Porträt einer Borderlinerin "Ich bin ein Mensch, auch mit Narben"

Michaela hat eine Borderline-Persönlichkeitsstörung. Seit Jahren ist sie ihren Gefühlsschwankungen hilflos ausgeliefert, verletzt sich oft selbst. Das Porträt einer Frau, die viel verloren hat und für Anerkennung kämpft.
Michaela

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Wenn es Abend wird in Unterschleißheim bei München, verkriecht Michaela sich in ihr Zimmer. Sie schließt die Tür, die die Mitarbeiter der Einrichtung Regenbogen wohnen jederzeit von außen öffnen können und deren Klinke so tief angebracht ist, dass sie sich daran nichts antun kann. Sie zieht die Vorhänge zu, die zerreißen würden, wenn mehr als fünf Kilo Gewicht daran hängen.

Michaelas Zimmer liegt im sogenannten beschützten Bereich, verlassen darf sie ihn nur in Begleitung. Beschützt werden müssen die Einwohner hier in der dritten Etage vor allem vor sich selbst.

Michaela setzt sich auf ihr Bett. Die Fotos an der Wand mit den lachenden Gesichtern ihrer Familie und Freunde können sie jetzt nicht mehr ablenken. Die 24-Jährige mit dem schmalen Körper und dem weichen Händedruck ist allein mit ihren Gedanken. Und mit den Erinnerungen, die sie in ihrem Tagebuch festhält.

An einigen Tagen hält Michaela das, was ihr Leben ist, nicht mehr aus. Die heftigen Gefühlsschwankungen, die Leere, sich selbst. Irgendetwas findet sie in ihrem Zimmer immer, womit sie sich verletzen kann, obwohl sie alle spitzen Gegenstände an die Betreuer in der Wohneinrichtung abgeben musste. Manchmal zieht sie die Klammern, mit denen die Ärzte ihre Wunden verschlossen haben, wieder aus der Haut. Was ihr in der Not geholfen hat, nutzt sie als Waffe gegen sich selbst. Ständig denkt sie über Suizid nach, hat schon mehrfach versucht, sich das Leben zu nehmen. Michaela hat eine Borderline-Persönlichkeitsstörung.

Hintergrund

Der Begriff Borderline geht auf eine veraltete psychoanalytische Vorstellung zurück, die Menschen mit Borderline-Störungen an der Grenze zwischen Psychosen (wie wahnhafte Störungen, Manien oder Schizophrenie) und Neurosen (wie Angst, Zwängen oder Phobien) ansiedelte. Heute weiß man, dass schwere Störungen der Emotionsregulation eine zentrale Rolle spielen. Dies spiegelt sich auch in den neuen Diagnose-Kriterien der WHO (ICD-10) wider.

Was die Betroffenen krank macht, sind ihre extremen Emotionen: Sie fühlen sich hilflos ausgeliefert, wenn die Wut sie übermannt, die Trauer sie hinabzieht, die Euphorie, das Glück oder die Angst mit ihnen machen, was sie wollen. Gleichförmig spielt sich fast nie etwas ab in ihrem Leben, alles scheint extrem.

Zwischen drei und fünf Prozent der Bevölkerung leiden im Laufe ihres Lebens an einer Borderline-Störung - je nachdem, wie streng die Kriterien angelegt werden. Männer sind ebenso häufig betroffen wie Frauen, allerdings wird die Störung bei ihnen seltener diagnostiziert, weil sie sich nicht so schnell Hilfe beim Arzt suchen. Vererbung spielt eine wichtige Rolle, viele haben Gewalt erlebt, wurden missbraucht, geschlagen, vernachlässigt, gemobbt.

