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Wolfgang Joops Kindheit: Seine Jacke war kacke

Foto: Arno Burgi/ dpa

Wolfgang Joops Kindheit Seine Jacke war kacke

In der Schule galt er lange als uncool, weil er kein Geld für schicke Mode hatte. Doch schon bald sollten sich Mitschüler um seine Klamotten reißen. Auf einestages erzählt Wolfgang Joop von Asthma, Horror-Zeichnungen und Opas alten Wollpullis.
Von Ulrike Döpfner

Ich war im wahrsten Sinne des Wortes ein Einzelkind, ein Kriegskind. Meine Mutter soll später noch einmal schwanger gewesen sein. Das hat sie mir natürlich nicht gestanden, nur allen anderen, die es mir dann irgendwann einmal auf etwas brutalere Art und Weise beigebracht haben. Sie hat mit sechs Monaten ein Mädchen verloren. Wie auch immer, ich war natürlich sehr gewünscht auf dem Hof der Großeltern, von Tante Ulla. Ich war sehr sensibel, sehr scheu und flüchtete mich immer ganz schnell in den Schutz der Großmutter oder meiner Mutter oder meines Großvaters. Der Vater war ja nicht da. Es war ja eine sehr unruhige Zeit.

Bald schon hatte ich schweres Asthma, mit dem ich aus der Klinik heimgekommen bin, weil ich mich dort im Luftschutzkeller mit Keuchhusten angesteckt hatte. Dann im November nach Bornstedt, zeitgleich mit mir ein Flüchtlingswagen aus Ostpreußen. Tante Elli, eine Couture-Schneiderin aus Berlin und eine Freundin von Tante Ulla, schrie immer: "Ich brauch einen Persilkarton, ich brauch einen Persilkarton!" Das muss der 20. November gewesen sein. Ich bin am 18. geboren. Und alle fragten: "Wozu brauchst du den denn?" "Da sind Zwillinge erfroren. Sieht das denn keiner? Ich muss die beerdigen, bevor der Boden friert." Sie fand keinen Persilkarton.

Ich war gerade reingekommen, man machte mir die Badewanne mit Warmwasserkesseln warm und warf mich hinein - und dann hat sie in ihrer Verzweiflung die beiden Babys auch hineingeschmissen. Und die kamen zu sich. Ein richtiges Wunder. Ich glaube, dass das auch ein wichtiger Teil meines Charakters geworden ist: Ich kann und muss teilen.

Ich kann nichts für mich allein genießen. Deswegen sagen auch manche Leute, dass ich Dinge erzähle, die ich nicht erzählen sollte. Daher rühren aber vielleicht auch meine Energie und meine Kraft. Ich glaube, dass dich zu viele Geheimnisse irgendwann sehr einsam machen können. Aber so war es eben im Alltag damals. Alle um mich herum hatten Geheimnisse, und das machte mich ängstlich und einsam.

Ich hatte eine Katzenallergie. Das wusste aber niemand. Ich röchelte mich durch den Winter, und man warf mir noch die Katzen aufs Bett und sagte: "Der arme Junge ist schon wieder erkältet." Dann gab es etwas Widerliches zur Entschleimung, das hieß Buchenteer. Eine rote Flüssigkeit, die einfach nur gemein schmeckte. Viel mehr Medikamente gab es nicht. Nein, in der DDR gab es keine Allergien.

Makabre Glockenblumen

So habe ich viel Zeit im Bett verbracht und mir das Zeichnen beigebracht. Es gab kein anderes Spielzeug, keinen Fernseher und für das ganze Haus ein Radio. Und es hatte auch niemand Zeit, mir Geschichten zu erzählen. Also habe ich leicht makabre Zeichnungen angefertigt. Ich weiß noch eine, da musste ich wohl gerade Schreiben gelernt haben, auf der zwei Glockenblumen zu sehen waren - und zwischen den Glockenblumen hing eine Glocke. "Und die Glockenblumen läuten den Tod ein. Amen", stand darunter.

Grimms und Andersens Märchen haben mich tief beeinflusst. Es war manchmal sehr schwer für mich, in der Schule wieder aus diesen Geschichten aufzuwachen. Manchmal habe ich gar nicht zugehört - über Stunden. Unverhohlen starrte ich die Lehrer an, und die dachten: "Ach, der Junge ist aber aufmerksam." Dabei war ich ganz woanders.

In Braunschweig fühlte ich mich dann Jahre später zum ersten Mal sozial ausgegrenzt. Ich hatte nicht die schicken Westsachen an. Und sprach einen anderen Dialekt. Ich glaube, dass das eine ganz wichtige Erfahrung ist für später, dass man auch Ausgrenzung als Privileg empfindet. Du entwickelst mit der Zeit Gegenwehr und Selbstbewusstsein.

