
Seenotretter-Schicksale: Rettender Feind
Seenotretter-Schicksal im Zweiten Weltkrieg Mein Feind, mein Retter
Der folgende Text ist ein gekürzter Auszug aus dem Buch "Mayday. Seenotretter über ihre dramatischsten Einsätze", das im Mai 2017 im Ankerherz-Verlag erschienen ist.
Mister Barnes erwartet uns mit Tee und Gebäck, so klassisch, wie es sich in England um diese Uhrzeit gehört. Ein kleines Haus am Rande von Southampton, der Seefahrerstadt im Süden, das Haus steht ganz hinten in einer Reihe. Im Flur sieht man Gemälde von Spitfire-Flugzeugen, Regale mit Figuren aus Glas und Porzellan: Rehe, Hunde, Katzen, ein Zoo aus Nippes. "War das Hobby meiner Frau Doreen", murmelt Mister Barnes, "aber nehmen Sie doch Platz."
Barnes ist ein kleiner, schmächtiger Mann mit klarem Blick, er ist Mitte 80. Er redet leise, manchmal wirkt er, als sei er verlegen. Er redet nicht viel über sich, er ist es nicht gewohnt, das spürt man. Seine Geschichte aber ist wie das Skript eines Hollywoodfilms. Es geht um Schuld und Vergebung, um Respekt und um eine Geste.
"Ich musste es endlich tun", sagt Barnes. "Ich fühlte mich schuldig."
Rückblende, Frühjahr 1945: Der Krieg ist für die Allierten im Frühjahr fast gewonnen, doch noch nicht für Erwin Ernest Barnes. Seine Onkel und Brüder kämpfen in der Army; er selbst, 19 Jahre alt, ein Lehrling im Bootsbau, hat sich freiwillig zur Royal Air Force gemeldet. Er wird nach kurzer Ausbildung Bordschütze einer Avro 683 "Lancaster", ein Bomber mit vier Motoren und das bekannteste Flugzeug der Royal Air Force.
Barnes' Platz ist in einer Art Wabe am Heck. Es ist eine der gefährlichen Positionen im Flugzeug, denn gegnerische Flugzeuge und die Flak versuchen als erstes, diese Kuppel aus Glas zu zerstören, um das Vierlings-MG auszuschalten. Die durchschnittliche Überlebensdauer von Bordschützen beträgt drei Wochen, doch davon weiß Barnes zu diesem Zeitpunkt nichts.
"Ich hatte ein schlechtes Gefühl"
Mit Bombern vom Typ Avro 683 greifen die Briten deutsche Städte an. Am Abend des 7. März hebt die Bomberstaffel wieder ab, Ziel: Harburg im Süden Hamburgs. Das genaue Ziel bekommen die Piloten aus Furcht vor Spionage in einem Umschlag, den sie erst im Cockpit öffnen dürfen. Es ist ein großes Geschwader; wie viele Flugzeuge aufsteigen, vermag Barnes nicht zu sagen.
Der Pilot ist unerfahren, beinahe kommt es beim Start zu einem Unglück. Sieben Crewmitglieder sind an Bord, zwei Piloten, ein Offizier für die Navigation, ein Funker, der Rest besetzt die Gewehre. Vier Männer stammen aus Rhodesien, dem heutigen Simbabwe.
Der Flug dauert Stunden, viel Zeit, um nachzudenken.
"Ich hatte ein schlechtes Gefühl, wie eine böse Vorahnung", sagt Barnes. "Ich wusste: Heute stimmt etwas nicht."
Die Lancaster klinkt Bomben über Harburg aus. "Wir sahen, wie die Stadt brannte. Es brannte an vielen Stellen, es brannte überall. Ich dachte - warum müssen wir das tun? Es brennt doch bereits", sagt Barnes. Die Lancaster dreht eine große Schleife und soll dann den nächsten Angriff fliegen, diesmal auf Hamburg.
Doch dann wird es hell. Das Flugzeug ist in den Fokus eines Flakscheinwerfers geraten. Der Bomber wird durchgerüttelt. Treffer! Ein weiterer. Noch einer. Barnes erkennt, dass drei der vier Motoren Feuer gefangen haben. Er verliert seine Sauerstoffmaske und seine Sprechfunkausrüstung, kann sich nicht mehr mit den anderen verständigen. Die Crew denkt, er sei getroffen worden und tot.
"Wir flogen mit einem Motor weiter, das Flugzeug ging in langsamen Sinkflug", sagt er. "Mir war klar, dass wir landen mussten. Ein mieses Gefühl." Den Piloten gelingt es, die letzten Bomben loszuwerden, irgendwo auf freiem Feld.
"Verflucht", denkt Barnes, "ich komme nicht mehr nach Hause."
Gegen die Rettung gesträubt
Notlandung in der Dunkelheit, irgendwo auf der Nordsee. Der Aufprall ist heftig, doch das Flugzeug bleibt intakt. Niemand aus der Crew ist ernstlich verletzt. Zufällig bemerkt einer der Kameraden Barnes, der mit seiner wattierten Kleidung in der Wabe stecken geblieben ist und beinahe ertrinkt. Sie ziehen ihn heraus.
Barnes wundert sich, dass ihr Flugzeug nicht untergeht. Die Männer reden leise, gedrückt, sie stecken sich Zigaretten an. In der Ferne sehen sie die Lichter einer Stadt. Ist das Bremerhaven? Es ist kalt und neblig, und als der neue Tag anbricht, erkennen die frierenden Gestalten, dass sie auf einer Art Sandbank notgelandet sind. Sie befinden sich irgendwo im Mündungsgebiet der Weser.
