Zeitungsstadt Berlin: Eins in die Presse – die große Ära der Massenblätter
Wie Zeitungen zum Massenmedium wurden
Die Welt im Leserausch
Die Geburt der Massenmedien im 19. Jahrhundert veränderte die Welt. Auf dem Zenit zählte allein Berlin 147 Tageszeitungen – mit Ausgaben morgens, mittags, abends und in der Nacht.
Gegen sechs Uhr wurden die Arbeiter im Druckhaus der »Times« unruhig. Sonst ratterten und klackerten am frühen Morgen die handbetriebenen Druckmaschinen längst auf Hochtouren, um die Zeitung rechtzeitig für den Morgenverkauf fertigzustellen.
Drucken war ein behäbiges Geschäft, das jede Menge Arbeitskraft erforderte und sich seit Gutenbergs Zeiten nur graduell verändert hatte. Wenn drei Arbeiter auf einer Druckerpresse 250 Seiten pro Stunde schafften, galt das als höchst effizient und schnell. Kein Wunder, dass Zeitungen teuer waren und nur in kleinen Auflagen erschienen. Die »Times« gehörte mit täglich 1500 Exemplaren zu den größten Europas.
Sollte sie etwa ausfallen an diesem Dienstag, dem 29. November 1814? Den Arbeitern hatte man gesagt, sie sollten warten, da kämen noch brisante Nachrichten vom Kontinent. Das klang plausibel, denn Europa war damit beschäftigt, sich nach den blutigen Befreiungskriegen gegen Napoleon neu zu sortieren, noch immer tagte der Wiener Kongress.
Nun aber wurde die Zeitung selbst zur Nachricht: Auch sie leitete eine Revolution ein, die die Welt verändern würde.
Arbeiter unter Druck
Kurz nach sechs Uhr betrat John Walter II. den Saal. Der Verleger war euphorisch, und in der Hand hielt er die Ausgabe, von der die Drucker glaubten, dass sie diese erst herstellen sollten.
»Die ›Times‹ ist bereits gedruckt«, rief er in den Saal, »mithilfe der Dampfkraft!«
Es war ein Schock, der vielleicht nur deshalb nicht sofort zu wütenden Protesten führte, weil Walter das Druckwerk herumgehen ließ: Keine Frage, was die Männer da in den Händen hielten, war viel besser als das, was sie selbst bis zum Vortag produziert hatten.
Walter erklärte derweil mit lauter Stimme und voluminösem Pathos, wie es dazu gekommen war: Heimlich hatte er in einem Gebäude in der »Times«-Nachbarschaft zwei dampfbetriebene Zylinderdruckmaschinen, entwickelt von den deutschen Ingenieuren Friedrich Koenig und Andreas Friedrich Bauer, aufstellen lassen. Damit, sagte er nun den Männern, hatten in den zurückliegenden Stunden nur zweimal sechs Arbeiter je 1100 Seiten pro Stunde produziert!
Eine Vervierfachung der höchstmöglichen Geschwindigkeit mit nur doppelter Mannstärke? Jeder Arbeiter begriff sofort, wie bedrohlich das war.
Es war nur eine Frage der Zeit gewesen. Vor allem in England, der Hightech-Nation des 19. Jahrhunderts, hatten Arbeiter erleben müssen, wie die dampfbetriebene Automatisierung eine neue Kaste von Industriellen sehr reich und Heerscharen von Menschen gleichzeitig bitterarm machte. Viele stürzten in Arbeitslosigkeit und Elend. In den überall entstehenden »Armenhäusern« mussten die Mittellosen weiter manuellen Tätigkeiten nachgehen – nur erheblich schlechter bezahlt. »Maschine« wurde zum Angstbegriff.
In Nordengland hatte sich deshalb drei Jahre zuvor eine Protestbewegung von Webern formiert, die sich Ludditen nannten und als »Maschinenstürmer« Geschichte schrieben: Sie brachen in Fabriken ein und zerstörten Dampf-Webstühle. Der Massenaufstand kam erst zu einem vorläufigen Halt, als 23 der Anführer öffentlich aufgehängt wurden. Doch die Wut auf die Maschinen blieb. Und das war der Grund für John Walters heimliches Vorgehen.
An diesem Morgen aber gelang es dem Verleger, Proteste zu vermeiden. Ab sofort, erklärte er den Arbeitern, werde die »Times« zwar mit Dampfkraft gedruckt, doch kein Mann werde ohne Job dastehen. Wer wirklich nicht mehr gebraucht würde, solle weiter sein Geld beziehen, bis er neue Beschäftigung gefunden habe. Im Grunde aber würden die neuen Maschinen mehr Arbeit bedeuten – weil sie mehr Zeitung möglich machten.
