
Zweiter Weltkrieg: Die Frau, die Churchill zum Schweigen brachte
Zweiter Weltkrieg Die Frau, die Churchill zum Schweigen brachte
Es schien ein Telefonat wie jedes andere auch. Ruth Ive dachte sich zunächst nichts dabei, als ein gewisser Mister White einen Mister Smith sprechen wollte. Sie saß auf ihrem harten Holzstuhl in der ausgebombten Londoner City, vor sich einen Stapel Papier und sechs angespitzte Bleistifte, den Kopfhörer am Ohr, bereit, bis zu 180 Wörter pro Minute mitzuschreiben.
Seit Wochen folgte die ausgebildete Stenotypistin im Dienste Ihrer Majestät der gleichen Routine. Wann immer ein britischer Beamter mit einem amerikanischen oder kanadischen Kollegen telefonieren wollte, sagte sie ihr Sprüchlein auf: "Der Feind nimmt Ihr Gespräch auf und wird es mit früheren Informationen vergleichen. Große Diskretion ist notwendig. Jede Indiskretion wird vom Zensor an die höchste Autorität gemeldet". Dann drückte sie einen Schalter, und die transatlantische Leitung stand.
Es war 1942, und sämtliche Telefonate zwischen England und Nordamerika mussten per Funk abgewickelt werden. Das transatlantische Unterseekabel hatten die Amerikaner vorsichtshalber gekappt, nachdem die deutsche Wehrmacht Frankreich besetzt hatte. Der Funk konnte von den Deutschen abgehört werden, daher hatten die Alliierten Vorsichtsmaßnahmen getroffen: Geredet wurde in Codewörtern, und obendrein schrieben Zensoren alle Gespräche mit und unterbrachen die Leitung, wenn kriegsrelevante Geheimnisse ausgeplaudert wurden.
Staatsmänner beim Plauderstündchen
Tabu waren Informationen über Truppenbewegungen, Bombenschäden oder die Stimmung der Bevölkerung. Auch Namen von Politikern und Militärs durften nicht fallen. In der Regel folgten die telefonierenden Beamten brav den Anweisungen der Zensoren.
Mister White jedoch erwies sich von Anfang an als ungeduldig. "Als ich meine kleine Warnung aufsagte", erinnert sich Ive, "röhrte eine sehr bekannte Stimme durch die Leitung und sagte mir in unmissverständlichem Tonfall, dass ich mich beeilen solle".
Als die junge Frau diese Stimme hörte, wurde ihr ganz anders zumute. Sie kannte sie aus dem Radio. Unzählige Male hatte sie gehört, wie diese Stimme die Briten zum Durchhalten gegen die Nazis aufrief. "Mister White" war der Premierminister Winston Churchill. Und auch die Stimme von "Mister Smith" erkannte sie sofort - der breite amerikanische Akzent verriet den US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt.
So beeindruckt war die Zensorin, dass sie vollkommen vergaß, mitzuschreiben. "Ich weiß nicht, wessen geniale Idee es war, Churchill und Roosevelt als Mister White und Mister Smith miteinander reden zu lassen", sagt sie. "Ich dachte, selbst der dümmste Deutsche würde die Stimmen sofort erkennen." Die beiden Männer hätten sich jedoch einen Spaß daraus gemacht, schreibt Ive in ihrem Erinnerungsbuch "The Woman who censored Churchill" (The History Press, 2008). "Sind Sie das, Mister Smith?", begann Churchill demnach das Gespräch. "Wie geht es Ihnen, Mr. White, und wie geht es dem Colonel?", fragte Roosevelt zurück. Mit dem Colonel war Churchills Frau gemeint.
Erst langsam gewöhnte sich Ive an den Jargon der Staatsmänner. Zum Beispiel fragte sie sich, warum Churchill zum Abschied immer dieses merkwürdige "KBO" benutzte. Ihr Abteilungsleiter wies sie nach einigen Wochen darauf hin, dass sie das nicht jedes Mal transkribieren müsse. Es stehe für "Keep buggering on" - Churchills berühmteste Durchhalteparole.
Whisky im Bett und "jugendlicher Leichtsinn"
In dem streng geheimen Büro im Londoner Union House arbeiteten acht Zensoren plus zwei Vorgesetzte rund um die Uhr. Ive war wegen ihrer guten Steno-Kenntnisse ausgewählt worden, die Churchill-Anrufe zu übernehmen. 1942, im Wendejahr des Krieges, telefonierten Churchill und Roosevelt mehrmals pro Woche. Der Premierminister lag meistens auf seinem Bett, erinnert sich Ive. Im Hintergrund hörte sie Papiergeraschel und das Klirren eines Glases, das oft mit Whisky gefüllt war.
Aber wie konnte es sein, dass eine 24-jährige Sekretärin die Gespräche der mächtigsten Männer der Welt belauschen durfte? Und obendrein Churchill jederzeit abwürgen konnte, wenn sie fand, dass er zu redselig wurde? Sie selbst schreibt, sie sei auf die Aufgabe überhaupt nicht vorbereitet gewesen. Ihr Vorgesetzter habe ihr den Rat gegeben: "Versuche, die Worte und Gedanken des Gesprächs im voraus zu ahnen und handele schnell und entschlossen".