Meist beginnt die Störung schon in der Pubertät. "Da wechseln sich Begeisterung, Enttäuschung, Trauer, Leere und Wut ohnehin schnell ab, und die Teenager können nur schwer ein Gefühl dafür entwickeln, wer und wie sie eigentlich sind", sagt Gregor Hasler, Chefarzt der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Bern. "Kommt dann ein Trauma bei einem Jugendlichen hinzu, dessen Persönlichkeit noch so instabil ist, erlebt er sich als unfähig, sich selbst und die Situation zu kontrollieren." Ärzte beobachten seit Jahren, dass immer mehr Jugendliche emotional instabil sind - und stark darunter leiden.

"Ich hasse die Krankheit, und ich brauche sie"

Um die Anspannung loszuwerden, verletzen sich viele Borderliner selbst. Michaela tut das mehr als zweimal die Woche. Oft so schwer, dass sie ins Krankenhaus muss. Die Wunden tun ihr weniger weh als das hohle Gefühl, das sich immer wieder in ihr ausbreitet. "Wenn ich mich schneide, kann ich mich wieder spüren und weiß, dass ich noch da bin", sagt sie und zieht ihre Ärmel über die unzähligen alten Narben und frischen Verletzungen hinab bis über die Hände. Dieses Verstecken kann sie sich nur schwer abgewöhnen.

"Ich habe genug von ihren Spielchen", hat Michaelas Cousine über sie gesagt, "sie will doch nur, dass alle rennen, wenn sie sich schneidet." Michaela wünscht sich das Gegenteil, sagt sie, sie würde sich in den Momenten am liebsten verstecken. Denn obwohl sich durch die Selbstverletzung die Gewissheit einstellt, noch zu leben, fühlt sie sich danach schlecht. Weil sie es wieder getan hat. Und weil sie es nicht schafft, einen anderen Weg zu gehen.

Aus Michaelas Tagebuch

Aus Michaelas Tagebuch

Foto: SPIEGEL ONLINE

"Ich hasse die Krankheit, und gleichzeitig brauche ich sie und liebe sie", sagt Michaela. Sie kauert sich über ihre dünnen Beine, mit den Armen schnürt sie ein festes Paket aus sich selbst. "Jetzt bin ich Michi, die Borderlinerin oder die Magersüchtige, aber wenn ich das loslasse, wer bin ich dann noch?"

Nur Antrieb, keine Bremsen

Michaelas Gefühle spiegeln wider, welche Abläufe in ihrem Gehirn aus dem Lot geraten sind. "Da funktionieren nur noch die Motoren und nicht mehr die Bremsen", sagt Martin Bohus, Psychiater am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Um andere zu erpressen, schneide sich kaum ein Betroffener. Vielmehr fokussiere er seine Wahrnehmung damit auf Schmerz und Blut.

Grundsätzlich hat die Krankheit eine gute Prognose: "Etwa 40 Prozent der Betroffenen werden wieder ganz gesund, weitere 40 Prozent können mit etwas Hilfe ein erfülltes Leben führen", sagt Bohus. Je nach Ausprägung spielen verhaltens- und psychotherapeutische Ansätze eine unterschiedlich große Rolle in der Behandlung. Es gibt Kriseninterventionen, viele müssen eine Traumatherapie machen, andere lernen etwa durch Achtsamkeit, die innere Unruhe wahrzunehmen, aber nicht sofort darauf zu reagieren.

Michaela unterscheidet sich insofern von vielen anderen Borderlinern, als dass sie sehr schwer und chronisch krank ist. Seit Jahren macht sie verschiedene Therapien, schluckt Beruhigungsmittel, Antidepressiva und Neuroleptika. Aber das, was ihr widerfahren ist, haben andere Betroffene ähnlich erlebt.

Mit acht Jahren missbrauchen die beiden Männer Michaela, mit zehn fangen die Kinder im Turnverein an, sie zu mobben. Sie lachen sie aus, sie beschimpfen und beleidigen sie. Michaela hört auf zu essen, wird magersüchtig. Als sie 15 ist, verletzt sie sich das erste Mal selbst, bald wird sie wegen ihrer Essstörung stationär behandelt, mit 20 wird aus der Magersucht eine Bulimie.

In ihrem Tagebuch verarbeitet Michaela, was ihr als Kind passiert ist.

