
Zweiter Weltkrieg: Das Rätsel der Lancaster
Zweiter Weltkrieg Das Rätsel der Lancaster
Dieser Sache wollte Horst Klötzer dann doch genau nachgehen. Im Stadtwald von Hagen, so war dem ehrenamtlichen Mitarbeiter der Denkmalbehörde und des Historischen Centrums Hagen zugetragen worden, seien seltsame Dinge gefunden worden - womöglich Wrackteile eines alliierten Bombers, der dort im Zweiten Weltkrieg abgestürzt sei und sich dabei in den Waldboden gegraben habe.
Als Klötzer sich in dem beliebten Ausflugsforst umsah, stieß er tatsächlich auf einen höchst seltsamen Fund: 24 uralte Kippschalter, die an dieser Stelle unweit eines Waldweges deponiert worden waren. Offenbar hatten Raubgräber auf der Suche nach altem Militärschrott die Gegend gezielt nach Überresten eines abgestürzten Flugzeugs abgesucht - und waren fündig geworden.
Zur Gewissheit wurde der Verdacht einige Monate später: Im Januar 2007 stieß ein Lokalredakteur im Internet auf ein seltsames Angebot bei der Auktionsplattform Ebay: Dort wurden unverhohlen Fundstücke von einem abgestürzten britischen Bomber zu Kauf angeboten - als Fundort wurde Hagen angegeben. Und tatsächlich: Als die alarmierte Polizei dem Anbieter einen Besuch abstattete, konnte sie nicht nur ein großes, genietetes Aluminumblech von einem Flugzeugrumpf, Verschlusskappen und diverse Metallschläuche sicherstellen, sondern auch zwei komplett verrostete Pistolen, einen britischen Armeerevolver und eine automatische Browning - die persönlichen Waffen einer Bomberbesatzung der Royal Air Force (RAF).
Bombenhagel auf Dortmund
Zeitsprung in die Nacht auf den 21. Februar 1945. Von Stützpunkten in England aus starten insgesamt 1283 Flugzeuge für einen Nachtangriff auf das Herz des "Dritten Reichs". Ihr Hauptziel: Dortmund. Knapp die Hälfte der Maschinen, 514 viermotorige Lancaster-Bomber und 14 zweimotorige Mosquitos der 1.,3., 6. und 8. Bomberflotte der Royal Air Force sollen die Industriestadt im Ruhrgebiet dem Erdboden gleich machen. "Die Intention dieses Angriffs ist es, die Zerstörung der bebauten Gegend im südlichen Teil der Stadt und der dort ansässigen Industrie zu vollenden", heißt es im Angriffsbefehl für die Besatzungen. Etwa 2300 Tonnen Bomben haben die Maschinen für ihr Vernichtungswerk geladen, davon 70 Prozent Stabbrandbomben, mit denen auch in Dortmund ein Feuersturm entfacht werden soll, wie er nur eine Woche zuvor das barocke Dresden verschlungen hat.
Mit dabei ist auch die Avro Lancaster Mk. III von Flight Officer Fairfax Morseby, einem Neuseeländer. Insgesamt sieben Crew-Mitglieder sind an Bord der Maschine mit der Kennung PD421 IQ-F von der 150. Squadron der RAF: neben dem Pilot der Flugingenieur Sergeant Frederick Howell, der Bombenschütze Sergeant Ernest Reginald Edwards sowie Flight Sergeant Ivan A. Horsley, Sergeant Henry Gage, Sergeant Thomas William Heron und Sergeant William Hastings.
Die Attacke ist der Startschuss für das "Ruhrabriegelungsprogramm" der Alliierten, das die Verkehrsinfrastruktur der Region zerschlagen soll. Der Historiker Ralf Blank vom Historischen Centrum Hagen hat die Ereignisse dieser Nacht minutiös rekonstruiert: Um 0.55 Uhr werfen britische Mosquitos grüne und rote Leuchtbomben mit gelben Sternen als Zielmarkierungen über der Eingangshalle des Bahnhofs Dortmund-Süd ab, den sich die RAF unter dem Codenamen "Sprat B" als Zielpunkt ausersehen hat. Doch dichte Wolken in rund 1800 Metern Höhe nehmen den angreifenden Bombern, die in rund 5000 Metern Höhe fliegen, die Bodensicht.