Jetzt machte Zeitung Masse
Es waren prophetische Worte: Der 24. November 1814 gilt als Geburtsstunde der Massenpresse, somit auch der Massenmedien. Innovation folgte nun auf Innovation. Nach drei Jahren schon ersetzte Walter seine ersten Zylinderdruckmaschinen durch doppelt so schnelle. 1844 erfand Richard March Hoe die Rotationspresse; mit einem optimierten Modell erhöhte Augustus Applegath 1846 das Drucktempo der »Times« auf 8000 Drucke pro Stunde und Maschine.
Die Amerikaner Hoe und William Bullock (der 1867 bei einem Unfall an seiner eigenen Erfindung starb) steigerten diesen Output noch auf 12.000 Drucke, bis das technische Konzept der Rotationspresse, die über mehrere Rahmen mit Bögen befüttert wurde, an seine Grenzen stieß. Doch schon 1853 erfand Jeptha Avery Wilkinson eine Rotationspresse, die über eine »endlose« Papierrolle gefüttert wurde – bald fiel die Rekordmarke von 20.000 Drucken pro Stunde. Und weiterhin kamen auch viele Druck-Innovationen aus Deutschland (siehe Bildergalerie oben).
Nach Deutschland kamen sie allerdings mit Verzögerung. Denn die technischen Voraussetzungen allein reichten nicht, allerorten die Zeit der Massenmedien einzuläuten: Man musste auch dürfen, was man nun konnte. In den deutschen Kleinstaaten herrschte eine rigide Zensur mit drakonischen Strafen gegen alle, die sie brachen. Das galt besonders im Norddeutschen Bund, der vom autoritären Preußen dominiert wurde.
Der nahm 1871 erstmals Gestalt an, zwar nur als Kaiserreich, aber immerhin mit einem Parlament mit bürgerlicher Beteiligung. Der Staat lockerte seinen Würgegriff. Die Zensur hatte sich schon ab 1848 nicht wieder flächendeckend durchsetzen lassen, 1874 machte der Reichstag die Pressefreiheit zum Gesetz. Da liefen in Deutschland längst die ersten beidseitig druckenden Rotationspressen, bald schnitten und falteten die Maschinen ihr Produkt gleich mit.
Zeitungsstadt Berlin: Eins in die Presse – die große Ära der Massenblätter
Jetzt gab es kein Halten mehr. Noch um 1850 hatten im heutigen Deutschland nur rund 400 Tageszeitungen mit einer Gesamtauflage von 500.000 existiert, viele Regionaltitel waren mit dreistelligen Auflagen erschienen. Zeitung war teuer, erreichte aber auch zahlreiche Menschen, die sie im öffentlichen Raum teilten. Für Arbeiter ohne reguläre Schulbildung waren öffentliche Zeitungslesungen oft die erste Begegnung mit den Ereignissen der großen, weiten Welt.
Zur Jahrhundertwende aber waren endlich alle Voraussetzungen erfüllt, um die Massen mit Informationen zu erreichen – durch freie Presse, industrielle Druckmethoden, die niedrige Preise ermöglichten, und dank Schulpflicht immer mehr Lesefähigen. Jetzt gab es eine Zeitungsschwemme, ein schier unfassbares Überangebot. In über 1800 Orten druckten eigenständige Verlage Periodika. Im Jahr 1897 sollen es rund 3500 Titel gewesen sein; die Auflagen hatten sich gegenüber 1850 etwa vervierundzwanzigfacht. Schätzungen gehen allein bei Tageszeitungen von Druckauflagen über zwölf Millionen aus.
Doch auch das war erst der Anfang. 15 Jahre später erreichte allein die Zahl der eigenständigen Tageszeitungen fast 4000 Titel, die Auflagen näherten sich 35 Millionen.
Zeitungsstadt Berlin
Vor allem Berlin wurde zur »Zeitungsstadt«, wie Oliver Ohmann in seinem frisch erschienenen Bildband »Unter Druck« dokumentiert (siehe Bildergalerie). 1904 wurde dort der Straßenverkauf von Zeitungen legalisiert – und die Straße wollte Zeitungen.
