
© SLUB / Deutsche Fotothek / Christian Borchert
DDR-Familienporträts Der Wohnzimmer-Report

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In Berlin werde am 4. November "die große (erste genehmigte!) Demonstration" stattfinden, schrieb Fotograf Christian Borchert 1989 einem Freund in Dresden. Er selbst habe sich zu diesem Ereignis "als Ordner" gemeldet. Borchert witzelte über die Bezeichnung; die Doppeldeutigkeit amüsierte ihn: er - ein Ordner! Das passte irgendwie. DDR-Bürger zu ordnen, das war doch gewissermaßen seine Berufung.
"Ordnen ist wunderbar", hatte er schon 1982 auf einer Ansichtskarte an den West-Berliner Verleger Hansgert Lambers notiert. Damals bezog er das Ordnen natürlich nicht auf Demonstranten, vielmehr auf Postkarten - und vor allem auf seine Fotografien. Zu den Dingen, die der 1942 in Dresden geborene und ab den sechziger Jahren in Ost-Berlin lebende Fotograf leidenschaftlich sammelte und sortierte, gehörten Bilder von Menschen. So berichtete er seinem Freund Lambers am 4. August 1985 begeistert von einem Besuch auf der Galopprennbahn Hoppegarten: "Meine lieben DDR-Bürger waren alle da!"
Christian Borchert habe manchmal einen seltsamen Humor und Wortwitz gehabt, sagt Lambers. Ansonsten aber dürfte die schiere Freude über die gefühlt vollständige Anwesenheit seiner Mitbürger durchaus ernstgemeint gewesen sein: Die unterschiedlichsten Typen gab es da, und Borchert suchte nach solchen Charakteren. Er wollte sie fotografieren - am liebsten wohl alle. Und wäre der Staat nicht kurz nach erwähnter Demonstration untergegangen, er hätte seine Sammlung von Menschen im Alltag vermutlich noch endlos fortgesetzt. Als der Fotograf im Jahr 2000 tödlich verunglückte, hinterließ er neben Hunderttausenden Aufnahmen - wohlgeordnet nach verschiedenen Themen - auch eine Adresskartei seiner "lieben DDR-Bürger". Keiner sollte ihm verlorengehen.
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Mit seinen Familienporträts ist Borchert derzeit neben 33 anderen DDR-Fotografen in der Ausstellung "Geschlossene Gesellschaft" der Berlinischen Galerie vertreten. Seine Aufnahmen wirken wie Sittengemälde aus einer anderen Zeit: Mutter, Vater und die Kinder, artig aufgereiht im Wohnzimmer der achtziger Jahre. Arbeiter, Bauern und Intellektuelle, umrahmt von Zimmerpflanzen, Lampenschirmen und Fernseher, zwischen Sofakissen, am Esstisch, vor der Schrankwand oder dem Bücherregal. Das besonders Faszinierende: Zehn Jahre später besuchte Borchert sie noch einmal.
"Das sind wir"
Begonnen hatte der Fotograf seine eindrucksvolle Menschensammlung zunächst mit den Künstlern. Mit vielen stand Borchert, der im Alter von 33 Jahren seinen Job bei der "Neuen Berliner Illustrierten" aufgegeben hatte, um freischaffend zu arbeiten, persönlich in engem Kontakt. Im Auftrag eines Verlags porträtierte er 1978 die Mitglieder der Akademie der Künste der DDR, doch er beließ es nicht allein bei den Malern, Grafikern und Bildhauern. Er hatte Größeres im Sinn - und ging behutsam dabei vor.
"Wie es dazu kam, weiß ich gar nicht mehr genau", erzählt beispielsweise der Berliner Hans Scheib. Schon seit den sechziger Jahren war der Bildhauer mit Borchert bekannt gewesen. "Man kann schon sagen, dass wir Freunde waren. Na und dann ist es doch wunderbar, wenn einer, den man gut leiden kann, zu einem nach Hause kommt. Man trinkt Kaffee, plaudert - und dann wollte er noch das Bild machen."
1984 war das. In Ost-Berlin, in einer Wohnung in Prenzlauer Berg. Seither hängt das Schwarzweißfoto in verschiedenen Ausstellungen und ist jetzt auch in der Berlinischen Galerie zu sehen: Es zeigt einen Mann mit Vollbart, der die Hände in den Sakkotaschen vergraben hat und wie abwesend aus den Fenster schaut. Er wirkt fast ein wenig trotzig, wie er da steht vor einer Wand voller Zeichnungen und mit einer Armlänge Abstand zu den Kindern, der Katze und zu seiner Frau, die direkt in die Kamera schaut.
"Das sind wir. Na und?" sagt Scheib, wenn er auf das Familienporträt angesprochen wird. Es macht ihm nichts aus. Ihren Witz entfalte die ganze Serie doch überhaupt erst im Zusammenhang. Das Bild gefällt ihm. "Wenn wir es nicht gewollt hätten, hätte Christian es auch nicht gemacht. So war er. Und wir vertrauten ihm, seiner Fotografie, seiner Kamera. Er war kein Schnellschießer."