Doch hatte sie anfangs schlaflose Nächte, weil sie in ihrem Kopf noch einmal die Gespräche des Tages durchspielte und ihre Entscheidungen in Frage stellte. Ein Journalist wäre wohl besser geeignet gewesen, schließlich hätte er mehr von den Zusammenhängen verstanden. Allein ihr "jugendlicher Leichtsinn" habe sie das überstehen lassen.
Reden nach Zahlen
Eigentlich wollte Ruth Ive Schauspielerin werden. Die gebürtige Londonerin schwärmte fürs Theater, doch ihr Vater bestand auf einem ordentlichen Beruf. Also besuchte sie einen Kurs für angehende Sekretärinnen. Dann bewarb sie sich auf Empfehlung eines Cousins bei der Zensurbehörde. Erst las sie private Feldpost von Soldaten, bevor sie zu den Telefonschnüfflern wechselte.
Nach dem Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 rückte die transatlantische Kommunikation ganz oben auf die Agenda. Die Generäle auf beiden Seiten verzweifelten an der Aussicht, dass die Deutschen alle Pläne mithören konnten - die von den Alliierten benutzte A-3-Verschlüsselung war leicht zu knacken. Laut Ive wurde im Büro das Gerücht kolportiert, die deutschen Abhörspezialisten säßen auf einem kleinen Boot in der Nähe von Hamburg, weil da der Empfang am besten sei. Tatsächlich saßen sie in Holland.
Um die Deutschen auszutricksen, schickten die Alliierten immer erst ein Telegramm an ihren Telefonpartner, in dem sie die Gesprächsthemen in nummerierten Absätzen erörterten. Während des Telefonats mussten sie dann nur noch auf die Zahlen verweisen. Die Gespräche waren dementsprechend recht einsilbig und kryptisch. Ive schreibt, dass sie meistens keinen Schimmer hatte, worüber geredet wurde.
Als Ruth Ive Churchills Leitung kappte
Ab Sommer 1943 machte eine von den Amerikanern entwickelte, abhörsichere Chiffriermaschine namens Sigsaly den Zensoren Konkurrenz. Churchill mochte "dieses verdammte Ding" jedoch nicht - angeblich, weil Roosevelt herzlich lachen musste, als er Churchill zum ersten Mal hörte. Der Engländer klinge wie Donald Duck, soll der Amerikaner geprustet haben.
Darum wurde die Arbeitslast der Zensoren bis Kriegsende nicht geringer. Der Zirkel der Mitwisser war klein. Ive musste eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben. Ihre Mutter war eingeweiht, ihr Verlobter, ein Frontsoldat, hingegen blieb bis nach Kriegsende im Dunkeln. Sie durfte keine Papiere aus dem Büro mitnehmen und kein Tagebuch führen. Ihre Gesprächsprotokolle verschwanden auf Nimmerwiedersehen, sie wurden laut ihren Nachforschungen vernichtet. Als sie einmal fragte, was mit den Mitschriften geschehe, wurde sie von ihrem Chef mit einem "eisigen Blick" bedacht, schreibt Ive.
Nur zweimal verstieß Churchill in den dreieinhalb Jahren gegen die Zensurregeln. Das erste Mal war es Absicht: Am 29. Juli 1943 sprachen Roosevelt und Churchill offen über Details des Waffenstillstands mit Italien. Churchill wollte verhindern, dass britische Kriegsgefangene dabei in deutsche Hände fallen. Das Telefonat hatte jedoch den unerwünschten Nebeneffekt, dass die Deutschen von der bevorstehenden Invasion des US-Generals Dwight Eisenhower in Sizilien erfuhren.
Das zweite Mal griff Ruth Ive ein, bevor Churchill sich verplappern konnte. Wenige Stunden, nachdem eine deutsche V2-Rakete im Londoner Leather Lane Market eingeschlagen war, ließ sich der britische Premier mit seinem Außenminister Anthony Eden verbinden, der gerade im kanadischen Ottawa weilte. "Heute morgen um 12...", begann Churchill, da betätigte Ive den Aus-Schalter. "Ich muss Sie daran erinnern, dass Schadensmeldungen verboten sind", ermahnte sie den Premier. "Wollen Sie wieder verbunden werden?" Ein zustimmendes Grunzen von Churchill, also schaltete sie die Leitung wieder frei. "Anthony, heute morgen..." - erneut unterbrach Ive die Leitung. Sie habe auf Churchills Wutanfall gewartet, schreibt sie, doch er habe nur still den Hörer aufgelegt.
Es war das einzige Mal, dass Ruth Ive Churchill zensierte.
Ihr letztes Telefonat erledigte Ive am 8. Mai 1945 um 10.30 Uhr - unmittelbar vor der Kapitulation des Deutschen Reichs. Zwei Monate später lobte ihr Vorgesetzter in ihrem Arbeitszeugnis, sie sei seine beste Zensorin gewesen: "Für eine Arbeit, die Takt und Diskretion erfordert, ist sie wärmstens empfohlen."