
Operation "Columba" Mit Brieftauben gegen die Wehrmacht

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Ein Skelett war das Letzte, was David Martin in seinem Kaminschacht vermutet hatte. Aber an diesem Morgen im Herbst 2012 entdeckte der ältere Herr aus der englischen Grafschaft Surrey das Gerippe eines Vogels. Noch seltsamer: An einem Beinknochen war direkt oberhalb der Krallen eine kleine rote Kapsel befestigt. Darin steckte eine winzige Papierrolle mit einer Folge von Buchstaben.
Martins Fund erregte große Aufmerksamkeit. Schnell waren sich Experten einig: eine Geheimbotschaft aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Alle Entschlüsselungsversuche des britischen Geheimdienstes GCHQ scheiterten. Was nur verbarg sich hinter dieser Botschaft?
Einen Hinweis gibt es im britischen Nationalarchiv, dort lagert eine Geheimdienstakte mit dem Titel "Columba" - lateinisch für Taube - und zwei auffälligen Zeichnungen: das Bild einer Taube, darunter zeigt ein Cartoon Adolf Hitler, wie er auf dem Boden liegt, nachdem er auf Taubenkot ausgerutscht ist.
Der britische Geheimdienst ist berühmt: Jeder kennt den Inlandsdienst MI5 und ebenso - dank seines fiktiven Agenten James Bond - den Auslandsdienst MI6. Im Zweiten Weltkrieg unterhielt der Dienst auch eine Abteilung MI14, Unterabteilung D. Sie war mit anfangs zwei Mitarbeitern die kleinste Einheit, befehligte aber stattliche 17.000 Mitarbeiter. Allerdings keine Menschen, sondern Brieftauben. Für die Operation Columba.
Tauben, die am Fallschirm hingen
Tauben können Hunderte Kilometer von ihrer Heimat entfernt freigelassen werden und kehren immer wieder zu ihrem heimischen Schlag zurück. Genau dieses erstaunliche Talent wollte die Operation Columba nutzen. Ab dem 8. April 1941 setzte der britische Geheimdienst Tauben über den Niederlanden, Belgien und Frankreich ab. Als fliegende Kuriere für Berichte aus von der Wehrmacht besetzten Gebieten.
Vor dem Abwurf hatte man die Tauben in Kisten gesperrt, die an einem Fallschirm hingen, einen Meter groß. An der Außenseite waren ein Fragebogen befestigt, hauchdünnes Reispapier, ein Stift, etwas Taubenfutter, dazu die Anweisung: "Vergraben Sie den Fallschirm! Füttern Sie die Taube täglich, und achten Sie darauf, dass sie ihre Flügel ausstrecken kann!" Die Botschaft endete mit den Worten: "Seien Sie mutig! Wir werden Sie nicht vergessen!"
Die Piloten der Royal Air Force flogen die Vögel nachts in die besetzten Gebiete und warfen sie ab. Ihre Zweifel waren groß: "Die meisten Tauben werden auf dem Esstisch landen!", schrieb ein Pilot in sein Logbuch.
Im belgischen Lichtervelde fanden die Kinder der Familie Debaillie eine der Tauben auf einem Feld. Drei Brüder und zwei Schwestern, sie alle hassten die Deutschen. Nun mussten sie rasch über das Schicksal des Vogels entscheiden - und auch über ihr eigenes. Ohne ihre Eltern einzuweihen, suchten sie Rat bei einem engen Vertrauten, dem katholischen Priester Joseph Raskin.
Schnell waren sie sich einig, was zu tun war. Raskin beschrieb das Reispapier, die Gruppe unterzeichnete ihre Nachricht mit dem Codenamen "Leopold Vindictive". Dann trafen sie eine gefährliche Entscheidung gegen alle Regeln des Spionagehandwerks: Mit einer Urlaubskamera machten die Geschwister Fotos von sich, der Taube und ihrer Nachricht, bevor der Vogel in den Himmel stieg.
Nach 36 Stunden erreichte die Taube am 12. Juli 1941 England. Was sie am Bein transportiert hatte, wurde als Nachricht Nummer 37 registriert. Die Nachricht wirkte kaum anders als die 36 zuvor erhaltenen. Aber sie war es.
5000 Wörter auf 5x5 Zentimetern
Die Geheimdienstmitarbeiter staunten: Raskins Schrift war winzig, aber perfekt, zudem waren Miniaturkarten aufgezeichnet. Jeder Millimeter war genutzt, um möglichst viele Buchstaben aufzubringen. Genannt wurden versteckte deutsche Stellungen, Munitions- und Treibstofflager sowie präzise Folgen von Luftangriffen. Ebenso enthalten waren genaue Karten des gesamten 67 Kilometer langen deutschen Verteidigungssystems an der belgischen Küste sowie die Information, dass die Burg von Tillegem nahe Brügge die Kommunikationszentrale des deutschen Oberkommandos von den Niederlanden bis Nordfrankreich war - den Alliierten bis dahin nicht bekannt.
