Behandlung von autistischen Kindern Lebenshilfe oder Quälerei?
"Tu dies!", sagt die Frau zu dem Kind und legt einen roten Holzklotz neben einen hellbraunen. Das Mädchen nimmt ebenfalls einen roten Holzklotz und legt ihn in gleicher Weise neben einen zweiten hellbraunen Klotz. Überschwänglich lobt die Frau sie, lacht und kitzelt das Mädchen fröhlich. Dann nimmt sie einen weiteren Holzklotz, legt ihn ab und fordert wieder auf: "Tu dies!". Das Mädchen macht wieder nach, wird lauthals gelobt und gekitzelt. So wiederholt sich die Szenerie, bis eine Klotzfigur entstanden ist. Das kleine Mädchen ist Autistin, die Frau ihre Therapeutin. Das Kind lernt spielen. Mithilfe der sogenannten Applied Behavior Analysis (ABA), der Angewandten Verhaltensanalyse.
Diese Methode wird seit Jahren in den USA als wirksame Behandlung bei Kindern mit Autismus-Spektrums-Störungen gefeiert. In fast allen Bundesstaaten werden die Kosten für eine Therapie nach den Grundsätzen der ABA vom Staat mitfinanziert. Auch in Deutschland wird die Methode eingesetzt, mitunter vom Sozialamt bezahlt.
Doch sie ist äußerst umstritten - sowohl unter Forschern als auch unter Autisten selbst. Die Kritiker sehen in der Behandlung vor allem eines: die Dressur von wehrlosen Kindern.
20 bis 40 Stunden pro Woche üben - jahrelang
Menschen mit Autismus haben Probleme im Umgang mit anderen Menschen. Sie empfinden Körper- oder Augenkontakt als unangenehm. Sie spielen nicht mit anderen Kindern und zeigen auch meist kein Interesse daran. Manche können nicht oder nicht gut sprechen. Die Betroffenen zeigen zudem stereotype Verhaltensweisen oder Interessen, wie etwa sich wiederholende Kopf- oder Handbewegungen. Andere beschäftigen sich intensiv mit Bahnfahrplänen oder anderen schematischen Dingen. Menschen mit Autismus hängen an Ritualen. Diese Symptome sind so schwerwiegend, dass sie die Teilnahme am Leben mitunter stark erschweren. Die ABA versucht mit lerntheoretischen Prinzipien entgegenzuwirken.
Zähneputzen, mit anderen spielen oder sprechen: Die Therapeuten machen ein erwünschtes Verhalten vor, leiten das Kind bei der Umsetzung an und belohnen es für korrektes Verhalten. Eine Belohnung kann etwa ein Keks, ein beliebtes Spielzeug oder auch Kitzeln sein. Laut Lerntheorie verknüpfen die Kinder zunehmend das erwünschte Verhalten mit einem guten Gefühl und zeigen es nach Aufforderung irgendwann auch ohne Belohnung. Die Eltern werden angeleitet, die Methoden in den Alltag zu übernehmen. Mitunter müssen Eltern und Kinder 20 bis 40 Stunden üben, pro Woche, jahrelang.
Wie erfolgreich ist die Therapiemethode?
Einige Studien zeigen, dass Kinder nach einer ABA-Behandlung weniger autistische Symptome aufweisen, dafür höhere Intelligenzwerte und Kommunikationsfähigkeiten. Eine Analyse der renommierten Cochrane Collaboration von fünf Studien urteilte 2012: Egal, ob hinsichtlich Intelligenz, Sprache oder alltäglichen Fähigkeiten, die frühzeitig angewandten ABA-Methoden scheinen wirksamer als eine herkömmliche Autismus-Therapie. Zugleich betonen die Cochrane-Autoren ein großes Manko an der bisherigen Datenlage: Die Studien sind meist sehr aussageschwach. Zu wenig Studienteilnehmer, keine angemessenen Vergleichsgruppen, keine objektiven Beobachter, ungenaue Angaben, was an der ABA wirksam sein könnte, so die Beanstandung in der Fachwelt.
Trotzdem liest man in Elternberichten vor allem Gutes, etwa auf den Seiten der "Aktion Mensch" , die seit 2014 das ABA-nahe Projekt "Bremer Frühfördertherapieprogramm Autismus" unterstützt. Dort lobten Eltern die ABA als Förderplan, Beratung und Erziehungshilfe. Sie erzählen, dass ihr Kind nun selbstständig durchs Leben gehe, sich waschen und anziehen könne. Betonen, dass sie kein dressiertes Kind daheim haben, sondern ein glückliches.