Der neue Wirtschaftszweig Massenpresse wuchs rasant. Noch 1905 zählte man in Berlin 59 Periodika. 1912 waren es schon über 100 Tageszeitungen, dazu rund 60 Wochentitel. Auf dem Höhepunkt des Booms erschienen 1929 in Berlin 147 Tageszeitungen, und das mit meist mehreren Ausgaben: Neben der Morgen-, Mittag- und Abendzeitung gab es vereinzelt sogar noch Nachtausgaben.
Vorher lasen viele eine Zeitung. Nun lasen Einzelne viele Zeitungen. Und zwar jeden Tag. Zu vergleichen ist das allenfalls mit dem Boom der Internetkommunikation ab Beginn des neuen Millenniums: Eine solche Informationsfülle braucht regelrechte News- und Medienjunkies, um eine Refinanzierung finden zu können.
Gieriger hätte der Nachrichten-Hunger in der großen Ära der Zeitungen kaum sein können. Auch die von Ohmann gesammelten Bilder zeigen das eindrucksvoll. Es sind ikonische Aufnahmen ihrer Zeit: der mit Papierstapeln bepackte Zeitungsjunge. Die Dutzende Titel feilbietende Zeitungsfrau. Und Menschen, die ihre Nasen in die Seiten tauchten, immer auf der Suche nach Neuigkeiten und Sensationen, nach amüsanten und provokanten Informationen.
Vielleicht braucht die Welt das in Zeiten des Wandels. Heute hat sie dafür andere Medien, die Tagespresse ist auf dem Rückzug. In Deutschland sorgten erst die Nazis mit Verboten und Zensur für ein Zeitungssterben, nach dem Krieg dann verteilte sich die Aufmerksamkeit auf neue Medien, neue Rivalen am Markt – nie wieder erreichten Zeitungen das Niveau der 1920er-Jahre.
Und heute? Statt einst fast 150 erscheinen in Berlin noch sieben Tageszeitungen und zwei Boulevardzeitungen, dazu Springers »Bild« mit einer Berlin-Ausgabe. Selbst damit ist Berlin bis heute die Stadt mit der höchsten Zeitungsdichte im Lande: die Stadt der Newsjunkies und Leseratten. Deutschlands Zeitungsstadt.
13 BilderZeitungsstadt Berlin: Eins in die Presse – die große Ära der Massenblätter
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Überangebot, um 1920: Eine sehr ernste Berliner Zeitungshändlerin mit Faschingshütchen, Reklameschirm und reichhaltigem Angebot – auf dem Zenit des Zeitungsbooms erschienen in der Hauptstadt 147 Tageszeitungen, dazu etliche Wochentitel.
Noch gibt es viel Angebot: 1934 war die Gleichschaltung der Presse durch die Nationalsozialisten noch nicht komplett. In den folgenden Jahren sank die Zahl der Titel.
Ein weiterer großer Moment der deutschen Geschichte, 1989: Als die Mauer fiel, erhielten Besucher aus Ost-Berlin am 15. November am Grenzübergang Invalidenstraße Blumen zur Begrüßung. Und dazu gab es Zeitungsstapel – viele wollten schwarz auf weiß sehen, was Fakt ist.
Überangebot, um 1920: Eine sehr ernste Berliner Zeitungshändlerin mit Faschingshütchen, Reklameschirm und reichhaltigem Angebot – auf dem Zenit des Zeitungsbooms erschienen in der Hauptstadt 147 Tageszeitungen, dazu etliche Wochentitel.
Noch gibt es viel Angebot: 1934 war die Gleichschaltung der Presse durch die Nationalsozialisten noch nicht komplett. In den folgenden Jahren sank die Zahl der Titel.
Ein weiterer großer Moment der deutschen Geschichte, 1989: Als die Mauer fiel, erhielten Besucher aus Ost-Berlin am 15. November am Grenzübergang Invalidenstraße Blumen zur Begrüßung. Und dazu gab es Zeitungsstapel – viele wollten schwarz auf weiß sehen, was Fakt ist.
Jede Menge Handarbeit: Seit Gutenbergs Zeiten hieß Drucken letztlich, Lettern auf Papier zu pressen. Ein gutes Team schaffte Anfang des 19. Jahrhunderts 250 Seiten pro Stunde – kein Wunder, dass die meisten Zeitungen nicht einmal vierstellige Auflagen erreichten.
Der Durchbruch: Die deutschen Ingenieure Friedrich Koenig und Andreas Friedrich Bauer hatten die Schnellpresse entwickelt. 1814 wurden ihre Zylinderdruckmaschinen bei der Londoner »Times« aufgestellt und schafften viermal mehr Drucke pro Stunde als zuvor – mit Dampfkraft betrieben.