"Mit sächsischem Charme"
Und genau das war wohl auch der Trick oder besser: Borcherts besonderes Talent. "Er hat so langsam gearbeitet, dass Leute, die vorher noch ein bisschen aufgeregt waren, völlig zur Ruhe kamen. Er hat sie nie gegängelt. Er hat sie sich aufstellen lassen, wie und wo sie wollten. Und später war er dann manchmal selbst verblüfft, was dabei rauskam", erzählt Lambers. Der West-Berliner hatte Borchert 1979 bei einem Besuch im Osten kennengelernt, als dieser zeitweise die "Galerie Berlin" des Staatlichen Kunsthandels der DDR leitete; 1986 brachte er ein Buch mit Borcherts Fotografien heraus.
Er beschreibt Borchert als jemanden, der "sehr sanft aufgetreten" sei, mit "viel sächsischem Charme - und das meine ich ganz ernst." Die zurückhaltend freundliche Art öffnete dem Fotografen die Türen zu Schriftstellern, Ärzten, Polizisten, Mähdrescherfahrerinnen, Krankenschwestern und Friseusen. Die DDR-Gesellschaft sei in diesem Punkt sehr offen gewesen, meint Lambers. Misstrauen gegenüber dem Fremden, der bis ins Wohnzimmer kam, gab es nicht. Oft sei er sogar weiterempfohlen worden, etwa durch den Pfarrer einer Gemeinde, oder er fand seine Protagonisten per Zeitungsannonce.
Stück für Stück baute Borchert seine Sammlung aus. Der Fotograf August Sander und sein Bildatlas "Menschen des 20. Jahrhunderts" waren sein Vorbild. Ein Onkel in Hannover hatte ihm den dicken Bildband geschickt. "Das war sozusagen seine Bibel", meint Lambers. Sander hatte Menschen verschiedenster Schichten und unterschiedlicher Berufe porträtiert. Borchert habe ihn nicht nachahmen wollen, "aber es ging ihm - ganz im Sanderschen Sinne - wirklich um eine gewisse Vollständigkeit". Und die sei ihm weitgehend gelungen.
Zehn Jahre später: Waren sie noch da?
Niemand sonst hat die DDR-Gesellschaft, ihre unterschiedlichen Milieus in Stadt und Land derart umfänglich und unverstellt in ihrem persönlichen Umfeld dokumentiert. Rund 180 Familien waren es allein bis 1985. Bilder aus einer Gesellschaft, die es bald darauf so nicht mehr gab. Für den akribischen Ordner und Sammler aber war auch das ein Glücksfall - und neue Inspiration: Rund zehn Jahre später machte sich Borchert erneut auf die Suche nach "seinen" Familien. Ihn interessierte, was nach der politischen Wende aus ihnen geworden war. Waren sie noch da? Waren sie noch zusammen?
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09.03.2021 11.39 Uhr
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Zu einigen war der Kontakt nie ganz abgebrochen. Zu den Scheibs etwa. Obwohl der Bildhauer, die Bühnenbildnerin und ihre beiden Töchter 1985, nur wenige Monate nach dem gemütlichen Kaffee- und Fotonachmittag, die DDR verlassen hatten und fortan in West-Berlin lebten. "Fünf Jahre lang konnten wir uns nicht treffen", sagt Hans Scheib, "danach sind wir uns glücklicherweise wieder begegnet."
Auf dem Bild von 1994 stehen die Scheibs nun in ihrer Wohnung in Charlottenburg. Alle vier in einer Reihe. Auch die Katze ist dabei. Während Töchter und Mutter direkt in die Kamera sehen, blickt der bärtige Mann wie schon in der Aufnahme zehn Jahre zuvor an ihnen vorbei. Dieses Mal aber gar nicht so gedankenverloren. Es scheint vielmehr, als hätte er da in nicht allzu weiter Ferne etwas entdeckt.
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Familie S. aus Groß Kiesow, ganz im Nordosten der DDR, versammelte sich im September 1983 für den Fotografen auf dem Sofa. Zehn Jahre später...
© SLUB / Deutsche Fotothek / Christian Borchert
...rückten Eltern und Söhne noch einmal zusammen.
Mutter S., vormals Hausfrau, arbeitete im September 1993 als Mähdrescherfahrerin, ihr Mann - früher Tierpfleger - inzwischen als Traktorist.
Familie W. - er Komponist, sie Ärztin für Anästhesie - mit ihrem Kind 1983 in Ost-Berlin. Zehn Jahre später...
...porträtierte Fotograf Christian Borchert die Familie erneut im Arbeitszimmer des Komponisten. Mittlerweile hatte das Paar noch eine Tochter bekommen, wie die Aufnahme vom 10. November 1993 zeigt.
Familie E. aus Dresden im Juni 1983: Der Vater arbeitete als diplomierter Filmökonom, sie als Sekretärin, ihr Sohn ging noch zur Schule. Zehn Jahre später...