In ihrem Tagebuch verarbeitet Michaela, was ihr als Kind passiert ist.

Foto: SPIEGEL ONLINE

Kurz vor dem Abschluss ihrer Ausbildung als Erzieherin - sie ist 21 Jahre alt - steht sie am Morgen des 24. Februar 2014 am Bett ihrer Eltern und sagt: "Entweder werde ich jetzt in eine Klinik eingeliefert, oder ich muss mich umbringen." Die Eltern bringen sie ins Isar-Amper-Klinikum in Haar. Dreieinhalb Jahre ist das jetzt her.

Das perfekte Kind sein

"Das war ihr lautester Hilfeschrei", sagt die Mutter leise. "Sie hat sonst immer alles in sich hineingefressen."

Michaela hütete das Geheimnis der Vergewaltigung jahrelang. Sie gab sich selbst die Schuld, das tun die meisten Borderliner. Die Männer hatten ihr gedroht, sie kämen wieder, wenn sie jemandem davon erzählte. Auch vom Mobbing erfuhr niemand etwas. "Ich wollte das perfekte Kind sein und meinen Eltern keine Sorgen bereiten", sagt sie und versenkt ihren Blick im Fußboden. Erst mit 18 Jahren, mithilfe eines Therapeuten, brach sie ihr Schweigen.

Warum die Eltern so lange nichts mitbekommen haben? Die Mutter zieht die Schultern hoch und lässt sie schwer herabfallen. "Man fühlt sich so schuldig", sagt sie in breitem Bayerisch. Zuhause sei es lange Zeit schwer gewesen, die Großeltern waren krank. Michaela, ein fröhliches Kind, musste sie mit pflegen, auch die Mutter hat eine chronische Krankheit. Drei Familienmitglieder starben in dem Jahr, als Michaela vergewaltigt wurde. "Vielleicht haben wir da nicht alles mitbekommen?", fragt die Mutter. Michaela nickt.

Es folgten viele, lange Aufenthalte in verschiedenen Kliniken, fast ein Jahr lebte sie in einer geschlossenen Psychiatrie. Die jährlichen Behandlungskosten für die Therapie von Borderline-Patienten belaufen sich in Deutschland auf etwa vier Milliarden Euro, hat Psychiater Bohus im "Deutschen Ärzteblatt" vorgerechnet . Das entspricht etwa 15 Prozent der Gesamtkosten, die für psychische Störungen ausgegeben werden. 90 Prozent dieser Kosten entstehen durch stationäre Behandlungen.

"Ich bin ausgeschaltet"

Vor ein paar Monaten wurde Michaela wieder vergewaltigt. Darüber sprechen kann sie kaum, sobald sie es versucht, weiten sich ihre Augen, heften sich an im Nirgendwo. Nach ein paar Worten verstummt sie. Sie weiß jetzt zwar, dass das ein Verbrechen ist, und hat den Täter angezeigt. Trotzdem fühlt sie sich schuldig: "Meine Gedanken kreisen immer nur darum: Warum habe ich mir das antun lassen? Warum bin ich so schlecht?"

Wenn sich das Gedankenkarussel zu heftig dreht, hat sie das Gefühl, sich aus ihrem Körper zu lösen. Ihre hellen Augen starren dann leer in den Raum, sie bewegt sich keinen Millimeter mehr, ihr Gesicht ist reglos und weiß wie eine Wand. Psychiater nennen das Dissoziation, ein typisches Symptom bei posttraumatischen Belastungsstörungen, sagt Psychiater Gregor Hasler von der UPD.

"Du bist mehr als die Zahl auf der Waage"

Vor einem Jahr hat ein Gericht entschieden, dass Michaela eine gesetzliche Betreuerin braucht, weil sie selbst nicht für ihr eigenes Wohl sorgen kann. Die Frau hilft ihr im Umgang mit der Krankenkasse, macht Behördengänge, sie hat sie auch im Regenbogen Wohnen untergebracht. Obwohl Michaela die dritte Etage und das Haus nur in Begleitung verlassen darf, damit sie sich nichts antut, fühlt sie sich nicht eingesperrt.