Dem entgegen steht die Kritik von ABA-Gegnern, viele von ihnen sind Autisten. Sie halten die Therapie für unethisch. Von Folter und Dressur ist in Online-Foren die Rede. "ABA beruht auf einer Konditionierung entgegen der natürlichen Veranlagung von Autisten, vergleichbar mit einer brutalen Art der Umerziehung von Linkshändern", heißt es etwa in einer Online-Petition der Enthinderungsselbsthilfe von 2013.
Belastend, unangenehm, Schikane
Die meisten Betroffenen schweigen ein Leben lang - aus Scham oder um zu vergessen. Auch Andreas Schneider (Name geändert) spricht fast nie und wenn, nur anonym über seine Erfahrungen. Er ist Mitte 30 und Autist. Zehn Jahre hat er als Kind an einer ABA teilgenommen. An diese Zeit zu denken, meidet er. Es wühlt ihn zu sehr auf.
Die meisten Übungen und Regeln empfand er als belastend oder unangenehm, vieles als Schikane. Er musste Körperkontakt und Nähe aushalten lernen, auch wenn ihm das großes Unbehagen bereitet; musste Speisen essen lernen, die er widerlich fand; musste weiter üben und sitzenbleiben, auch wenn er schon längst müde war und sich bewegen wollte. Durfte spezielle Bewegungen mit seinen Fingern, die ihn beruhigten und entspannten, nicht mehr ausführen. Ein schwerer Schlüssel und andere persönliche Schätze, die er gerne anfasste oder anschaute, wurden ihm weggenommen und erst zurückgegeben, wenn er eine Aufgabe nach Wünschen der Therapeutin erfüllt hatte. Spielfiguren, die er am liebsten einfach aufreihte, bekam er nur noch zum Spielen, wenn er wie andere Kinder die Figur festhielt und andere mit ihm Szenen und Dialoge nachspielten. Als eine Erziehungsmaßnahme wurde ihm sogar der Kontakt zu seinem Onkel verwehrt, einer der wenigen Menschen, in dessen Nähe er sich wohl fühlte.
Manchmal rannte er aus der Therapiesituation weg, weinte nach besonders belastenden Übungen und hatte zeitweise viele Albträume. Noch heute belastet ihn das Miteinander mit anderen Menschen, weil er ständig auf der Hut ist, um wie erwartet zu reagieren. Immer "mit riesiger Ungewissheit, ob meine Reaktion, meine Äußerung, mein Handeln richtig war", sagt er.
Beobachtet man Beispielszenen in Lehrvideos , kommt Unbehagen auf. Etwa wenn die Therapeutin darin im Sekundentakt die Sitzhaltung der Kinder korrigiert. Sie fünfmal ein Kind fragt, wo die Oma arbeitet bis das Kind schließlich die vorgesagte Antwort nachspricht - und dann das Kind im Übermaß lobt. Wenn ein Mädchen sechs Aufgaben lösen soll und dazu motiviert wird, indem immer wieder von Keksen geschwärmt wird, die es nachher bekommt. Wenn vom Tisch aufzustehen nur erlaubt wird, wenn die Kinder im Sinne der Therapeuten alles richtig (nach)gemacht haben.
"Verhaltenstherapie ist schon immer ein Teil der regulären Behandlung von Autismus", sagt Stefan Dzikowski, seit vier Jahrzehnten Psychologe und Sozialpädagoge am Autismus-Therapie-Zentrum Bremen. Gerade wenn es darum gehe, mit den Kindern Dinge zu üben, die ihnen helfen, den Alltag zu bewältigen, sei dieser Ansatz sinnvoll. Das sei wie beim Lesen und Schreiben lernen, da helfe vor allem Wiederholung.
"Wird in der Behandlung eines autistischen Menschen jedoch ausschließlich ABA oder Verhaltenstherapie angewandt, ist das unseriös. Die einseitige Vorgehensweise wird dem Facettenreichtum der Patienten und ihren Problemen nicht gerecht", betont er. Das sei so, als würde man bei jeglichen körperlichen Beschwerden immer nur Aspirin verabreichen.
Eine Behandlung müsse immer zum Ziel haben, die Entwicklung eines Kindes anzustoßen. Verhaltenstherapie allein, wie die ABA, könne das nicht.

Jana Hauschild ist Psychologin und arbeitet als freie Journalistin in Berlin.