Autismus Ambulanzen für Erwachsene sind überlaufen

Asperger-Autisten haben es im Alltag oft schwer, viele brauchen Unterstützung. Die meisten Sprechstunden sind aber überfüllt, und es mangelt an erprobten Therapien. Doch es gibt Fortschritte.
29-jähriger Autist aus Ungarn (Archivbild): Die meisten Betroffenen leiden unter ihrer Isolation - und suchen Unterstützung

29-jähriger Autist aus Ungarn (Archivbild): Die meisten Betroffenen leiden unter ihrer Isolation - und suchen Unterstützung

Foto: Peter Komka/ dpa

In Rainer Döhles Schulzeugnissen stand immer dieser eine Satz: "Rainer findet keinen Zugang zur Klassengemeinschaft." Döhle, heute 45 Jahre alt, ist Asperger-Autist. Herausgefunden hat er das selbst: vor 15 Jahren nach abgebrochenem Studium, hingeworfenem Job, ewigem Single-Dasein, einer Langzeitdepression und einer nutzlosen Gruppentherapie. "Hätte ich das eher gewusst, wäre mir einiges erspart geblieben", sagt er. Döhle ist Mitbegründer des Autismus-Selbsthilfevereins Aspies e.V. 

Vielen Betroffenen ergeht es ähnlich wie Döhle, denn es gibt zu wenige spezialisierte Fachärzte für Autismus im Erwachsenenalter. "Autismus ist immer noch ein Stiefkind in der Psychiatrie, obwohl die Häufigkeit etwa mit der von Schizophrenie vergleichbar ist", sagt Isabel Dziobek, Emotionsforscherin an der Freien Universität Berlin. "Unsere Erfahrung ist, dass 80 Prozent der Autisten unter ihrer Isolation leiden und Unterstützung suchen."

Was ist Autismus?

Oft erwachse der Leidensdruck nicht aus der Störung selbst, sondern aus daraus resultierenden psychischen Krankheiten, sagt Dziobek. 40 bis 50 Prozent der Autisten, die in die Sprechstunden kommen, leiden unter Depressionen.

"Viele haben große Probleme, Kontakt und Bindung aufzubauen", sagt Friedrich Nolte, Fachberater beim Bundesverband Autismus Deutschland e.V.  Sie werden deshalb als nicht teamfähig, menschenscheu, unhöflich, selbstbezogen oder eigenbrötlerisch wahrgenommen, was sie aber nicht sind. "Der Großteil hat durchaus den Wunsch nach Beziehungen und sozialen Kontakten, aber es fehlt ihnen das Know-how dafür", sagt Nolte.

Nicht unempathisch - nur schlechter im Lesen von Körpersprache

Als zentrales Merkmal des Autismus gilt ein Mangel an Einfühlungsvermögen. "Tatsächlich konnten Betroffene in Studien Gesten, Gesichtsausdruck und Tonfall auf Bildern und in Filmen schlecht interpretieren", sagt Dziobek. Wurden ihnen die Gefühle aber mit Worten beschrieben, reagierten sie genauso emotional wie Nicht-Autisten. Das zeige, dass sie keinesfalls unempathisch, sondern nur schlechter im Lesen von Körpersprache sind.

Viele scheitern trotz hoher Intelligenz deshalb an den sozialen Hürden, die Job oder Partnerschaft von ihnen abverlangen. "Ohne intuitive Kommunikationsmittel wie Kopfschütteln, Nicken, Blickkontakt oder das Interpretieren von Tonlage und Mimik schafft man kein erfolgreiches Bewerbungsgespräch", sagt Andreas Riedel, Autismus-Experte an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg. "Die Folgen dieser Probleme sind oft Mobbing und soziale Ausgrenzung; jeder zweite ist arbeitslos". Einige Ambulanzen haben daher eine Berufsberatung und -vermittlung für Autisten eingerichtet.

In Deutschland leben schätzungsweise 600.000 Erwachsene mit einer sogenannten Autismus-Spektrum-Störung. Sprechstunden für betroffene Erwachsene sind wegen des großen Andrangs und der aufwendigen Diagnostik seit Jahren überlaufen.

Diese umfasst pro Patient insgesamt etwa zehn Stunden an Tests und Befragungen. "Von der Anmeldung bis zum Erstgespräch dauert es in der Regel ein Jahr", sagt Kai Vogeley, Leiter der Autismus-Sprechstunde an der Universitätsklinik Köln. Nur zwischen 30 und 50 Prozent der Patienten, die sich wegen des Verdachts auf Autismus vorstellen, bekommen die Diagnose. Von ihnen haben rund 90 Prozent ein Asperger-Syndrom.

Noch gibt es für Erwachsene nur wenige erprobte Autismus-Therapien. "Individuell gute Erfahrungen haben wir mit kognitiver Verhaltenstherapie gemacht, die auf die Stärken und Schwächen der Patienten fokussiert ist", sagt Riedel. Dabei werden in Gruppen mit Videofeedback adäquate Reaktionen auf bestimmte Gesprächssituationen trainiert. "Autisten kommunizieren nur auf der Sachebene", sagt Riedel. Die Therapie helfe ihnen, sich den nicht-inhaltlichen - aber für das Verständnis essentiellen - Anteil der Kommunikation anzueignen.

Trainingsspiel zum Erkennen von Mimik und Gestik

Messbare Ergebnisse brachte ein soziales Kognitionstraining, das Berliner Therapieforscher erprobt haben. Mit dem Online-Spiel "Scott" ("Social Cognition Training Tool"), in dem Schauspieler 40 verschiedene Emotionen darstellen, haben 25 Autisten drei Monate lang das Erkennen von Mimik und Gestik trainiert. Eine Kontrollgruppe bekam ein unspezifisches Training mit Aufmerksamkeits- und Geschicklichkeitstest.

"Bei den Probanden mit Spezialtraining wurde im Vergleich zur Kontrollgruppe danach eine erhöhte Aktivität des Gyrus fusiformis gemessen", sagt Dziobek. Diese Hirnregion ist unter anderem für die Gesichtserkennung zuständig und bei Autisten genetisch bedingt weniger gut mit anderen Teilen des Gehirns verbunden. Die Forscher hoffen, dass durch regelmäßiges gezieltes Training diese Region soweit aktiviert wird, dass die emotionale Gesichtsverarbeitung irgendwann automatisch abläuft.

"Training kann Autisten zwar in die Lage versetzen, Standardsituationen im Alltag besser zu meistern, wegtherapieren lässt sich Autismus aber nicht", sagt Rainer Döhle. Auch er hat das Erkennen von Gestik und Mimik jahrelang bewusst trainiert, absolvierte eine Gesprächstherapie und ein zweites Fremdsprachenstudium, diesmal an einer Fernuniversität - ohne Kommilitonen. Heute arbeitet er als freiberuflicher Übersetzer, Mediator und Wikipedia-Autor und leistet für Aspies e.V. sogar Öffentlichkeitsarbeit.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren