Coronalage in Deutschland Warum Fachleute auf schnelleres Impfen und Boostern drängen

Impfungen sind nach Ansicht von Fachleuten das wirksamste Mittel, um die aktuelle Corona-Infektionswelle zu brechen
Foto:Karl-Heinz Spremberg / imagebroker / IMAGO
Dieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Mit mehr als 50.000 Infektionen hat das Robert Koch-Institut am Donnerstag so viele Neuansteckungen an einem Tag gemeldet wie seit Beginn der Coronapandemie nicht. Auch die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz ist mit 249,1 derzeit so hoch wie nie zuvor. In den Krankenhäusern spitzt sich die Lage zu, immer mehr Menschen müssen auf Intensivstationen betreut werden. Am kommenden Donnerstag wollen Politikerinnen und Politiker aus Bund und Ländern zusammenkommen, um über weitere Maßnahmen zu beraten.
Fachleute haben jetzt ein Papier vorgelegt, in welchem sie die Gründe für die aktuelle Situation darstellen und Strategien im Kampf gegen die Pandemie aufzeigen. Zu den Verfasserinnen und Verfassern gehören unter anderem die Physikerin und Modelliererin Viola Priesemann, die Epidemiologin Eva Grill, der Virologe und Mitglied der Ständigen Impfkommission (Stiko) Klaus Überla sowie der Intensivmediziner und wissenschaftliche Leiter des Divi-Intensivregisters Christian Karagiannidis und der Impfstoffexperte Leif Erik Sander. Modellierungen verschiedener Gruppen flossen ein. Einige der Expertinnen und Experten haben die zentralen Aussagen des Papiers am Donnerstag außerdem in einem Pressetermin des Science Media Centers erläutert.
Saisonalität, Delta und nachlassende Impfwirkung
Der aktuell schnelle Anstieg der Inzidenzen hat nach Angaben der Fachleute mehrere Gründe. So spiele einerseits die kältere Jahreszeit, in der sich das Virus leichter verbreiten kann, eine Rolle. Hinzu komme, dass die auch in Deutschland vorherrschende Delta-Variante des Coronavirus deutlich ansteckender sei als die Varianten, die noch im letzten Herbst und Winter dominant waren. Und auch der Impfschutz lasse mit der Zeit kontinuierlich nach, wenn die Menschen keine dritte Impfung erhalten. »Nach fünf Monaten sinkt der Schutz gegen Ansteckung von einem Faktor zehn auf einen Faktor zwei bis drei«, schreiben die Autorinnen und Autoren des Papiers. Dadurch trügen derzeit nicht nur ungeimpfte Menschen zur Ausbreitung des Virus bei, sondern auch geimpfte, deren Impfung schon länger zurückliegt.
Als »wirksamste Methode, um die aktuelle Welle bald zu brechen und das Pandemiegeschehen nachhaltig zu kontrollieren«, nennen die Fachleute das schnelle und umfassende Impfen und Boostern. »Mit jeder Verbesserung des Impfschutzes kann ich verzögern, dass sich das Virus ausbreitet, aber ich kann damit auch die Wahrscheinlichkeit des schweren Verlaufs reduzieren«, erklärte die Epidemiologin Eva Grill in dem Pressegespräch. Die Booster-Impfungen würden die Schutzwirkung der zweiten Impfung übertreffen und damit die Dynamik aus dem Geschehen nehmen.
Sinnvoll wäre dem Papier zufolge ein Impftempo wie im Frühsommer, als circa sieben Prozent der Bevölkerung pro Woche ihre zweite Impfung erhalten haben. Simulationen zeigten, dass eine Auffrischimpfkampagne mit dieser Geschwindigkeit nach einem Monat erste Wirkung zeigen würde. In Deutschland schreite das Impfen und Boostern derzeit aber zu langsam voran, sagte die Physikerin Viola Priesemann.
Die Stiko empfiehlt den sogenannten Booster derzeit nur für Menschen ab 70 Jahren und einige andere Gruppen, etwa Menschen mit einer Immunschwäche, teilte aber kürzlich mit, sie halte es für sinnvoll, den Booster »mittelfristig« für alle anzubieten. Stiko-Mitglied Klaus Überla erklärte in dem Pressegespräch, es sei jetzt eine akute Entlastung der Intensivstationen nötig. Deshalb müssten die Gruppen zuerst geimpft werden, die ein erhöhtes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf haben; entsprechend habe die Stiko die aktuell geltende Empfehlung ausgesprochen. »In dem Moment, wo wir genügend Impfkapazitäten hätten, würde eine generelle Auffrischungsempfehlung für über 18-Jährige sicherlich sehr sinnvoll sein.«
Solange nicht ein ausreichender Teil der Bevölkerung geimpft oder geboostert sei, seien weitere Maßnahmen wie die bekannten Abstand- und Hygieneregeln und Testkonzepte nötig, schreiben die Fachleute in dem Papier. Das seien aber nur Überbrückungsmaßnahmen. »Eine vermehrte Testung als alleinige Maßnahme wird zur Durchbrechung der beginnenden Winterwelle wohl nicht reichen.« Auch die Verhaltensregeln und die 2G/3G-Beschränkungen werden als allein nicht ausreichend beschrieben.
Not-Schutzschalter zur Entlastung
Falls dennoch Kontaktbeschränkungen notwendig werden sollten, um das Gesundheitssystem zu entlasten, empfehlen die Fachleute in dem Strategiepapier ein Bündel von Maßnahmen, das sie als Not-Schutzschalter bezeichnen. Dazu gehören Homeoffice und engmaschige Testpflicht am Arbeitsplatz, verkleinerte Gruppen in Kindergärten und Schulen, (Teil-)Schließung von Geschäften, Restaurants, Dienstleistungen und Veranstaltungen, generell deutliches Reduzieren von Kontakten in der Arbeitswelt, der Öffentlichkeit und im Privaten. Schulschließungen dürften aber nur ein letzter Schritt zur Entlastung der Kinder- und Jugendmedizin sein, da sie hohe negative Folgen für Kinder und Jugendliche hätten und Eltern, insbesondere Mütter , stark belaste.
Es sei wichtig, einen solchen Not-Schutzschalter frühzeitig zu planen und »so stark wie möglich durchzuführen, damit sich der Aufwand überproportional auszahlt«, heißt es im Papier. Halbherziges Vorgehen habe nicht den erwünschten Effekt. Der Lockdown light im vorigen Winter etwa sei weder effektiv noch zielführend gewesen.
Priesemann sagte in dem Pressegespräch, dass man mit einer solchen Maßnahme, etwa über zwei Wochen, den Intensivstationen wieder Luft verschaffen könne. Dafür eigneten sich auch Schulferien. »Es ist unklar, ob ein Not-Schutzschalter notwendig wird. Aber es wäre trotzdem hilfreich, schon jetzt einen klaren Plan zu entwickeln, ihn frühzeitig anzukündigen und mögliche Kollateralschäden präventiv abzufangen«, heißt es dazu im Papier. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler raten, solche Maßnahmen vorab verfassungsrechtlich und ethisch prüfen zu lassen.