Die britischen Geheimdienstler schätzten den Akten zufolge Nachricht Nummer 37 als so wertvoll ein, dass man sie auch dem britischen Premierminister Winston Churchill vorlegte, um ihm zu beweisen, wie aktiv der Widerstand in den besetzten Ländern war. Aber wer hatte die unglaubliche Fähigkeit, so viele Informationen auf so wenig Papier festzuhalten? Ohne eine Lupe war nichts zu entziffern, auf der winzigen Fläche von etwa fünf mal fünf Zentimetern waren rund 5000 Wörter notiert - das ergab gut zwölf Schreibmaschinenseiten.
Priester Joseph Raskin hatte seine Talente geschickt eingesetzt. Als junger Mann hatte er in China als Missionar gearbeitet, die Kunst der Kalligraphie erlernt und damit in Shanghai sogar einen Preis gewonnen. Inmitten seines Textes gab er sich indirekt zu erkennen: Raskin schrieb, der Verfasser habe als Geistlicher am Hof des belgischen Königs an einem bestimmten Tag einen britischen Diplomaten getroffen.
In Lichtervelde warteten Raskin und die Geschwister Debaillie auf eine Reaktion. Und hörten sie bald im Programm der BBC: "Leopold Vindictive. Der Vogel ist im Käfig des Löwen." Die Freude war grenzenlos. Aber die Gruppe hatte einen hohen Preis bezahlt, denn soeben war ihr Codename in ganz Nordeuropa per Radio gesendet worden. Auch die Deutschen hatten zugehört - und suchten nach dem neuen Spionagenetzwerk.
Der 007 der Vogelwelt schlägt zu
Zwischen Deutschen und Briten begann eine Luftschlacht besonderer Art. Die Wehrmacht postierte Scharfschützen am Ärmelkanal, um die britischen Brieftauben abzuschießen. Aber auch die Briten fürchteten sich vor deutschen Vögeln. 1942 stationierten sie auf den Scilly-Inseln an der Südwestspitze Englands eine Spezialeinheit mit der Lizenz zum Töten: Drei Wanderfalken jagten mit über 300 Stundenkilometern anfliegende Tauben und rissen ihnen mit ihren Fängen noch in der Luft die Köpfe ab. 23 Tauben wurden so zur Strecke gebracht. Doch bald wurde der Einsatz abgebrochen, denn es war keine einzige Brieftaube der Deutschen darunter.
Joseph Raskin und sein Netzwerk warteten in Belgien auf weitere Tauben aus London. Derweil versuchten sie, auf andere Weise Nachrichten nach London zu übermitteln. Dafür nutzte Raskin einen Vertrauten, einen belgischen Polizeiinspektor. Diese Entscheidung wurde ihm zum Verhängnis - denn ein Schwager des Polizisten verriet die Gruppe.
BBC-Journalist Gordon Corera hat über die Operation Columba das Buch "Secret Pigeon Service" geschrieben und auch Raskins weiteres Schicksal rekonstruiert: Anfang Mai 1942 wurde der Priester mit anderen Mitgliedern des Netzwerks nach Deutschland transportiert und zunächst in das Gestapogefängnis Brauweiler bei Köln gesperrt.
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27.01.2021 08.05 Uhr
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Am 31. August 1943 begann für Raskin und die Gruppe der Prozess vor dem Volksgerichtshof. Wegen der zunehmenden Bombardierung Berlins war das Gericht unter seinem berüchtigten Präsidenten Roland Freisler ins niedersächsische Papenburg umgezogen. Wie es seine Gewohnheit war, schrie Freisler die Angeklagten zusammen und erniedrigte sie, wann immer er konnte. Drei Mitglieder von "Leopold Vindictive" erhielten Gefängnisstrafen; drei weitere wurden zum Tode verurteilt, auch Raskin. Man richtete sie am 18. Oktober 1943 hin.
Gustav meldete den Erfolg am D-Day
Die Operation Columba jedoch lief weiter und erreichte am 6. Juni 1944 einen Höhepunkt, als zunächst die Tauben Nachrichten von der erfolgreichen Landung der Alliierten in der Normandie übermittelten. Ein Vogel mit dem Namen Gustav war der erste, der es am D-Day in gut fünf Stunden zurück nach England schaffte. An Gustavs Bein hing die Nachricht eines Reuters-Korrespondenten, der bei den ersten Landungsversuchen dabei war.
Einige Tauben gaben Zeugnis über die Grausamkeiten des D-Day: Bei ihrer Rückkehr klebte Blut am Gefieder, menschliches Blut. Als die alliierten Soldaten an die Strände gestürmt waren, waren viele sofort erschossen worden. Manche Tauben, die sie mit sich führten, konnten aus ihren Käfigen entkommen und zurückfliegen - ohne Nachrichten.