Das Wasser kommt mit der nächsten Flut zurück, und auch der Wind brist auf. Barnes schätzt, dass es mit etwa fünf Beaufort weht. Meerwasser dringt in den Bomber ein, der langsam volläuft. Ein Boot hält auf sie zu, Barnes erkennt zwei Flaggen am Heck: ein rotes Kreuz und das Kreuz der Hanse. Es sind Seenotretter! Stationiert ist das Boot in Dorumer Tief, einem kleinen Hafen im Wurster Land, nördlich von Wremen.
"Wir überlegten, die Besatzung anzugreifen", sagt Barnes. "Wir wollten uns nicht ergeben. Wir waren so voller Hass auf die Nazis."
"Schnell, schnell!", rufen die Seenotretter, denn es bleibt nicht viel Zeit, bis der Bomber sinkt. Barnes erinnert sich daran, dass er sich zunächst weigert, in das Boot der Seenotretter umzusteigen. Dass er die Retter, die er nicht als Retter anerkennen will, wuterfüllt anstarrt. Er will nicht, dass ihm die Feinde helfen.
Er will lieber untergehen.
Fluchend willigt er ein. Etwa eine halbe Stunde dauert die Fahrt, dann ist eine Kaimauer erreicht: Bremerhaven.
"Ich hatte mich falsch verhalten"
Was in den nächsten Wochen passiert, kann er zeitlich und örtlich nicht mehr genau einordnen. Es ist eine Reise durch ein zerstörtes Land am Ende eines Krieges. Zugfahrten, Märsche, ein Kriegsgefangenenlager, Isolationshaft, Hunger. Eine Gruppe - in welcher Stadt, weiß Barnes nicht mehr genau, er meint, es sei in Hamburg gewesen - bewirft einen Zug der Gefangenen mit Steinen.
Einen Monat nach Ende des Krieges entlässt man ihn und die anderen Crewmitglieder der "Lancaster" aus der Gefangenschaft. Die Besatzung des Bombers, in dem Barnes diente, kehrt auf ein letztes Pint Bier in einen Pub von Southampton ein. Die Männer stoßen an und geben sich ein Versprechen: Sie wollen sich nicht mehr wiedersehen.

Seenotretter-Schicksale: Rettender Feind
Barnes findet einen Job als Arbeiter in einer Fabrik, die Gummi produziert, wird dann Hausmeister in einem Elektrizitätswerk. Er heiratet Doreen, seine Jugendliebe. Sie haben drei Kinder, Mädchen, es ist ein geordnetes, ein ruhiges Leben am Ende einer langen Reihe Häuser, am Rande von Southampton.
Doch eine Erinnerung lässt Mister Barnes nicht los: die Nacht seiner Rettung. Wieder und wieder spielt er die Szenen in seinem Kopf durch. Er sieht die Bilder vor sich: die helfenden Hände, die nach ihm greifen. War es nicht falsch, so feindselig zu sein? Musste er sich nicht für die Rettung bedanken? Jahr um Jahr vergeht, und aus dem leisen Zweifel wird für Mister Barnes eine Gewissheit: "Ich hatte mich falsch verhalten", sagt er. "Es tat mir leid."
Späte Rückkehr
Als seine Doreen stirbt, steht er wenige Tage nach der Beerdigung an ihrem Grab und fasst einen Entschluss. Er will sich entschuldigen. Mister Barnes packt seinen Koffer und geht zum Busbahnhof. Er kauft eine Fahrkarte nach Brüssel und weiter nach Bremen, 84 Pfund, hin und zurück. Morgens um acht Uhr beginnt die Reise, am darauffolgenden Tag erreicht er gegen Mittag Bremen. Von dort nimmt er den Zug nach Bremerhaven. Er spricht kein Deutsch und erkennt in der Stadt nichts wieder. Es dauert, bis er den Seenotkreuzer findet, im Alten Vorhafen, auf Höhe der Lotsenstation.
Barnes ist aufgewühlt, aufgeregt, als er über die Gangway geht. Er fragt nach dem Vormann.
Mayday!: Seenotretter über ihre dramatischsten Einsätze
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"Ich habe Euch als meine Feinde gesehen. Ich möchte mich entschuldigen", bringt er hervor. "Erst heute kann ich würdigen, was ihr getan habt, und ich möchte mich stellvertretend bei Ihnen und Ihrer Besatzung dafür bedanken."
Vormann Uwe Gerdelmann ist überrascht und gerührt. Die Männer trinken in der Messe Kaffee und erzählen ihre Geschichten. Als sich Mr. Barnes verabschiedet, erinnert sich Vormann Gerdelmann, war es ein berührender Moment.
Kurz vor Weihnachten trifft ein Brief in der Station ein, abgeschickt in England. Sorgfältig in Papier eingewickelt sind mehrere Geldscheine beigelegt. Auf einem Zettel stehen zwei Worte:
"Thank you."
Erwin Ernest Barnes, Jahrgang 1926, verstarb, bevor das Buch "Mayday" publiziert wurde. In den Jahren nach seinem Besuch entwickelte sich eine Freundschaft zu den Seenotrettern; mehrere Male reiste er nach Bremen und Hamburg.
Die Boote der Bremer Seenotretter waren im Zweiten Weltkrieg im Schutz der Genfer Konvention für "Freund wie Feind" im Einsatz. Neben dem Zeichen des Roten Kreuzes führten sie ihre traditionelle Flagge mit dem Hanseatenkreuz am Heck.