Beweglichkeit Computerspiele schützen Senioren vor Stürzen

Trainieren: Spezielle Software soll älteren helfen, fit zu sein und Stürze vorzubeugen
Foto: Michael Reichel/ picture alliance / dpaEin- bis fünfmal: So oft stürzt Nino Marazzi. Jeden einzelnen Tag. Nino Marazzi ist 75 Jahre alt, er hat Parkinson, auch Schüttellähmung genannt. 1988 wurde die Krankheit bei ihm diagnostiziert, seine Feinmotorik ließ nach, 2008 begannen die Stürze. Dabei renkte er sich Finger aus, ein Schultergelenk musste ersetzt werden. Er stürzt, weil ihm schwindlig wird oder plötzlich ein Bein blockiert. Nino Marazzi will nicht mehr ständig hinfallen. Deshalb wurde er zum Computerspieler.
Dreimal pro Woche tanzte der Schweizer auf einer Tanzmatte vor einem Bildschirm - in der rechten Hand den Gehstock, in der linken eine Stuhllehne, die ihm Halt gab. Auf dem Monitor wanderten Pfeile von unten nach oben. Stießen sie auf einen gleichaussehenden Pfeil, musste er auf das passende Symbol auf der Matte treten - nach links oder rechts, vorne oder hinten.
Marazzi tanzte im Rahmen einer Studie der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich. Die Forscher glauben, dass tanzen vor dem Bildschirm das Sturzrisiko senkt. Deshalb lassen sie in mehreren Studien Senioren auf den Tanzmatten trainieren. Marazzi und 17 andere Probanden übten über zehn Wochen hinweg die Tanzschritte. Davor und danach mussten sie Gehtests absolvieren.
Weltweit versuchen Wissenschaftler herauszufinden, ob Computerspiele - sogenannte Exergames - das Sturzrisiko älterer Menschen senken können. Knapp jeder Dritte Über-65-Jährige stürzt mindestens einmal im Jahr. Um dem vorzubeugen sollte man Kraft, Ausdauer, Balance und Beweglichkeit trainieren, lautete das Ergebnis einer großen Übersichtsstudie von 2010. Doch Menschen mit Gleichgewichtsstörungen gehen nicht joggen. Und wer Sturzangst hat, traut sich nicht ins Fitnesscenter. Für sie können Computerspiele eine Lösung sein.
Natürliche Bewegung in virtuellen Welten
Sie bieten die Möglichkeit, in sicherer Umgebung zu trainieren. Eine israelische Studie zeigte , dass sich Menschen in virtuellen Welten auf natürliche Weise bewegen. Da sich der Schwierigkeitsgrad einstellen lässt, kann jeder seinen Möglichkeiten entsprechend trainieren. Fortschrittsbalken und Belohnungen motivieren zu üben . Das ist wichtig, weil nur regelmäßiges Training Kraft und Gleichgewicht verbessern. Haben die Spieler Spaß, achten sie außerdem nicht so sehr auf Schwächen oder Schmerzen, sagt Clemens Becker, Leiter der Bundesinitiative Sturzprävention und Chefarzt für klinische Geriatrie in Stuttgart. Er sieht noch einen weiteren Vorteil: Die Spiele sprechen eine Zielgruppe an, die Gruppengymnastik scheut - Männer.
Mit herkömmlichen Fitness-Spielen aus dem Kaufhausregal können die meisten Älteren aber nichts anfangen: Sie sind zu schnell, zu bunt, zu laut. Die Spiele müssen für Senioren angepasst werden. Wie ein solches Spiel aussehen könnte, testen Forscher der TU Darmstadt gemeinsam mit einem Seniorenheim. Sie nutzen das Balance-Board der Spielkonsole Wii, eine Art Körperwaage mit eingebauten Sensoren. Die Spieler stehen auf dem Brett und müssen über Gewichtsverlagerung eine virtuelle Kugel durch ein Labyrinth lenken. Das soll Gleichgewicht, Kraft und Koordination trainieren, sagt Entwickler Sandro Hardy. Kommt der Spieler nicht weiter, kann die Kugel verlangsamt werden. Oder der Therapeut greift im Hintergrund ein. Das hilft, Frust zu vermeiden.
Eine Frage der Balance
Technisch aufwändiger ist ein Trainingskonzept, das Forscher des Fraunhofer Instituts für Rechnerarchitektur und Softwaretechnik in Berlin unter anderem mit der Charité entwickeln. Der Spieler trainiert vor dem von herkömmlichen Spielen bekannten Steuerelement Kinect, einer Kamera, die ein grobes dreidimensionales Skelett des Nutzers erkennt. Zusätzlich trägt er einen eigens entwickelten Beckengurt mit verschiedenen Sensoren. Kamera und Beckengurt erfassen die Bewegungen des Nutzers und gleichen sie mit Idealwerten ab: Balanciert der Spieler zum Beispiel nicht sicher auf einem Bein, bekommt er eine entsprechende Rückmeldung. Auf ähnliche Weise muss er ein Boot per Gewichtsverlagerung über einen Fluss steuern.
"20 Prozent der Gangstörungen im Alter sind nicht durch Veränderungen im Muskelsystem erklärbar", sagt Eling de Bruin, Bewegungswissenschaftler an der ETH Zürich. "Sie sind auf Veränderungen der Hirnstrukturen zurückzuführen." Viele ältere Menschen hätten Probleme damit, sich auf mehrere Aufgaben gleichzeitig zu konzentrieren. Wollen sie zum Beispiel eine Straße überqueren, müssten sie ihre Aufmerksamkeit auf das Gehen richten. Auf ein Loch im Boden könnten sie deshalb nur schlecht reagieren. De Bruin und seine Kollegen sind überzeugt: Die Fähigkeit, solche Doppelaufgaben zu bewältigen, lässt sich durch das Tanzen am Bildschirm trainieren .
Nino Marazzi musste die Pfeile auf dem Bildschirm beobachten und im richtigen Moment auf die passenden Felder treten. "Manchmal blieben die Pfeile stehen, ich wollte den Fuß schon setzen, musste aber noch einen Takt abwarten", erzählt er. Andere Pfeile kamen so kurz hintereinander, dass er schnell sein musste.
Die Wissenschaftler testen das Tanzspiel derzeit in unterschiedlichen Studien . Noch laufen die Auswertungen, aber Einzelergebnisse lassen bereits jetzt Verbesserungen der kognitiven Fähigkeiten vermuten. "Wir würden jetzt gerne eine große Studie machen, in der wir das Sturzverhalten messen", sagt de Bruin. Dafür müssten die Teilnehmer einige Wochen trainieren und über Monate hinweg ein Sturztagebuch führen. Nur wenn die Tänzer seltener fallen als die Kontrollgruppe, kann davon ausgegangen werden, dass das Tanztraining das Sturzrisiko senkt. Doch solche Studien sind aufwendig und teuer. Deshalb sind sie im Bereich der Exergames selten.
Nino Marazzi wartet noch auf seine Ergebnisse. Die Parkinson-Krankheit lässt ihn weiterhin stürzen. Sein erstes Computerspiel hat ihm Freude gemacht. Er würde gerne weitertanzen. "Ich habe mich sicherer gefühlt. Ich habe gesehen, dass ich mich bewegen kann, ohne ständig Angst zu haben."