob. Pape: "Einige Jahre später sind sie ausgetreten. Da war die Frau allerdings nicht mehr im gebärfähigen Alter."
40 Jahre ist es her, dass nach der Vorstellung der Zeugen Jehovas die Welt endgültig untergehen sollte. Doch am 1. Januar 1976 ging die Sonne auch über den Ungläubigen wieder auf - nicht zum ersten Mal hatte die Religionsgemeinschaft sich getäuscht. Schon 1914 sollte das Jüngste Gericht tagen, dann wieder 1918 und 1925. Aber immer kam etwas dazwischen.
Alles nur Missverständnisse?
Die Zeugen Jehovas glauben, dass Jesus 1914 im Himmel zu herrschen begann und Satan auf die Erde vertrieben habe. Die erste angekündigte Apokalypse, die dann wie alle weiteren ausfiel, hatte für sie eine entscheidende Veränderung gebracht: Ab jetzt tickte die Weltuntergangsuhr unaufhörlich. Die nun lebende Generation sollte bei den "letzten Tagen" dabei sein - und somit das Königreich Gottes genießen, teils im Himmel und teils in einem auf Erden wiederhergestellten Paradies.
Freudig fieberte also das Fußvolk, qua Treue zu Gott qualifiziert für den Garten Eden, dem großen Tag entgegen. 1975 sollte es so weit sein - das stand in mehreren Veröffentlichungen der Zeugen Jehovas. "Erwachet!", die offizielle Zeitschrift neben "Der Wachtturm", schrieb laut Netzwerk Sektenausstieg bereits 1967: "In welchem Jahr wären dann die ersten 6000 Jahre Menschheitsgeschichte und auch die ersten 6000 Jahre des göttlichen Ruhetags zu Ende? Im Jahr 1975."
Dass seine Gemeinschaft das kurz bevorstehende "Harmagedon" weiterhin erwarte, bestätigt Zeugen-Sprecher Wolfram Slupina, bezeichnet aber die Berechnung für 1975 als "Missverständnis" und "Fehlinterpretation". Den Beginn der Menschheitsgeschichte taxieren die Zeugen Jehovas mit der Erschaffung Adams. Wann genau das gewesen sei, könne man nicht sagen, erklärt Slupina: "Es gibt chronologische Lücken. Man weiß zum Beispiel nicht, wie lange Adam und Eva im Paradies waren, bevor sie ausgetrieben wurden."
Die Hirten und die dummen Schafe
Marko Martin und Klaus-Dieter Pape sehen eine eindeutige Festlegung des Führungsgremiums "leitende Körperschaft" auf 1975 als Weltuntergangsjahr. "Am 1. Januar 1976 hieß es dann im 'Wachtturm', nicht die Vorhersage sei falsch gewesen, einige Gläubige hätten einfach nur falsche Erwartungen gehabt", sagt Pape. So sei es weitergegangen; immer wieder hätten die Hirten in Veröffentlichungen allein den dummen Schafen die Schuld für ihre Enttäuschung gegeben.

Die christliche Religionsgemeinschaft wurde als "Internationale Vereinigung Ernster Bibelforscher" von Charles Taze Russell Ende des 19. Jahrhunderts in den USA gegründet und heißt seit 1931 Zeugen Jehovas. Weltweit hat sie nach eigenen Angaben acht Millionen Mitglieder, in Deutschland 167.000, und wird angeführt von der "leitenden Körperschaft", einem Gremium von ausschließlich Männern. Zur Missionsarbeit zählen die Verteilung der Zeitschriften "Der Wachtturm" und "Erwachet!", Hausbesuche sowie die Verbreitung ihrer Botschaften im Internet. Die Zeugen Jehovas orientieren sich streng an der Bibel und an urchristlichen Vorbildern. Vielen Kritikern gelten sie als Sekte, weil sie sehr hierarchisch und autoritär organisiert sind, den Staat ablehnen und Mitgliedern rigide Vorschriften machen, ihnen etwa den Kontakt zu Aussteigern ebenso verbieten wie Bluttransfusionen. In den meisten deutschen Bundesländern sind sie inzwischen als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt und somit den Kirchen gleichgestellt.
Marko Martin erhoffte sich keineswegs das Ende der Welt. Nur das Ende der DDR. Die muffige Diktatur wünschte der spätere Schriftsteller zu genau dem Teufel, von dem seine Glaubenslehrer immer sprachen.
"Wenn montags um 19.30 Uhr in der Versammlung das Schlusswort gesprochen wurde, machten wir den Fernseher an, und Dieter Thomas Heck sagte: 'Hier ist Berlin'. Ich habe es geliebt." Warum er so etwas Großartiges wie die ZDF-Hitparade nur heimlich gucken durfte, verstand der kleine Marko nicht. Der Ärger darüber, dass er sich mit seinen Glaubensbrüdern ebenfalls nur klandestin treffen durfte, hielt sich in Grenzen. Seine Eltern waren Zeugen Jehovas, sein Großvater gehörte sogar zu dem Trio, das die in der DDR verbotenen Zeugen heimlich leitete. Nur hatte Marko Martin schon immer Freude am Sündigen.
Finale im ewigen Duell Gut gegen Böse
Sein Vater verabschiedete sich 1986 aus der Sekte, nicht zuletzt wegen der falschen Endzeit-Prognose elf Jahre zuvor. Und Marko Martin, ebenfalls längst Ex-Zeuge, erlaubte sich im Urlaub einen Spaß, als er seinen weiter auf den Anbruch des Paradieses wartenden Großeltern eine Postkarte aus Megiddo schickte. Dort sollte nach Auffassung der Zeugen Jehovas das Finale im ewigen Duell Gut gegen Böse ausgetragen werden. Das historische Wembley der Apokalyptiker liegt übrigens - wenig überraschend - in Israel.
Die Zeugen Jehovas erwarteten ein göttliches Großreinemachen auf dem gesamten Erdenrund, mit nur vagen statt konkreten Vernichtungsvisionen, zumindest, was verbale Darstellungen angeht. Bildlich hingegen lieferte das Zeugen-Zentralorgan "Wachtturm" alles, was nicht allein Kinder um den Schlaf zu bringen vermag.
"Die Illustrationen sahen aus wie in amerikanischen Katastrophenfilmen: Hochhäuser brechen zusammen, eine Feuersbrunst tobt", sagt Marko Martin. Davongerannt seien Menschen, denen man manchmal schon das Böse in die Physiognomie hineingemalt habe. "Auf der anderen Seite standen die Zeugen Jehovas: proper, Hand in Hand, mitten im Sonnenschein."

