ADHS, Burnout, Depression Forscher warnen vor Millionen Scheinpatienten

Psychische Störungen scheinen zum Massenphänomen zu werden, die Zahl der Diagnosen gerade bei Kindern steigt rasant. Jetzt soll das wichtigste Handbuch für Psychiater noch mehr Krankheitsformen aufzählen. Mehr als 9000 Mediziner protestieren dagegen.
Von Barbara Opitz
Zehnjähriger Junge bei den Hausaufgaben: Ist die ADHS-Epidemie ein Trugbild?

Zehnjähriger Junge bei den Hausaufgaben: Ist die ADHS-Epidemie ein Trugbild?

Foto: Julian Stratenschulte/ picture alliance / dpa

Lisas Gesicht ist rot angelaufen, zornig-schrill hallt es durch den Kindergartenflur. Verzweifelt klammert sich das Mädchen an seine Mutter. Lisa ist drei Jahre alt, und bis vor acht Wochen war sie ein glückliches Kind. Doch plötzlich wollte sie nicht mehr in den Kindergarten gehen: Sobald Kind und Mutter um die Ecke biegen, das Gebäude mit den buntbemalten Fenstern in Sicht ist, geht der Terror los: Lisa weint, ist bald völlig aufgelöst. Die anderen Kinder interessieren sie nicht. Was hat Lisa? Ist sie überfordert, traumatisiert oder hat sie gar eine Sozialphobie entwickelt? Lisas Mutter sucht einen Kinderpsychologen auf.

Laut Statistiken greifen psychische Störungen auch bei den Kleinsten immer weiter um sich. Die Zahl der ADHS-Diagnosen bei Kindern etwa ist enorm gestiegen. Unterschiedliche Schätzungen gehen davon aus, dass mittlerweile bis zu zehn Prozent aller Kinder betroffen sind. Im Jahr 2007 befragte das Berliner Robert-Koch-Institut (RKI) im Rahmen des Kinder- und Jugend-Gesundheitssurveys (KiGGS) die Eltern von fast 15.000 Drei- bis 17-Jährigen. Das Ergebnis: Bei jedem 20. Kind war schon einmal ADHS diagnostiziert worden , noch einmal so viele stufte das RKI als Verdachtsfälle ein.

Erst kürzlich kamen kanadische Wissenschaftler in einer Studie zu dem Schluss, dass die ADHS-Diagnose oft zu Unrecht gestellt wird - was gravierende Folgen für die betroffenen Kinder haben kann. Doch bei ADHS hört es nicht auf. Auch Angstzustände, Schlaflosigkeit, Entwicklungsstörungen, Esssucht oder Depressionen sollen Kinder zunehmend heimsuchen - sogar Burnout bei Babys wird in Eltern-Internetforen inzwischen als Problem diskutiert. Die Techniker Krankenkasse und der Wiener Landesverband für Psychotherapie gehen davon aus, dass mittlerweile jedes vierte Kind eine Therapie bräuchte.

In Zukunft könnte die Pathologisierung des Nachwuchses weiter steigen. Im vielleicht wichtigsten Handbuch für Psychiater, dem "Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders" (DSM), wird festgelegt, welche psychischen Krankheiten es gibt. Im Frühsommer 2013 soll eine neue Fassung des "psychiatrischen Grundgesetzes", wie manche das "DSM" bezeichnen, erscheinen - das "DSM-5". Und die Zahl der diagnostizierbaren Krankheiten soll laut einem Vorentwurf stark wachsen.

"Zehn Millionen neue, aber falsche Patienten"

Größter Kritiker des "DSM-5" ist ausgerechnet Allen Frances, emeritierter Professor der Duke University und Schirmherr der derzeitigen Ausgabe "DSM-4". "DSM-5" könnte zehn Millionen neue, aber falsche Patienten schaffen, schimpft der Psychiater auf seiner Website. "Wir kommen an den Punkt, an dem es kaum noch möglich ist, ohne geistige Störung durchs Leben zu kommen."