Foto: SSPL / Getty Images
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Rotationsdruck: Richard March Hoe erfand 1844 eine Druckmaschine, bei der eine Walze den Druck aufs Papier übertrug. So stieg das Tempo.
Foto: UIG / imago images
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Ein Konzept mit Grenzen: Die Druckgeschwindigkeit war nicht zuletzt durch die körperlichen Grenzen der Drucker limitiert, also erhöhte Hoe die Zahl der Drucker. Mehr als zehn bekam er nicht um die Druckwalze platziert, bei 12.000 Drucken pro Stunde erreichte das Konzept seine Grenze.
Foto: UIG / imago images
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Die nächsten Schritte: 1853 ließ Jeptha Avery Wilkinson zum ersten Mal das Papier von einer Rolle laufen – der personelle Aufwand sank. Hippolyte Auguste Marinoni setzte 1866 noch eins drauf: Seine Rotationspresse druckte parallel beidseitig.
Foto: imago images
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Fast fertig: Im Jahr 1870 baute die Liverpooler Firma Duncan & Wilson für den »Glasgow Star« eine Rotationsdruckmaschine, die das Produkt am Ende auch noch schnitt und faltete. Damit war erstmals das Leistungsspektrum moderner Druckmaschinen erreicht.
Foto: imago images
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Deutschland, 1928: Bei der »Westdeutschen Landeszeitung« produziert eine Doppeltransport-Druckmaschine von MAN 120.000 achtseitige Zeitungen pro Stunde. Das Zeitalter der Massenmedien hatte begonnen.
Foto: teutopress / imago images
Jede Menge Handarbeit: Seit Gutenbergs Zeiten hieß Drucken letztlich, Lettern auf Papier zu pressen. Ein gutes Team schaffte Anfang des 19. Jahrhunderts 250 Seiten pro Stunde – kein Wunder, dass die meisten Zeitungen nicht einmal vierstellige Auflagen erreichten.
Der Durchbruch: Die deutschen Ingenieure Friedrich Koenig und Andreas Friedrich Bauer hatten die Schnellpresse entwickelt. 1814 wurden ihre Zylinderdruckmaschinen bei der Londoner »Times« aufgestellt und schafften viermal mehr Drucke pro Stunde als zuvor – mit Dampfkraft betrieben.
Foto: SSPL / Getty Images
Rotationsdruck: Richard March Hoe erfand 1844 eine Druckmaschine, bei der eine Walze den Druck aufs Papier übertrug. So stieg das Tempo.
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Ein Konzept mit Grenzen: Die Druckgeschwindigkeit war nicht zuletzt durch die körperlichen Grenzen der Drucker limitiert, also erhöhte Hoe die Zahl der Drucker. Mehr als zehn bekam er nicht um die Druckwalze platziert, bei 12.000 Drucken pro Stunde erreichte das Konzept seine Grenze.
Foto: UIG / imago images
Die nächsten Schritte: 1853 ließ Jeptha Avery Wilkinson zum ersten Mal das Papier von einer Rolle laufen – der personelle Aufwand sank. Hippolyte Auguste Marinoni setzte 1866 noch eins drauf: Seine Rotationspresse druckte parallel beidseitig.
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Fast fertig: Im Jahr 1870 baute die Liverpooler Firma Duncan & Wilson für den »Glasgow Star« eine Rotationsdruckmaschine, die das Produkt am Ende auch noch schnitt und faltete. Damit war erstmals das Leistungsspektrum moderner Druckmaschinen erreicht.
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Deutschland, 1928: Bei der »Westdeutschen Landeszeitung« produziert eine Doppeltransport-Druckmaschine von MAN 120.000 achtseitige Zeitungen pro Stunde. Das Zeitalter der Massenmedien hatte begonnen.
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Überangebot, um 1920: Eine sehr ernste Berliner Zeitungshändlerin mit Faschingshütchen, Reklameschirm und reichhaltigem Angebot – auf dem Zenit des Zeitungsbooms erschienen in der Hauptstadt 147 Tageszeitungen, dazu etliche Wochentitel.
Noch gibt es viel Angebot: 1934 war die Gleichschaltung der Presse durch die Nationalsozialisten noch nicht komplett. In den folgenden Jahren sank die Zahl der Titel.
Ein weiterer großer Moment der deutschen Geschichte, 1989: Als die Mauer fiel, erhielten Besucher aus Ost-Berlin am 15. November am Grenzübergang Invalidenstraße Blumen zur Begrüßung. Und dazu gab es Zeitungsstapel – viele wollten schwarz auf weiß sehen, was Fakt ist.