Gefürchtete Nachtjäger
So werfen sie ihre tödliche Fracht mehr oder minder ungezielt über dem südlichen Stadtgebiet ab. Die Brandbomben lösen, so verzeichnet es die amtliche Statistik anschließend, 257 Großbrände, 424 mittlere und 409 kleine Feuer aus. Mehr als 1500 Gebäude werden zerstört, darunter auch Schloss Romberg im Stadtteil Hombruch, wo sich das örtliche Wehrbezirkskommando befand. Die Zahl der Toten lässt sich nicht mehr genau feststellen, Historiker Blank geht von etwa 500 Opfern aus.
Doch auch unter den Angreifern gibt es viele Opfer. Schon beim Anflug auf die Industriemetropole müssen die RAF-Bomber konzentrierte Flak-Riegel überwinden. Im Raum Hagen-Dortmund feuern 30 Luftabwehrbatterien aus 166 Rohren insgesamt 3675 Granaten auf die Bomberflotte. Auch die deutschen Nachtjäger, von den alliierten Piloten besonders gefürchtet, bringen in dieser Nacht alles in die Luft, was noch fliegen kann. Von Fliegerhorsten in Gütersloh, Paderborn, Münster und Dortmund starten 18 Zweimots des Nachtjagdgeschwaders 4, darunter auch mit hochmodernen Ortungsgeräten ausgerüstete Maschinen vom Typ Heinkel He 219 "Uhu". Von Bonn-Hangelar aus greifen zudem acht einmotorige Focke-Wulf Fw 190 des Nachtjagdgeschwaders 11 die alliierte Luftarmada an.
In der gesamten Region werden in den Nachtstunden des 21. Februar zahlreiche Abschüsse von Bombern gemeldet. Manche explodieren mit ihrer Bombenfracht in der Luft, andere trudeln vom Himmel und zerschellen auf dem Boden, wieder anderen gelingt, waidwund geschossen, immerhin noch eine Bruchlandung auf deutschen Wiesen oder Äckern. Mindestens 25 Bomber holen allein die Nachtjäger vom Himmel. Die meisten Abstürze werden aus dem Sieger- und Sauerland vermeldet, mindestens neun sind es allein im Dortmunder Süden, im Regierungsbezirk Arnsberg.
Pilotenkappe und Kruzifix
Über Hagen, das in der Anflugschneise auf das Angriffsziel Dortmund liegt (und auch einige Bomben abbekommt), werden drei Lancasters abgeschossen. Eine davon ist die Maschine von Flight Officer Morseby. Der Oberförster Alois Brinkmann findet das Wrack, aus dem zwei tote Flieger geborgen werden. Ihre Erkennungsmarken weisen sie als Flugingenieur Howell und Zielschütze Edwards aus. Drei weitere Besatzungsmitglieder überleben, einer von ihnen, Henry Gage, stellt sich am Morgen des 21. Februar im nahen Hohenlimburg den Deutschen.
Bis heute vermisst werden die Crew-Mitglieder Thomas William Herron und William Hastings. Liegen ihre sterblichen Überreste noch irgendwo im Stadtwald von Hagen oder der Umgebung? Historiker Blank und sein Kollege, der Archäologe Jörg Orschiedt, sind seit 2006 dabei, das Rätsel um die Lancaster mit wissenschaftlichen Methoden der modernen Archäologie zu lösen, denn in den Unterlagen aus der damaligen Zeit ist dieser Absturz nicht dokumentiert. Seit die Raubgräber die Fachleute unfreiwillig auf die Spur des vergessenen Flugzeugwracks brachten, wird die Absturzstelle systematisch untersucht. Aus geschmolzenem Aluminium und der großräumige Verteilung von Fundstücken schließen die Wissenschaftler, dass die Maschine brennend abstürzte und beim Aufschlagen mit ihrer Bombenfracht explodierte.
Dennoch sind inzwischen zahllose Funde gemacht worden, darunter Typenschilder mit Kennungen und eingeprägter Krone, Reste des Bombenzielgeräts, zwei vollständig erhaltene Handfeuerlöscher, ein Generator und ein Drehzahlmesser sowie originalverpackte Staniolstreifen ("Lametta") zur Täuschung des deutschen Radars. Aber auch persönliche Gegenstände der Crew wurden ausgegraben: ein Taschenmesser, die Überreste einer Pilotenhaube mit Kopfhörern und Mikrofon und sogar ein kleines Kruzifix, von dem Blank und Orschiedt vermuten, dass es seinen Platz im Cockpit der Unglücksmaschine hatte.
In den kommenden Wochen sollen die Grabungen wieder aufgenommen werden. Vielleicht, so hoffen Blank und Ortschied, lässt sich auch das Rätsel um die beiden vermissten Flieger doch noch lösen.