
Die Untergrunduniversität
Zweiter Weltkrieg Jagd auf die Besten
Die Falle schnappte um Punkt 12 Uhr mittags zu. Für die Gelehrten im Hörsaal 66 der traditionsreichen Krakauer Jagiellonen-Universität gab es kein Entkommen mehr. SS-Obersturmbannführer Bruno Müller, ein promovierter Jurist, hatte es unmissverständlich deutlich gemacht: "Die Universität ist geschlossen. Und ihr alle seid verhaftet und werdet in ein Gefangenenlager verbracht, wo ihr genug Zeit haben werdet, euch über Euer Verhalten Gedanken zu machen."
Einen Monat nach der Kapitulation Polens hatte der Besatzungsoffizier für diesen 6. November 1939 eine Vollversammlung an der 1364 gegründeten und damit drittältesten Universität in Europa einberufen lassen. Angekündigt hatte er einen harmlos klingenden Vortrag mit dem Titel "Der deutsche Standpunkt in Wissenschafts- und Hochschulfragen". Doch der 1905 in Straßburg geborene Müller war kein Hochschulpolitiker, sondern Leiter eines Einsatzkommandos der Sicherheitspolizei mit Standort Krakau. Und sein Auftrag war nicht die Reform der Hochschule, sondern die Liquidierung der polnischen Intelligenz.
Müller, auf dem Kopf die schwarze Mütze mit dem Totenkopfsymbol und von bewaffneten SS-Männern flankiert, war sogleich zur Sache gekommen: Die Universität habe ohne Zustimmung der deutschen Besatzer das Semester eröffnet und mit der wissenschaftlichen Arbeit begonnen. "Für Deutschland ist ein derartiges Verhalten ein feindlicher und böswilliger Akt." Im Übrigen sei die Krakauer Universität "immer das Hauptzentrum des wissenschaftlichen Kampfes gegen das Deutschtum" gewesen.
"Grenzenloser Hass gegen die Polen"
Während Müllers Tirade beschlich den Physiker Arkadiusz Piekara, damals Dozent für Dielektrizitäts- und Kernphysik, schon eine dunkle Ahnung: "Was könnte man machen, wie könnte man fliehen?", schilderte der 1989 verstorbene Gelehrte rückblickend seine Gedanken. "Und dann", berichtete er, "kam eine Vornehmheit, die sich in der Zukunft niemals mehr wiederholen sollte: Die Damen könnten den Saal verlassen."
Piekara hatte, wie alle anderen Gelehrten, keine Chance zu fliehen, denn Müller hatte das Gebäude bereits umstellen lassen. Unmittelbar nach dessen Ansprache wurden - mit Ausnahme der drei anwesenden Frauen - alle im Hörsaal 66 versammelten Wissenschaftler verhaftet. Gleich mitgenommen wurden zudem 21 Angehörige der Bergakademie, die sich gerade in der Universität aufhielten, drei Studenten, mehrere Lehrer, Verwaltungsangestellte und ein Ordensgeistlicher. Insgesamt ließ SS-Mann Müller, "der vor grenzenlosem Hass gegen die Polen glühte, besonders gegen die polnische Intelligenz", wie Professor Tadeusz Kowalski sich später erinnerte, 183 Personen in ein nahe gelegenes Gefängnis transportieren.
Neun Wissenschaftler, die entweder krank oder als Spezialisten für die Besatzer unentbehrlich waren, kamen in den folgenden Tagen frei, was bei den übrigen die Spekulation nährte, ihre Verhaftung hänge mit dem polnischen Unabhängigkeitstag am 11. November zusammen - doch die Hoffnung sollte trügerisch sein. Die "Sonderaktion Krakau", so der Codename der Verhaftungswelle, war für die deutschen Besatzer von "symbolischer Bedeutung", wie der Historiker Jochen August urteilt, der ein Standardwerk über die "Sonderaktion Krakau" herausgegeben hat: "Die deutsche Besatzungsmacht wollte keine intellektuelle Führungsschicht in Polen dulden."
Rechnen bis 500, Lesen nicht erforderlich
Intellektuelle galten den Nazis "als potentielle Kristallisationspunkte von Gegenwehr und als Träger und Vermittler polnischer nationaler Identität", die eben deshalb "ausgemerzt werden" sollten. Es sollte alles Eigenständige niedergemacht werden, so Professor Stanislaw Kutrzeba, bis nichts "als eine Menschenmasse übrigblieb, die dann als Sklaven für die Sieger arbeiteten". In den ersten Monaten der Okkupation fielen den Einsatzkommandos der SS, die auf die jüdische Bevölkerung und die gebildete Schicht Polens angesetzt waren, zwischen 60.000 und 80.000 Menschen zum Opfer. Allein bei der berüchtigten "AB-Aktion" (für "Außerordentliche Befriedungsaktion") wurden im Frühjahr 1940 rund 7500 Polen ermordet.
Schon vor dem Überfall auf das östliche Nachbarland am 1. September 1939 hatten Hitler und seine Nationalsozialisten keinen Zweifel daran gelassen, wie sie mit den Polen verfahren wollten. Bereits 1937 hatten sie damit begonnen, ein "Sonderfahndungsbuch Polen" mit den Namen von mehr als 60.000 polnischen Intellektuellen zu erstellen, die nach dem Einmarsch der Wehrmacht verhaftet und ermordet werden sollten. Und auch der "Reichsführer SS", Heinrich Himmler, machte aus seinen Vorstellungen über die "Behandlung der Fremdvölkischen im Osten" nie einen Hehl: "Einfaches Rechnen bis höchstens 500, Schreiben des Namens, eine Lehre, dass es ein göttliches Gebot ist, den Deutschen gehorsam zu sein und ehrlich, fleißig und brav zu sein. Lesen halte ich nicht für erforderlich." Außer einer vierklassigen Volksschule dürfe es im Osten überhaupt keine Schule geben. Die "Sonderaktion Krakau" war nur ein kleiner Schritt auf diesem Weg.