Im "DSM" steht, wann das Normalsein aufhört und wann die Krankheit beginnt - also etwa wann man nur traurig ist, wann schon depressiv oder aber wie temperamentvoll man sein sollte. In der ersten Fassung von 1952 gab es 106 psychische Leiden, im aktuellen "DSM-4" sind es mehr als dreimal so viele. Neben dem Depressiven oder Schizophrenen erklärt es auch denjenigen für krank, der jähzornig ist, einen allzu schwachen Sexualtrieb hat oder unter koffeinbedingter Schlafstörung leidet. Frances weiß, was schon kleine Veränderungen der Klassifizierungen bewirken: "Durch unsere Arbeit für 'DSM-4' haben wir Epidemien wie das ADHS erschaffen."

Mehr als 9000 Mediziner haben jetzt in einer Petition  an die American Psychiatric Association (APA), die das "DSM" veröffentlicht, gegen eine Ausweitung der Diagnosen im kommenden Jahr protestiert. Denn darin sollen auch Vorstufen - also Zustände, bei denen die noch keine Symptome zu finden sind - als eigenständige Diagnosen gelten. Darunter ist etwa die tiefe Trauer um verstorbene Menschen, die bislang aus dem "DSM" herausgehalten wurde.

Schneller Griff zum Rezeptblock

Zugleich wächst die Kritik an der schnellen Verabreichung von Medikamenten. "Manche sind mit der Verschreibung von Medikamenten zu schnell bei der Hand", sagt Günter Krampen, Professor für klinische Psychologie an der Uni Trier. Es gebe eine Lobby unter Ärzten, die zum Beispiel bei ADHS Ritalin standardmäßig verordnen.

Die Statistiken scheinen das zu untermauern. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) registrierte 1993 die Nutzung von 34 Kilogramm reinem Methylphenidat, besser bekannt als ADHS-Medikament Ritalin. Im Jahr 2008 wurden von deutschen Apotheken bereits 1617 Kilogramm ausgegeben. Auch Frances warnt vor diagnostischer Inflation und dem schon jetzt existierenden "exzessiven Konsum von nicht angebrachten und potentiell gefährlichen Medikamenten unter Kindern".

"Brisant ist, wenn Internisten und Kinderärzte Psychopharmaka verschreiben", sagt Krampen. Hier spielten Fremddiagnosen, also Einschätzungen der Eltern und Erzieher, eine große Rolle. Unter Lehrern sei "eine regelrechte therapeutische Hysterie ausgebrochen". Für Krampen sind Legasthenie, Burnout und ADHS in erster Linie Modeerscheinungen. Zu schnell werde gefachsimpelt, eine treffende Diagnose bedürfe jedoch ausführlicher neuropsychologischer Tests: "Das ist Sache des Spezialisten."

Diagnose Asperger-Syndrom könnte bald verschwinden

Die Unsicherheiten bei der Diagnose zeigen sich auch am Beispiel von Autismus. Die US-Gesundheitsbehörde Centers for Disease Control and Prevention (CDC) registrierte zwischen 2002 und 2006 einen Anstieg der Autismus-Fälle um 57 Prozent. Das Asperger-Syndrom, eine milde Form des Autismus, galt zuletzt noch als Modediagnose. Im kommenden Jahr könnte es plötzlich verschwinden: Im "DSM-5" soll es nur noch als eine "Störung im autistischen Umfeld" gelten.

Therapeut Werner Weishaupt ist ehemaliger Lehrer. Er hält nichts von Kategorisierungen: "Wenn ein Kind abwesend ist, in sich versunken, unkonzentriert, leidet es nicht gleich an Autismus." Vor allem sei die Reihenfolge der Herangehensweise falsch: "Angemessen wäre doch erst eine pädagogische, nicht gleich eine psychopathologische Betrachtung." Bei Kindern gebe es unterschiedliche Entwicklungsstadien, Verhaltensweisen, die nicht immer der Norm entsprächen, manchmal aus dem Rahmen fielen.

Die kleine Lisa, die nicht mehr in den Kindergarten geht, ist die jüngste Patientin von Weishaupt. Was ist ihr Problem? "Die Sache ist relativ einfach", meint der Therapeut. Der Grund für Lisas Verhalten sei das jüngere Geschwisterchen, das viel Aufmerksamkeit der Eltern beansprucht und zu Hause bleiben darf, während Lisa in den Kindergarten muss. Im Fachjargon würde die Diagnose "Trennungsphobie" lauten. Weishaupt nennt es schlicht Eifersucht.

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