"Selbstgestricktes? Oh Gott - Flüchtlingsmode!"

Mein Schlüsselerlebnis - rein modisch gesehen - ergab sich, als ich 14 Jahre alt und auf dem Internat war. Weil ich wieder sitzenbleiben sollte, reiste mein Vater mit mir in meinen ersehnten Sommerferien von Internat zu Internat, ob sie mich denn weiterversetzen würden. Im Internat war ich vollkommen verstummt, weil ich wieder mal nicht die Klamotten hatte, die die anderen hatten. Und da gab es schon genauso einen Fashionzwang wie heute. Man musste die Levi’s-Jeans in einer bestimmten Waschung tragen, selbst gewaschen, natürlich, und den Nylonmantel und den Peter-Scott-Pullover … fully fashion. Selbstgestricktes? Oh Gott - Flüchtlingsmode! Da ich aber mit 14 anfing, irgendwie im modischen Sinne ganz attraktiv zu werden, merkte ich, dass mir alles zu stehen schien - egal, ob es scheiße war oder nicht.

Also bin ich nach Potsdam gefahren und habe mir von meinem Großvater die ganzen geflickten alten Sachen geben lassen - so alt und vergammelt und dreckig wie möglich. Die handgestrickten, aus Wolle von eigenen Schafen gestrickten, kratzenden Jacken, die fünfmal am Ellenbogen gestopft waren. Die Pullover mit den Hirschen drauf, die Cordhosen.

Und das habe ich mit einer "allure" getragen, dass die ganzen jungen Gören aus reichen Haushalten mit ihren Keilhosen von Bogner das auch gleich haben wollten. Mit diesem höchst konträren Look habe ich so eine Fresse aufgesetzt, dass sie alle die Klamotten von mir leihen wollten. Ich habe so aus Kacke Bonbons gemacht oder, von heute aus betrachtet, aus "failure" wurde "art".

Klamotten gegen Kaubares

Und ich habe das erste Mal Listen geführt und Leihgebühren verlangt - ich nehme mal an in Fressalien, weil ich nur vier Mark Taschengeld pro Monat hatte. Und das war wirklich wenig im Internat, auch weil man im Wachstum ja andauernd Hunger hat. Alle konnten ständig Kaffee trinken und Fritten essen gehen. Ich nicht. Ich habe mir damit sozusagen mein Zubrot verdient. So ging es langsam bergauf mit mir - die tristen, schweigenden Jahre zogen vorbei. So habe ich mich durchgeschleppt und im letzten Jahr vor dem Abitur Karin in Braunschweig kennengelernt.

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Ulrike Döpfner

Was für ein Kind waren Sie?

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Für ihr Buch "Was für ein Kind waren Sie?" stellte die Psychologin Ulrike Döpfner 15 Prominenten die immer gleichen Fragen zu ihrer Kindheit. Auf einestages lesen Sie Auszüge aus den Gesprächsprotokollen.


Mein Vater hatte eine Erbtante und konnte sich außerhalb von Braunschweig ein Häuschen bauen. Dahin kam Karin. Sie war auf einer anderen Schule, und ich hatte noch ein halbes Jahr gemeinsamen Schulweg mit ihr. Anschließend sind wir zusammen zum Studium gegangen. Sie studierte Mode und Kostümbildnerei, ich Malerei und Bildhauerei. Mein Vater sagte: "Das machst du nicht. Das ist brotlos, beleg doch das Fach 'Kunsterzieher'." Und als ich wieder zweimal in der Schule gewesen war und den Gestank nach alten Socken und Kreide gerochen hatte, dachte ich: "Hier werde ich wohl sterben, aufgehängt an der Tafel."

Ich hatte übrigens vorher schon eine Freundin in Potsdam gehabt. Endlose Nostalgie, Briefe geschrieben - sie war die Pfarrerstochter hier in derselben Straße. Das fing so mit 16 an. Dann kam Karin und löste sie ab. Das war für die Pfarrerstochter natürlich ein schwerer Stich ins Herz - die Westlerin hat die Ostlerin ausgestochen. Das schien zu leicht, zu unfair in jener Zeit. Na ja, aber später dann fing mit Karin und den Kindern die Reiserei an - hierher und zurück. Karin hat es als Einzige geschafft, jetzt noch hier zu sein. Die Kindheit, muss ich sagen, ist für mich eigentlich kein allzu schöner Ort gewesen.

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