Am 14. Februar 1945 endete die Operation Columba. In dreieinhalb Jahren waren 17.000 Vögel abgeworfen worden. Nur zehn Prozent schafften es lebend zurück, nur etwa 1000 Nachrichten gingen ein. Dennoch hatte dieser Einsatz einige Erfolge gebracht, etwa Erkenntnisse darüber, wo sich deutsche Bunker, Radaranlagen sowie Abschussanlagen der V1- und V2-Raketen befanden.
Was ebenso wichtig war: Jede Taube, die mit einer Nachricht zurückkehrte, lieferte nicht nur geheime Informationen. Sie überbrachte auch Hoffnung. Für Menschen auf beiden Seiten des Ärmelkanals.
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"Operation Columba": Eine Brieftaube in den Händen eines Piloten der Royal Air Force, aufgenommen 1942. Im Auftrag des britischen Geheimdienst sollten 17.000 Tauben Informationen aus von der deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten herausschmuggeln helfen - eine
Vögel mit Fallschirm: Die Brieftauben für die "Operation Columba" wurde in kleine Drahtkäfige gesperrt und dann per Fallschirm abgeworfen. Ähnliche Systeme, wie auf diesem Foto, nutzte der "Army Pigeon Service" für Einsätze in Afrika.
Meldungen von der Front: Eine Brieftaube mit einer Nachricht am Bein wird am 26. Oktober 1940 von britischen Soldaten aus einem Korb freigelassen.
Tauben verfügen über einen außergewöhnlichen Orientierungssinn, was auch genutzt wurde, um etwa schnell Informationen zu transportieren, wenn andere Kommunikationssysteme ausfallen - hier eine Feuerwehrübung im August 1940.
Fliegende Kuriere: Taubenzüchter präsentierten Brieftauben, die eingesetzt wurden, als die deutsche Luftwaffe Großbritannien bombardierte. Bei der sogenannten "Luftschlacht um England" versuchten die Nationalsozialisten zwischen Sommer 1940 und Anfang 1941, mit schweren Luftangriffen die Kapitulation Großbritanniens zu erzwingen.
US-Soldaten präsentieren auf einem Lastwagen "gefangengenommene deutsche Kriegstauben" bei einer Parade zum Ende des Ersten Weltkriegs in New York (Mai 1919).
Luftpost: Ein Mitarbeiter des britischen Propagandaministeriums untersucht 1941 eine Taube, an deren Flügel eine Filmrolle befestigt ist.
Gurrende Geheimwaffe: Bei der "Operation Columba" wurden rote Kapseln für die Informationen an den Beinen der Tauben befestigt, hier beim Einsatz in Afrika war es ein Behälter auf dem Rücken (Foto vom Juli 1945).
Tauben-Großeinsatz: Eine Brieftaube wird von einem Flugzeug aus abgeworfen. Bei der "Operation Columba" wurden insgesamt 17.000 von ihnen eingesetzt.
Vor dem Einsatz: Ein britischer Fallschirmjäger bereitet in Südengland vor dem Abflug eine Brieftaube vor.
Zielsicher: Britische Soldaten trainieren im August 1940 eine Taube in Südengland. Der Instinkt der Tiere sorgt dafür, dass sie über Hunderte von Kilometern immer wieder zu ihrem Heimatort zurückkehren.
Und gute Reise! Ein britischer Soldat lässt 1942 eine Taube fliegen - als Kuriere sollten die Brieftauben Berichte übermitteln.
Niedrige Erfolgsquote: Die wenigsten der insgesamt 17.000 Tauben kehrten bei der "Operation Columba" zurück. Nur rund zehn Prozent flogen wieder nach Großbritannien.
Hohe Verluste: Manche Tauben wurden von der hungernden Bevölkerung in den besetzten Gebieten Europas einfach aufgegessen, andere zur Beute von Raubvögeln. Insgesamt gingen beim britischen Geheimdienst nur 1000 Nachrichten ein.
Kriegstaube: In den Diensten ihrer Majestät: Eine Taube wird für künftige Aufgaben von der Royal Air Force im August 1941 trainiert.
Nachricht vom schnellen Gustav: Etwas mehr als fünf Stunden brauchte die Taube Gustav, um am D-Day, dem 6. Juni 1944, die Nachricht von der erfolgreichen Landung der Alliierten in der Normandie nach England zu tragen. An Gustavs Bein hing eine Meldung eines Korrespondenten, der für die Agentur Reuters die Landung in der Normandie beobachtete.
Wettrüsten: Auch die deutsche Wehrmacht nutzte Brieftauben. In einem speziellen Mantel wurden, wie auf diesem etwa 1938 in Berlin aufgenommenen Foto zu erkennen, gleich mehrere Tiere verstaut.
Erfolgsmodell: Weltweit werden Tauben in Konflikten eingesetzt. Kriegsberichterstatter der japanischen Zeitung Asahi Shimbun entsenden auf diesem Bild Brieftauben mit Berichten über den chinesisch-japanischen Krieg und den Angriff im chinesischen Wuhan (circa 1938).
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