Im Zentrum ihres Weltbilds stehen die "letzten Tage", die durch die Wiederkehr von Jesus Christus 1914 begonnen haben; als Sachwalter Gottes wird er den Satan in der finalen Schlacht besiegen, im "Harmagedon". Auf diesen Begriff aus der biblischen Offenbarung des Johannes stützen sich etliche christliche Gemeinschaften mit Endzeitvorstellungen, etwa die Mormonen, die Adventisten, die Neuapostolische Kirche. Die Zeugen Jehovas glauben, dass nach "Harmagedon" auf der Erde Menschen siedeln, die Gott als treu befunden hat: vor allem Zeugen, auch Verstorbene. Und genau 144.000 "Versiegelte" kommen direkt in den Himmel - ebenfalls laut Offenbarung des Johannes. Vorhersagen nannten für den Weltuntergang vier konkrete, aus Angaben in der Bibel errechnete Jahreszahlen. Doch diese Prophezeiungen traten nie ein.
Das verfing wohl nie besser als in den Siebzigerjahren, als die Apokalyptischen Reiter durch die Kinos rasten: ein Geschäft mit latenten Urängsten vor Naturkatastrophen, Terrorismus, Atomtod. Eine Art "römischer Endzeit-Zirkus", schrieb der SPIEGEL im Februar 1975. Und diagnostizierte in der Titelgeschichte "Neue Kino-Welle: Lust am Weltuntergang" eine nur mühsam sublimierte Massenhysterie anhand von Filmen wie "Flammendes Inferno", "Erdbeben" oder "Der Tag, an dem die Welt unterging".
Auf Wiedervorlage: Apokalypse irgendwann statt jetzt
Auch aus Sicht von Klaus-Dieter Pape machten die Zeugen Jehovas nichts anderes als Hollywood, indem sie einen neuen Weltuntergangstermin in die von Kaltem Krieg, Wirtschafts- und Energiekrise geprägte Zeit legten. Nach 1975 konnten sie das Spiel schlecht weiterspielen. Deshalb, so Pape, sei die "leitende Körperschaft" auf die clevere Idee der nicht länger termingebundenen Apokalypse gekommen.
Im Buch "Goodbye, Jehova! Wie ich die bekannteste Sekte der Welt verließ" beschreibt Misha Anouk, wie der "Wachtturm" vom November 2014 die "nächste Eskalationsstufe der Panikmache" zündete: "Auf einem Symbolbild ist eine Gruppe Zeugen Jehovas zu sehen, die sich in einem bunkerartigen Keller voller Lebensmittelvorräte während Harmagedon verschanzt hat."

Apokalypse-Szenarien: Irre geht die Welt zugrunde
Anouk, heute 34, wurde in eine Zeugen-Familie hineingeboren, verließ die Sekte im Jahr 2000 und machte Karriere als Poetry Slammer und Schriftsteller. Seine Kindheit schildert er als überschattet vom ständigen Erwarten des Weltuntergangs. Mittlerweile, das zeigt sein humorvolles Buch, hat Anouk ein deutlich entspannteres Verhältnis zu den Zeugen.
Das gilt auch für Marko Martin, der betont, er blicke nicht im Zorn auf die Zeugen Jehovas. Wenn die einstigen Brüder und Schwestern bei ihm klingelten, mache er sich einfach einen Spaß daraus: "Das letzte Mal habe ich gesagt, dass ich überhaupt keinen Bock auf deren Paradies habe, wo immer nur die Sonne scheint und man selig in seinen Apfel beißt. Als ich meinte, dass ich mir genau so die Hölle auf Erden vorstelle, konnten die es überhaupt nicht fassen."