Depressionen und Migräne Botox kann viel mehr als Falten glätten

Von einer schwachen Blase bis hin zu Depressionen - Botox hilft. Mediziner finden immer mehr Krankheiten, bei denen sie das Mittel einsetzen können. Dabei profitieren sie von seiner lähmenden Wirkung.
Foto: Don Murray/ Getty Images

Botox und Depressionen - diese beiden Wörter würde wohl kaum jemand zusammenbringen. Tatsächlich aber gibt es immer mehr Hinweise, dass das Nervengift Betroffenen über Monate helfen kann. Auch im Hinblick auf andere neurologische Krankheiten mausert sich Botox, das viele vor allem mit dem Wegspritzen von Krähenfüßen und Zornesfalten verbinden, immer mehr zum Allround-Genie. Das hat vor allem mit seiner Wirkweise zu tun.

Hinter dem Produktnamen Botox verbirgt sich Botulinumtoxin A - ein Gift des Bakteriums Clostridium botulinum. Es lähmt Muskeln, indem es Botenstoffe daran hindert, sie zu aktivieren. Lange Zeit kannten die Menschen das Bakterium vor allem als Gefahr. Verbreitet sich Clostridium botulinum in Lebensmitteln, drohen potenziell tödliche Vergiftungen. Heute sind Fälle jedoch selten, in der Regel ausgelöst durch selbst hergestellte Wurstwaren oder schlecht eingelegte Konserven.

"In winzigen Dosen - gewollt - zu therapeutischen Zwecken injiziert, kann Botulinumtoxin A zwar ebenfalls Signale zwischen Nerven und Muskeln oder zwischen Nerven und anderen nachgeschalteten Organen blockieren", sagt der Neurologe Wolfgang Jost, Leiter der Botulinumtoxin-Ambulanz der Uniklinik Freiburg. "Wegen der niedrigen Dosierung ist das aber harmlos." Und nicht nur das: Die Mediziner machen sich die lähmende Wirkung sogar zunutze.

Hyperaktive Blase gebremst

In der Schönheitschirurgie verhindert Botox, dass sich Gesichtsmuskeln anspannen und etwa die Haut zwischen den Augenbrauen zur Zornesfalte kräuseln. In der Neurologie kann es beispielsweise eine hyperaktive Blase bremsen, die häufigen Harndrang verursacht. Dafür wird Botox an 20 Stellen in die Blasenwand gespritzt, sodass nur noch ein Teil des Blasenmuskels aktiv ist.

Auch für eine Reihe weiterer Anwendungen ist Botox inzwischen offiziell zugelassen - von verkrampften Arm- und Fußmuskeln nach einem Schlaganfall über Augenzucken oder Zucken einer Gesichtshälfte bis hin zu vermehrtem Schwitzen. Selbst bei chronischer Migräne dürfen Mediziner das Medikament auf Kosten der Krankenkassen verabreichen, wenn vorbeugende Arzneimittel versagt haben oder nicht vertragen wurden. Dann erhalten die Betroffenen kleine Dosierungen in etwa 30 verschiedene Stellen im Nacken- und Kopfbereich gespritzt.

In Zukunft könnte die Liste der Botox-Therapie noch deutlich länger werden. "Derzeit läuft eine Zulassungsstudie zur Behandlung des Speichelflusses bei Parkinson. Auch zur Behandlung von Nervenschmerzen könnte sich das Nervengift gut eignen", sagt Jost, der auch Vorsitzender des Arbeitskreises Botulinumtoxin der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) ist.

Botox bei Depressionen?

Ähnliches gilt für Depressionen, bei denen Studien ebenfalls auf eine Wirkung hinweisen. Forscher aus Hannover und Hamburg erklären sich die beobachteten Effekte mit einem Wechselspiel aus Stimmung und Mimik: "Die Facial-Feedback-Theorie besagt, dass Mimik Stimmung und Emotionen nicht nur ausdrücken, sondern auch regulieren kann", sagt Tillmann Krüger vom Zentrum für Seelische Gesundheit an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH).

Wird nun also Botox in jene Muskeln zwischen den Augenbrauen gespritzt, die uns zum Beispiel sorgenvoll aussehen lassen, entspannt sich der Gesichtsausdruck und wird freundlicher. "Botox durchbricht den Facial-Feedback-Kreislauf und schwächt negative Emotionen ab", so Krüger. Infolgedessen helle sich auch die Stimmung wieder auf.

Bei ersten klinischen Studien, die Krüger gemeinsam mit Marc Axel Wollmer, Chefarzt der Asklepios Klinik für Gerontopsychiatrie in Hamburg, durchgeführt hat, konnte Botox die Schwere depressiver Symptome sechs Wochen nach der ersten Behandlung um etwa 50 Prozent lindern - für eine Dauer von bis zu sechs Monaten. Die Effekte seien vergleichbar mit Antidepressiva und Psychotherapie, sagt Krüger. Da das Nervengift für Depressionen noch nicht offiziell zugelassen ist, übernehmen die Krankenkassen die Kosten allerdings nicht. Sie betragen normalerweise circa 300 Euro pro Botox- Behandlung.

Nebenwirkungen möglich

Bestärkt durch die Ergebnisse überprüft Krüger aktuell mit seinem Hamburger Kollegen, inwieweit Botox auch gegen Borderline helfen kann. Erste, kleine Tests mit sechs Versuchsteilnehmerinnen verliefen erfolgreich. "Das gesamte Portfolio an Symptomen hat sich deutlich verbessert", sagt Krüger. In den kommenden Monaten muss sich das Mittel jedoch erst bei größeren Studien in Hamburg und Hannover beweisen.

Gründliche Studien wie diese sind wichtig - trotz der Euphorie um das Mittel sollte Botox nur eingesetzt werden, wenn es auch wirklich nachgewiesen hilft. Zwar gilt das Mittel grundsätzlich als gut verträglich, es kann aber zu Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen oder Beschwerden an der Einstichstelle kommen. Hinzu kommt, dass die Wirkung nicht dauerhaft anhält. Nach vier bis sechs Monaten muss erneut gespritzt werden. Günstig ist die Behandlung also nicht.

Wirklich problematische Effekte sieht Jost allerdings nur, wenn zum Beispiel bei einer Spastik hohe Dosierungen verwendet werden. Oder, wenn der Muskel nicht richtig oder der falsche Muskel beim Spritzen von Botox getroffen wird. Dann droht eine vorübergehende Muskelschwäche. "Mit Ultraschall kann das Spritzen von Botox genau überwacht werden. Risiken werden auf diese Weise minimiert", sagt er.


Zusammengefasst: Indem es die Kommunikation zwischen Nerven und Muskeln unterdrückt, kann Botox bei neurologischen Krankheiten helfen. Für viele Behandlungen ist das Mittel bereits zugelassen, darunter eine Reizblase, Krämpfe nach einem Schlaganfall, Migräne oder übermäßiges Schwitzen. Jetzt erforschen Mediziner, ob es auch bei psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Borderline wirkt.

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