
Zweiter Weltkrieg: Die vergessenen Morde von Swinemünde
Zweiter Weltkrieg Die vergessenen Morde von Swinemünde
Pawel Skubisz ist Historiker am polnischen Institut des Nationalen Gedenkens, kurz IPN. Sein Thema sind die Militärgerichte in Szczecin, dem früheren Stettin, und die Abgründe und Fallstricke der jüngeren Geschichte dieser Stadt sind sein Tagesgeschäft. Doch auch für ihn, der von Berufs wegen den Spuren der deutsch-polnischen Vergangenheit in Archiven nachspürt, ist ein Kriminalfall, auf den er beim Studium von Prozessakten aus der Zeit unmittelbar nach Kriegsende stößt, äußerst ungewöhnlich.
Der Fall spielt 1946. Sieben Polen werden des Mordes angeklagt; sie sollen sieben Deutsche umgebracht haben. Ein achter mutmaßlicher Täter hat Selbstmord begangen, ein neunter war geflohen, bevor es zur Verhandlung kommt. Der Mordpozess endet mit einem äußerst seltsamen Urteil. Die Angeklagten werden wegen Diebstahls einer Kartoffelkarre verurteilt, von Mord und Totschlag ist auf einmal keine Rede mehr.
Historiker Skubisz, 30 Jahre jung und ehrgeizig, verfolgt die offensichtliche Diskrepanz zwischen Anklage und Richterspruch. Was ist am 6. und 7. Januar 1946 wirklich geschehen? Der Tatort liegt in Swinemünde, das seit Herbst 1945 Swienoujscie heißt; dort wo sich die Inseln Usedom und Wollin an der Swine gegenüber liegen. Im ersten Nachkriegswinter leben hier noch 20.000 Deutsche. Ihnen stehen gerade 300 Polen gegenüber, darunter Angehörige der Bürgermiliz. Haben sich die Spannungen und Feindseligkeiten gewaltsam entladen?
Leichen tauchen auf, Akten verschwinden
Skubisz braucht Augenzeugen, die ihm berichten können, was damals wirklich geschah. Also wendet er sich im Dezember 2007 an die Presse. Das Lokalblatt "Kurier" druckt ein Interview mit Skubisz, und seinen Aufruf an mögliche Zeugen. Aber das Echo ist dünn, die wenigen Antworten sind fragwürdig. Immerhin ist der Hinweis eines Mannes dabei, der einen plausiblen Schauplatz für das Drama benennt. Die Spur führt zu einem Grundstück an der Piastowska-Straße, auf dem heute die Sonderschule "Maria Konopnicka" steht. Die überregionale liberale Tageszeitung "Gazeta Wyborcza" nennt den mutmaßlichen Tatort in ihrer Ausgabe vom 18. Januar 2008 - und löst damit eine Debatte aus, die Wellen schlägt.
Die Adresse in der Piastowska-Straße hat eine düstere Vorgeschichte. Die Historiker des IPN gehen davon aus, dass hier während des Kriegs die Swinemünder Gestapo ihren Sitz hatte. Nach dem Krieg zog vorübergehend die russische Staatssicherheit NKWD ein, 1946 folgten dann Polens Bürgerliche Miliz (MO) und die polnische Staatssicherheit (UB), die hier deutsche und auch polnische Gefangene festsetzten.
Schon damals waren Zweifel aufgekommen, ob hier nur Verhöre durchgeführt wurden, unter anderem wegen der überdurchschnittlich hohe Zahl von Todesfällen unter den Gefangenen. Bei der darauf folgenden Suche wurden auf dem Areal 1946 zwei Gräber gefunden - und acht Leichen. Allerdings sind die Akten, aus denen die Todesursache oder auch nur die Identität hervorgehen könnte, verschwunden. Anfang der neunziger Jahre wurden dann bei Bauarbeiten auf dem Gelände zwei weitere Leichen werden entdeckt. Aber die Ermittlungen kamen zu keinem Ergebnis.
Bombenopfer oder Mordfälle?