...hatte der Sohn eine Ausbildung zum Industriekaufmann angefangen. Vater E. bekleidete nun die Position des Verwaltungsdirektors der Staatsoperette Dresden, seine Frau die einer Sachgebietsleiterin.
Ehepaar M. - er Maurer, sie Stationshilfe - bekamen 1983 in ihrem Zuhause in Groß Kiesow nahe Greifswald Besuch von Fotograf Christian Borchert. Zehn Jahre später...
...waren die M.s zu einer siebenköpfigen Familie herangewachsen.
Familie E. - er Archäologe, sie Ärztin - wurde 1985 in Ost-Berlin fotografiert. Acht Jahre später...
...posierte die Akademikerfamilie für den Fotografen noch einmal am Esstisch - die Eltern dieses Mal im Hintergrund.
Familie B. aus Ost-Berlin - er Kinderneuropsychiater, sie Lektorin - ließ sich von Borchert in ihrer Küche ablichten. Elf Jahre später...
...kam Christian Borchert erneut zu Besuch. Die Kessel standen wie damals auf dem Herd, die Kinderzeichnungen an der Wand waren Tierbildern und Fotos gewichen.
Die Tochter, inzwischen zur Teenagerin herangewachsen, nahm wieder zwischen ihren Eltern auf der Küchenbank Platz. Mutter B. ließ sich zum Zeitpunkt der Aufnahme 1994 gerade zur Europasekretärin weiterbilden.
Familie S. am 25. Juni 1983 mit ihren drei Kindern in ihrer Wohnung in Dresden. Vater S. arbeitete damals als Meister der Betriebs-, Mess-, Steuerungs- und Regelungstechnik, wie der Ausbildungsberuf in der DDR hieß, sie als Rechnungslegerin. Zehn Jahre später...
...hatte die Frau einen neuen Partner: Er arbeitete als Berufskraftfahrer, sie inzwischen als Krankenschwester. Ihre Tochter ließ sich gerade ebenfalls zur Krankenschwester ausbilden, der Sohn ging noch zur Schule.
Familie M. aus Dresden, aufgenommen um Weihnachten 1993
Familie Scheib - er Bildhauer, sie Bühnenbildnerin - mit den Töchtern Sabine und Jette und der Hauskatze in ihrer Wohnung am Prenzlauer Berg in Ost-Berlin. Zehn Jahre später...
...war auch die Katze wieder mit auf dem Bild. Die vierköpfige Familie lebte inzwischen in Berlin-Charlottenburg. Hans Scheib arbeitete weiter als Bildhauer, seine Frau, bekannt unter dem Künstlernamen Anna Cumin, als Bühnen- und Kostümbildnerin. 1985 hatte die Familie die DDR verlassen.
Familie B. - sie noch Journalistikstudentin, er Gas-/Wasserinstallateur - am 26. November 1983 Leipzig. Zehn Jahre später...
...lebte Frau B., inzwischen Journalistin, in Berlin-Ahrensfelde. Christian Borchert besucht sie einen Tag vor Heiligabend. Meerschweinchen und Hauskatze kamen mit aufs Foto.
Familie D. - die Mutter Friseurin, der Vater Landmaschinenschlosser - 1983 in ihrem Wohnzimmer in Groß Kiesow. Zehn Jahre später...
...führte der Familienvater, zweiter von links, seinen eigenen Meisterbetrieb für Land- und Gartentechnik in Mecklenburg-Vorpommern.
Familie H./W. (Maler/Grafiker, Regisseurin) 1984 vor einer Zeichentapete in Berlin-Mitte. Zehn Jahre später...
...stellte sich die Familie - inzwischen mit zwei Kindern - vor weißer Wand und Apothekerschrank auf.
Familie H. aus Hoyerswerda nahm 1983 fürs Foto in einer Sofaecke Platz. Zehn Jahre später...
...machten es sich die H.s - sie Zootechnikerin, er Elektroingenieur/Montierer - für Fotograf Christian Borchert noch einmal auf dem Sofa gemütlich.
Familie K. - sie Lehrerin, er Pfarrer - zwischen Schallplatten und Zimmerpflanzen 1983 in ihrem damaligen Zuhause in Schwaan, südlich von Rostock. Zehn Jahre später...
...waren die K.s nach Potsdam umgezogen. Der Vater arbeitete dort nach der Wende als Regierungsangestellter.
Familie S. im Oktober 1983 in ihrem Wohnzimmer in Rosenthal-Bielatal in der Sächsischen Schweiz. Zehn Jahre später...
...fuhr Christian Borchert noch einmal in den kleinen Ort an der tschechischen Grenze. Die mittlerweile siebenköpfige Familie S. war ihrer Schrankwand treu geblieben.
Familie A. postierte sich für Christian Borchert am 17. September 1983 mit ihren Haustieren vor dem Hauseingang. Das Maler- und Grafikerpaar hatte in Steinhagen-Krummenhagen, unweit von Stralsund ein Zuhause gefunden.
Auf den Tag genau zehn Jahre später...
...kam der Fotograf dort noch einmal vorbei. Hund, Katze und Schaf durften natürlich auch wieder mit aufs Foto.
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