Mit einem hatten die Nationalsozialisten im November 1939 jedoch nicht gerechnet: mit dem Widerstand der Krakauer Bevölkerung. Noch bevor 168 der verhafteten Wissenschaftler am 28. November 1939 ins Konzentrationslager Sachsenhausen bei Berlin deportiert wurden, begehrten die Krakauer auf. Zunächst waren es vor allem Ehefrauen, Familienangehörige und Freunde, die keine Wege ausließen, um gegen die Verhaftung und Deportation zu protestieren. Europaweit aktivierten sie alle denkbaren Kontakte - Kollegen, Diplomaten und Politiker. Sie bewegten den legendären Berliner Chirurgen Professor Ferdinand Sauerbruch zu einer Intervention, sprachen beim Vatikan vor und sogar beim italienischen Diktator Benito Mussolini, der - obwohl Verbündeter der Nazis - Protestnoten nach Berlin schickte. "Kein anderes Vorgehen der Nationalsozialisten hatte diese Resonanz in der Weltöffentlichkeit", urteilt die Historikerin Frauke Kerstens von der Gedenkstätte Sachsenhausen.
Mussolini interveniert für die Polen
Und die Proteste hatten Erfolg. Mehr und mehr sahen sich die irritierten Nationalsozialisten unter diplomatischen Druck gesetzt. "Was wir mit den Krakauer Professoren an Scherereien hatten, war furchtbar", entfuhr dem von Hitler als Statthalter in Polen eingesetzten "Generalgouvernerneur" Hans Frank am 30. Mai 1940 entnervt in einer Polizeisitzung in Krakau. Da war es schon knapp vier Monate her, was Historiker heute als "beispiellosen Akt" betrachten: Am 8. Februar hatten rund einhundert der Krakauer Wissenschaftler, die älter als 40 Jahre waren, das KZ Sachsenhausen verlassen dürfen. Weitere 43 Gelehrte waren in das KZ Dachau bei München verlegt worden - aus dem alle bis Oktober 1941 in die Freiheit entlassen wurden.
"Es gibt in der Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager keinen anderen Fall, in dem internationale Interventionen zur Freilassung einer ganzen Gruppe von Häftlingen führten", so Experte Jochen August. Für zwölf der Verhafteten aus der Krakauer Universität kam die internationale Hilfe gleichwohl zu spät - sie starben bereits im Konzentrationslager von Sachsenhausen. Drei der Hochschullehrer hatten von vornherein kaum eine Chance gehabt, zu überleben - sie waren Juden.
Doch auch bei den Überlebenden hinterließ die KZ-Haft Spuren, wie in den hinterlassenen Erinnerungen vieler Opfer deutlich wird, die einige zum Teil noch während der Kriegszeit niedergeschrieben haben. Andere haben hingegen ihr ganzes Leben geschwiegen, etwa der 1989 mit 88 Jahren verstorbene Antoni Gawel, Professor für Mineralogie und Petrografie an der Jagiellonen-Universität. Sein Vater habe über die "schreckliche Zeit" in Sachsenhausen und Dachau nur zweimal gesprochen, erzählt sein Sohn Jurek Gawel: einmal davon an Weihnachten, als er trotz des opulenten Festmahls nur eine Kartoffel mit Butter essen wollte.
Eine Uni im Untergrund
Aber Antoni Gawel habe öfter die "bizarre Geschichte" erzählt, wie er nach seiner Freilassung plötzlich in Krakau den Dachauer SS-Mann Paul Neumann wiedertraf. Neumann, ein gelernter Gärtner, hatte in Dachau eine "Wissenschaftliche Abteilung" eingerichtet und die Krakauer Professoren wohlwollend behandelt. "Heil Hitler, Herr Professor, wie geht es Ihnen?", habe der als ebenso einfältig wie vergleichsweise gutmütig beschriebene Neumann über den Krakauer Marktplatz gerufen. Sein Vater, berichtet Jurek Gawel, sei vor Angst zusammengezuckt - er befürchtete, als Kollaborateur verdächtigt zu werden.
Und Antoni Gawel hatte allen Grund, kein Aufsehen zu erregen: Er gehörte zu jenen Professoren, die in den Kriegsjahren an der geheimen Untergrunduniversität in Krakau unterrichteten. Ein lebensgefährliches Unterfangen, denn die Lehrer durften im Fall einer Verhaftung keine Gnade erwarten. Das war spätestens im Juli 1941 offensichtlich geworden, als die SS unmittelbar nach dem Beginn des Russlandfeldzugs beim Einmarsch in Lemberg (Lwow) 25 polnische Professoren kaltblütig erschossen hatte - der Beginn des Völkermordes in Ostgalizien.
Bis heute genießen die Krakauer Professoren in Polen einen legendären Ruf. Regelmäßig wird zum 6. November an die Vorgänge von 1939 erinnert, als Beispiel für erfolgreichen Widerstand gegen den nationalsozialistischen Terror. Auch dank des Mutes ihrer Angehörigen und Freunde und ihres eigenen Überlebenswillens ist es den Nazis nicht gelungen, die polnische Intelligenz auszurotten. Im Gegenteil. Unter den Studenten, die in den schweren Jahren von 1942 bis 1945 die illegale Untergrunduniversität in Krakau besuchten, war auch einer, der Weltgeschichte schreiben sollte: Karol Wojtyla, der spätere Papst Johannes Paul II.