Pawel Skubisz glaubt inzwischen, dass auch die sieben Mordopfer "seines" Falles hier begraben liegen. Doch selbst wenn auf dem Grundstück tatsächlich Leichen gefunden werden sollten - es wird schwer sein, 62 Jahre nach der Tat nachzuweisen, dass es sich bei den Toten um die deutschen Gefangen handelt. Es könnten schließlich auch Bombenopfer sein: Bei einem der schwersten Luftangriffe des Krieges auf Swinemünde waren am 12. März 1945 nach Schätzungen etwa 20.000 Menschen umgekommen - die Stadt galt forthin als "Dresden des Nordens".
Während Skubisz noch auf die Genehmigung zum Graben wartete, begann bereits die Interpretation der Vorkommnisse in den deutschen Medien. Die "Welt" berichtete über die Geschichte des Swinemünder Massengrabs und erkannte darin "ein dunkles Kapitel der polnischen Geschichte". Das Blatt sah Polens Selbstbild als "große Opfernation" erschüttert und bezweifelte, dass man den Bürgern eine umfassende Aufklärung zumuten wolle.
Kazimierz Woycicki versetzen solche Spekulationen und Unterstellungen in Rage. Das sei mal wieder der "typische deutsche Komplex", schimpft der Vorgesetzte von Pawel Skubisz am IPN. Selbstverständlich habe Polen ein Interesse, die Morde aufzuklären, deshalb liege die Sache jetzt ja beim Referat 4 der Staatsanwaltschaft. Und die sei immerhin für Verbrechen gegen die polnische Nation zuständig. "Denn wir empfinden diese Morde auf polnischem Territorium, unabhängig von der Nationalität der Opfer, als Verbrechen gegen unser Land", sagt Woycicki.
Schuss in den Hinterkopf
Er hat keinen Zweifel daran, dass der Prozess vor dem Stettiner Militärgericht wohl ein Scheinprozess war. Die Täter, glaubt er, seien unter ehemaligen Mitgliedern der polnischen Untergrundarmee zu suchen, die nach Kriegsende von Zentralpolen nach Usedom umgesiedelt worden waren. "Lumpen", nennt Woycicki sie. Als Motiv für die Tat, so viel geht aus den unvollständigen Prozessakten hervor, hätten sie Rache angegeben. Ihre Angehörigen seien im KZ umgekommen, sie selbst seien Zwangsarbeiter gewesen.
Pawel Skubisz hält das wenigstens teilweise für vorgeschoben. Er hat in den Akten auch den grausamen Fall einer 16-jährigen Deutschen gefunden, die von den Angeklagten erst vergewaltigt und später mit einem Schuss in den Hinterkopf getötet wurde. Begründung: Sie hätte sich mit Syphilis angesteckt, und man habe eben keine Medikamente gehabt. Von anderen Opfern behaupteten die Angeklagten, es seien Mitglieder der faschistischen Organisation "Werwolf" gewesen, die auf den Inseln Usedom und Wollin die Kriegsniederlage betrauerten und sich auf einen Dritten Weltkrieg vorbereiteten.
Neben dem Historiker Skubisz und den vergessenen Akten spielt noch ein Zeitzeuge eine wichtige Rolle: Der 85-jährige Tadeusz Wojciechowski behauptet, 1946 als stellvertretender Chef der Bürgermiliz Zeuge der Morde an den Deutschen gewesen zu sein. Die Täter, sagte er der "Gazeta Wyborcza", nachdem er das Interview mit Skubisz gelesen hatte, seien jedoch keine Polizisten, sondern Angehörige der polnischen Staatssicherheit gewesen; er und seine Einheit seien also unschuldig.
Thriller statt Aufklärung
Mit dieser Aussage hat Wojciechowski weder sich selbst noch der Wahrheitsfindung einen Dienst erwiesen; den Historikern vom IPN gilt er damit als befangen. Ohnehin hat er seine "Erinnerungen" bereits in einem historischen Thriller ausgeschlachtet. "Im Wilden Westen" heißt das Werk; es dreht sich um polnische Polizisten, faschistische "Werwölfe" und einen Nazi-Schatz. Wo enden die Fakten, wo beginnt die Fiktion? Der Alte will jedenfalls nicht mit den Historikern reden.
Pawel Skubisz wird es schwer haben, seinen Fall zu lösen.