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Michaelas Leben hier ist geschrumpft auf 23 Quadratmeter. Darin ein Bett, ein Schreibtisch und ein Stuhl, drei Kuscheltiere, eine Wand voller Fotos, ihre Gitarre und Zettel, die sie beschrieben hat: "Papa ist der Beste", "Mama ist die Beste".

Drei Freundinnen kommen regelmäßig und verbringen Zeit mit ihr. Sie färben sich die Haare von rot nach schwarz, von blau nach blond. Die Narben und Wunden spielen dann keine Rolle, sie nehmen Michaela, wie sie gerade ist, das Leben findet auch im Regenbogen Wohnen statt. Diese unbeschwerten Momente halten Michaela derzeit im Leben, auch das Tagebuch hilft und ihr Instagram-Account "kleine.elfee".

Foto: SPIEGEL ONLINE

Sie hat einen geregelten Tagesablauf, muss eine verabredete Menge essen, bekommt kleine Aufgaben und lernt von ihren Betreuern sogenannte Skills. Wenn sie den Drang hat, sich zu verletzen, soll sie stattdessen mit einem Gummi auf die Haut schnipsen, eine Chilischote in den Mund nehmen oder kalt duschen. Das soll ihr helfen, sich zu spüren.

Irgendwann, das ist das Ziel, soll Michaela in eine Wohngemeinschaft umziehen, in der die Türen offenstehen. In beide Richtungen. Wann das so weit ist, wissen weder sie selbst, noch ihre Betreuerin oder die Ärzte. "Hoffentlich dauert das nicht mehr so lang", sagt Michaela und starrt vor sich hin. Eine Wunde am Arm beginnt zu bluten.

"Hast du ein Taschentuch, Mama?"

"Ja, Michaela."

Die Mutter ist für sie da, so gut es geht, der Vater und der Bruder auch. Sie besuchen sie jede Woche, manchmal dürfen sie Michaela für ein paar Stunden mit nach Hause nehmen, zur Katze, die liebt sie so. Wenn sie es zulassen kann, dass jemand sie in den Arm nimmt, ist Michaela glücklich.

Spiritus in die Wunden kippen

Wenn das Handy klingelt, zuckt die Mutter zusammen. "Die Angst um Michaela ist immer da", sagt sie. Eine Zeitlang habe die Krankheit alles bestimmt, jeden Gedanken, jeden Schritt. Die Eltern haben Angehörigenkurse gemacht und verstehen jetzt mehr von der Krankheit. "Man muss schon aufpassen, dass man noch ein eigenes Leben hat", sagt die Mutter.

Ob sie sich die Krankheit manchmal wegwünscht? "Ich hoffe nichts mehr, als dass es der Michaela besser geht", sagt die Mutter. "Aber ich kann das nicht beeinflussen. Ich hab' sie gleich lieb, egal ob ohne oder mit Krankheit."

Die Akzeptanz hilft Michaela. Sie wittert so viel Abneigung - auch das ist Teil der Krankheit -, fast überall. Bei der Cousine, bei Fremden auf der Straße, die ihre Narben betrachten, bei Ärzten. Mitunter ist die Ablehnung real. Ein Chirurg in der Rettungsstelle sagte zu ihr: "In solche Wunden würde ich am liebsten Spiritus kippen." Ein anderer meinte, sie brauche sicherlich keine Betäubung, schließlich habe sie sich die Schnitte ja auch ohne Narkose zugefügt.

"Ich schneide mich, ich hungere und kotze und mache alles, um meinen Körper kaputtzumachen", bricht es aus ihr hervor. "Ich erwarte nicht, dass das jemand versteht, ich begreife mich ja selbst nicht. Aber ich bin ein Mensch, auch wenn ich Narben habe. Und jeder Mensch verdient Respekt."


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